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Unser Baumhaus
Mutters Schrei kam aus der Küche, es war nicht ganz klar ob aus Freude, jedenfalls hatte der Briefträger etwas vorbeigebracht. Ich saß im Wohnzimmer und las für die Schule den Artikel über Guerickes Halbkugelversuch. Es war eine perfekte Nacht. Die Maulwürfe hatten aufgehört Erde auszuwerfen, sie hatten sich tief in den Boden verzogen, deswegen war der Schnee noch ganz weiß. Draußen leuchtete der Weihnachtsbaum. Die Lichter spiegelten sich an der großen Glasfront im Wohnzimmer, die meine Mutter letzten Sommer hatte machen lassen. Jeden Monat kam die Reinigungsfirma und putzte die Fenster, damit Mutter sich darin spiegeln konnte. So hatte sie ihn kennengelernt. Jamie meinte immer, Mutters neuer Freund wäre daran schuld gewesen, dass ich den Brief meines Vaters nie gelesen hatte.
Ich ging raus, seit ein paar Monaten das erste Mal, zu unserem Baumhaus, dass ich seit Jahren nicht mehr betreten hatte. Die Erinnerung an Jamie war noch zu stark, dass ich es vorher vermutlich nicht verkraftet hätte, einen Fuß in das Baumhaus zu setzen. Das Licht brannte. Ich stieg die Stufen hinauf, immer zwei auf einmal nehmend. Jamie und ich hatten die Stufen dazwischen angesägt, wir dachten, dass unsere Eltern dann nicht heraufkommen könnten. Als ich oben ankam, wunderte es mich nicht, dass Jamie da saß. Es wunderte mich auch nicht, dass er den Brief in der Hand hatte. Er saß im Schneidersitz, das tat er immer, wenn er von etwas überzeugt war. Ich fragte ihn was er hier machen würde. Er meinte er wolle mich mitnehmen, meine Meinung würde sich ändern. Inzwischen war der Brief aus weißem Pergament schon ziemlich zerknittert, Jamie nahm den Brief immer überall hin mit, das Siegel aufgerissen. Mein Vater hatte immer seine Briefe auf diesem Papier geschrieben, und sie ganz altmodisch mit einem Siegel zugeklebt. Jamie meinte er würde nicht wollen, dass ich bei ihnen bleibe, nicht nachdem er den Brief gelesen habe. Ich wusste, dass Jamie nicht so schnell abhauen würde. Dazu war er auch nicht in der Lage.
Ich ging zurück ins Haus. Meine nackten Füße taten vom Schnee weh, aber das hatte ich schon ausgeblendet. Ich ging zu Mutter in die Küche, die stieß gerade mit ihrem Freund mit einem Glas Ihres Lieblings-Proseccos an, die Scheidungspapiere waren gekommen. „Jamie ist da“, war das einzige was ich sagte. Einige Minuten später war der Wagen da, mit dem Jamie mal wieder abgeholt wurde. Solche „Ausflüge“ wie heute, machte er oft. Die Oberschwester war schon ganz erschöpft, nur von Ihm.
Nachdem wieder Ruhe eingekehrt war, holte ich die Kerze, die Jamie mir zum 15. Geburtstag geschenkt hatte. Sie war ganz hinten in meinem Kleiderschrank versteckt, zwischen Röcken und Kleidern, die Mutter mir kaufen wollte, die ich aber nie trug. Ich stellte sie oben auf das Dach des Baumhauses und verschüttete den teuren Nagellackentferner meiner Mutter. Nach einer Weile stand das Baumhaus in Flammen. Ich bereute nicht einmal den Brief, den ich nie gelesen hatte. Der Nagellackentferner war das einzige worum ich mir sorgen machte. Mutter würde sauer werden.