Unschuldig
Antonio war Italiener. Als er vor vielen Jahren nach Amerika kam, sehnte er sich nach einem besseren Leben. Italien war einfach nichts fuer ihn gewesen, er war arbeitslos und demzufolge sehr arm. Seine einzige Tagesbeschaeftigung bestand darin, sich auf die dreckigen Strassen Mailands zu setzten, zwischen den hohen Haueserbloecken die den blauen Himmel kaum durchdringen liessen, und zu betteln. Er musste das tun, ansonsten waere er verhungert. Eines Tages gelang es ihm aber, sich auf ein Schiff nach Amerika zu schmuggeln – er wollte einen Neuanfang.
Den bakam er dann auch. Er fand schnell Arbeit, wenn auch nur als ein einfacher Arbeiter in einer Schuhfabrik. Aber allemal besser als ein Bettler im gnadenlosen Italien – oder? Schnell hatte er eine kleine Wohnung am Standrand gefunden, und er war auch einer Gruppe beigetreten, die sich dafuer einsetzte, dass das einfache Volk mehr Mitspracherecht hatte – ja, dass gab es auch in Amerika, dem Land der unbegrenzten Moeglichkeiten. Dort hatte er schnell Freunde gefunden, Leute, denen es genauso ging wie ihm. Sie nannten sich “Tresca”. Besonders einen hatte er besonders ins Herz geschlossen: Victorio. Er war ebenfalls Italiener, und war im Grossen und Ganzen aus den selben gruenden ausgewandert wie Antonio. Victorio war, im Gegensatz zu Antonio, etwas untersetzt und hatte einen dicken Rauschebart, der in der Farbe mit dem Braun seiner Haare uebereinstimmte. Er pflegte seine Haare lang zu tragen und sie in einem Zopf hinter dem Kopf zusammenzubinden.
Victorio dachte oft an die guten Zeiten zurueck. Er wurde ploetzlich aus seinen Gedanken gerissen, als ihm ein Waerter durch die Gitterstaebe ein frisches Gewand zuwarf. Mit den Worten: “Wechseln, aber flott!” verabschiedete er sich auch gleich wieder – das war Antonio ganz recht. Langsam entfaltete er das Schwarz-weiss gestreifte Gewand und die farblich angepassten Hosen und wechselte langsam seine Kleidung. Auf der rechten Schulter war, wie immer, ein Namenschild aufgenaeht. Auf seinem konnte man lesen:
Victorio Sacco
Haeftling No. 2945
Antonio lag nur still auf der Pritsche in seinem Teil der Zelle und schien zu schlafen. Victorio weckte ihn und informierte ihn, dass der Waerter neue Klamotten gebracht hatte. Er reichte ihm sein Gewand, (“Antonio Vanzetti, Haeftling No.2946”) und lies sich auf seinem eigenen Bett, das nur aus einem Holzbrett und einer Decke bestand, nieder.
Victorio dachte oft nach, seit man ihn –grundlos- ins Gefaengnis gesteckt hatte. Warum? Es war nun schon ungefaehr 6 Monate her, und er konnte sich noch gut an den Tag erinnern, an dem er und Antonio von den Uniformierten festgenommen wurde. Man sagte ihm nicht viel zu den Gruenden. Nur, dass ein Monat frueher ein Bankdirektor und sein Bodyguard auf offener Strasse niedergeschossen und deren Geld geklaut wurde.
Aber er war es nicht. Und das hatte er der Polizei auch gesagt, tausendmal. Er war doch mit Antonio bei einem Gruppentreffen gewesen, und hatte mehrere Zeugen dafuer. Aber der Richter hat sie gar nicht erst vernommen. Es war eine Gerichtssitzung. Eine! Es hat ungefaehr zwei Stunden gedauert, bis sie erfahren haben, das sie –fuer den Staat- das Verbrechen begangen haben und aus Zwecken der Gerechtigkeit hingerichtet werden muessen.
Victorio wurde abermals aus seinen Gedanken gerissen, diesmal von Antonio:
“Hey, psst- Schau mal hier!”
“Was ist denn?”
“Den Zettel hier hat gerade ein Waerter reingeschmissen, steht drauf, dass er fuer dich ist.”
“Na, Post kriegt man ja nicht alle Tage im Knast, zeig mal her!”
“Komm schon, lies ihn laut!”
“Hiermit erklaere ich, Celestino Madeiras, Haeftling No. 2932, das Victorio Sacco und Antonio Vanzetti unschuldig sind. Der Raubueberfall, fuer den sie angeklagt und verurteilt wurden, wurde von mir und einigen Komplizen asu der Radikalen Gruppe “Menisto” begangen. Sacco und Vanzetti sind unschuldig, ich bin auch bereit das vor Gericht zu wiederholen.”
Es verschlug ihnen den Atem. Ein Beweis! Sie hatten einen Beweis fuer ihre Unschuld, hier in ihren Haenden. Sie sind frei! Sofort beschlossen sie, den Zettel einem Waerter zukommen zu lassen – damit waere alles geregelt, ihre Unschuld war bewiesen.
Gesagt getan. Als der Waerter sich das naechste Mal mit schweren Schritten im Gang ankuendigte, baten sie ihn darum, diesen Zettel weiterzuleiten. Sie hofften, das er dass auch tat.
Die Tage vergingen, und es kam keine Antwort. Nach zwei Wochen erkundigten sie sich beim Waerter und fragten ihn, ob er es wirklich weitergeleitet hatte – er versicherte es ihnen. Hatte er es wirklich weitergeleitet, oder wollte nur niemand etwas von ihrer Unschuld wissen – wie damals mit ihren Kumpels, von denen kein einziger vernommen wurde, obwohl sie alle bezeugen konnten, dass sie unschuldig waren. War es dass? Nach weiteren
6 Jahren
im Gefaengis fingen sie an, dass zu glauben.
Inzwischen waren sie schon daran gewoehnt, wie Verbrecher behandelt zu werden. Sie wussten, das ihre Hinrichtung kurz bevorstand, wenn die Daten stimmten, die man ihnen gegeben hatten, hatten sie noch ungefaehr 2 Stunden zu leben. Unschuldig. Immer wieder schuss es ihm durch den Kopf. Unschuldig tot. Warum? Bin ich denn fuer keinen etwas wert? Nein. Anscheinend nicht.
Die Maenner, die kamen, um die beiden abzuholen und in den Raum mit den drei Stuehlenzu bringen, nahm er kaum noch wahr. Er wehrte sich nicht, als er auf den Stuhl geschnallt wurde. Er drehte nur einmal seinen schwachen Kopf nach rechts, um zu sehen, wer noch mit ihnen hingerichtet wurde. Der Mann auf dem Stuhl zu seiner rechten war, laut dem Namensschild auf dem Gefaengnisgewand, Haeftling No.2932, Celestino Madeiras. Die letzten Woerter, das Victorio in seinem Leben vernahm, kam aus dem Mund dieses Mannes: “Es tut mir leid”.