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Unser Atmen
“Du bist gekommen!” rufst du und gibst mir einen Klaps auf den Oberarm. Du zwingst dich zu einem lockeren, sogar fröhlichen Ton. Mein Blick fällt auf die Rose in deiner Brusttasche.
“Schöner Anzug”, bemerke ich und sehe dir in die Augen.
Du weichst zurück, lächelst verlegen und hoffst, ich würde weitergehen.
Das tue ich. Ich betrete den Altarraum und sehe braune Bankreihen und weiße Blumen. Ihr lieblicher Geruch ätzt mir die Kehle. Das riesige metallene Kreuz über dem Altar schaut auf mich herab. Ich bin katholisch und angewidert.
Sinas Kleid ist atemberaubend. Wenngleich nicht an ihr. Sie stolziert den Gang hinauf, mit ihrem rundlichen, kleinen alten Herrn an der Seite, und strahlt wie ihr paillettenbesticktes, geschwollenes Dekolleté.
Das ältere Paar drei Reihen vor mir könnten deine Eltern sein. Der Mann hat den gleichen schlaksigen Körperbau und die Frau die vollen, blonden Haare. Jetzt lächelt sie mich an. Warm. Doch deine Eltern hätten gar keinen Grund, zur Hochzeit unserer Büroaushilfskraft zu kommen. Ich werde sie nie persönlich kennen lernen.
Scheiß auf die Fantasie.
Scheiß auf Sina.
Scheiß auf dieses Kreuz und sein “Du sollst nicht bei einem Mann liegen”.
Als auch ich mich gnädigerweise wieder setzen darf, gibt es nur noch uns beide.
Fast fünf Monate ist jener Abend her. Um kurz vor zehn haben wir all die liegen gebliebenen Anträge bearbeitet und sind in unsere unauffällige Kneipe ein paar Gebäude weiter gegangen. Du hast mir ein Bier ausgegeben. Dann noch eines. Dann eine Fanta. Weil ich eigentlich keinen Alkohol trinke. Du hast mich von der Seite angeguckt und deine vierte Bierflasche geleert. Dann hast du angefangen dich aufzuregen. Über den stinklangweiligen Papierkram, den wir erledigen mussten, über das abnormale Geräusch, das dein Wagen beim Bremsen machte, über deine Freundin.
“Die ist so…”, hast du gesagt und mich an der Schulter gefasst, dass es wehtat. “So verdammt kompliziert… So kompliziert, dass mir manchmal die Birne dampft, weißt du? So wie jetzt, verstehst du? Aber das kommt vom Papierkram - weil der langweilig ist und sooo -” Du hast die Arme in die Luft gehoben “- ein Riesenberg! Aber die, die ist ja nicht langweilig, also, nicht so richtig langweilig… Aber kompliziert…”
Ich habe genickt und gelächelt und dein Kinn betrachtet. Da ist ein winziges Grübchen - in schwachem Licht kann man es kaum erkennen. Aber es ist da, mit vielen Stoppeln darauf. Ich wollte sie berühren. Fast zwei Jahre lang. Aber das ging nicht.
Du hast dir einen doppelten Scotch bestellt und gesagt:
“Jetzt will sie auch zusammenziehen, ich mein - mit mir. Stell dir vor. Und neulich sind wir an ‘nem Kinderladen… Scheiße.”
Du hast deine Schläfe auf den Tresen gelegt und mich ernst angesehen.
“Und von den Alten -” Du hast gekichert - “Von meinen Alten will ich gar nicht erst anfangen. Wirklich, ganz ehrlich... Mann.”
Irgendwann fuhr ich dich nach Hause. Unterwegs musste ich dir ungefähr zehnmal versichern, dass deinem Auto - auf dem “dunklen, großen Parkplatz” - nichts passieren würde. An einer Ampel hast du das Seitenfenster hinuntergekurbelt und “We are the champions” in den Wind gebrüllt. Ich lachte, weil ich mich in dem Augenblick genauso gefühlt habe.
Sobald wir deine Wohnung betreten haben, bist du ins Bad verschwunden. Ich habe mehrmals angeklopft und lange gewartet. Dann bist du herausgekommen - mit strubbeligem Haar und nassem Hemd.
“ ‘Tschuldige”, hast du gemurmelt und dich stöhnend aufs Sofa gelegt. “Ich bin ein Arsch. Hab Schiss oder… keine Ahnung. Warum muss alles so kompliziert sein?”
“Ist es nicht. Wenn du sie liebst”, habe ich geantwortet.
Du hast mich angesehen. Und geschwiegen. Ich habe mich vorgebeugt. Und dich geküsst. Du hast dich nicht gerührt. Und nicht zurückgeküsst. Ich habe mich vor dich gekniet. Und deinen Gürtel aufgemacht.
Du hast keinen Laut von dir gegeben. Ich konnte kaum deinen Atem vernehmen. Kurz vor dem Ende hast du mir ins Haar gegriffen und gekeucht. Dann sollte ich gehen.
Am nächsten Tag hast du dich um einen unbekümmerten Ton bemüht. Aber deine Augenlider haben gezuckt, als ich dir den Kaffee brachte. In der Mittagspause bist du nicht in die Cafeteria gekommen. Aber du hast an mich gedacht. Und zwei Tage später in meiner Tür gestanden.
“Ich bin kein Arschficker,” hast du gezischt.
Nachdem ich dich herein gelassen und die Tür geschlossen habe, hast du mich beschimpft, mir etwas Unbestimmtes angedroht und schließlich das Wohnzimmerfenster aufgerissen. Die eisige, feuchte Dezemberluft kroch ins Zimmer und über meine Knöchel. Währenddessen hast du wütend geatmet und weißen Dunst gemacht. Wieder ließest du mich erkennen, was unsichtbar und doch lebenswichtig war.
Ich erinnerte mich an unsere erste Begegnung: An meinem ersten Morgen in der Abteilung hatte sich mein Magen zu einem Betonstück verkrampft. Mir die Hand schüttelnd hast du gesagt:
“Holen Sie mal tief Luft und dann zwei Kaffee für uns. Der Spaß hier kann durchaus warten.”
Deine Ironie habe ich nicht verstanden. Im Büro hast du dich immer so voller Energie und Leichtigkeit gegeben. Obwohl deine Arbeit seit langem nichts Aufregendes mehr für dich bot. Dann, langsam, begriff ich die Worte hinter deinen Worten. Die Gleichgültigkeit hinter deinem Ehrgeiz. Die Isolation hinter deinem Lächeln. Und am zweiten Abend in unserer Kneipe, als ich deine stillen, gesenkten Wimpern betrachtete, spürte ich, wie die Erkenntnis durch alle meine Zweifel brach, dir entgegen.
Nun ließ ich dir Zeit zum Luft-Holen. Du hast dich ruckartig von der Fensterbank abgestoßen und wolltest gehen. Niemals würde ich versuchen, dich aufzuhalten. Dich zu überreden. Oder es dir zu beweisen.
Im Flur hast du mich genommen. Stumm und hektisch.
Später - auf meinem Bett. Viermal.
“Es bleibt hier. Zwischen diesen Wänden. Zwischen uns”, habe ich versprochen.
“Machst du es jedem so einfach?” hast du gefragt.
Es fühlte sich an, als würden meine Lungen auseinander gerissen. In meiner Brust loderte es.
“Geh. Du musst nicht bleiben”, habe ich gesagt und mich weggedreht.
Nach dem Klacken der Tür würde ich ersticken.
Doch du hast deine Stirn an meinen Rücken gelegt und bist eingeschlafen. Das Lodern verwandelte sich in weiche Hitze, die Hitze in heilende Wärme.
Auf dem Parkplatz hinter der Kirche höre ich rufen:
“Hey, Kai! Warum kommst du denn nicht auf die Party?”
Ich sehe in ihre verschrumpelten Gesichter - gleißendes Sonnenlicht erfüllt den Platz - und lüge:
“Muss dringend weg, mein Neffe wird morgen getauft!”
Dann setze ich mich in den Wagen und blicke auf die Uhr. In etwa acht Stunden wirst du deinen Trauzeugendienst geleistet haben, dich von Sina und ihrem Mann verabschieden und zu mir kommen. Ich werde meine Nase an deinen Hals drücken und dein Haargel, Kaugummi und Zigarettenrauch riechen. Dann wird alles einfach sein. Besonders das Atmen.