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Unschuldig hinter Gittern
Unruhig ging er in seiner Zelle auf und ab.
Heute war es soweit. Nur noch wenige Stunden, dann war er endlich frei. Frei. Freiheit. Konnte es ein schöneres Wort geben? Nicht für ihn.
Wie viele Jahre hatte er auf diese Chance gehofft, doch nie wirklich daran geglaubt.
Und endlich war der Tag gekommen an dem einer der Wärter die Tür nicht richtig abgeschlossen hatte. Es fiel ihm schwer nicht sofort abzuhauen. Er wusste auch genau, dass es jederzeit auffallen könnte, dass das Schloss nicht verriegelt war. Deswegen setzte er sich, sobald ein Wärter auftauchte, an die Tür, griff durch die Gitterstäbe und verdeckte mit seinen großen Armen das Schloss.
Sie hatten Angst vor ihm, das spürte er deutlich. So konnte er sich sicher sein, dass sich niemand zu nahe an ihn heran traute.
Die Zeit verstrich unendlich langsam. Noch nie hatte Zeit für ihn eine Rolle gespielt. Seit er vor acht Jahren hier eingesperrt wurde, verging ein Tag wie der andere. Doch heute konnte er zum ersten mal in seinem Leben mit diesem Begriff etwas anfangen.
Die Sonne war schon fast verschwunden. Er war nervös und ängstlich, und sein Herz pochte vor Aufregung in seiner breiten Brust stärker denn je.
Was sollte aus ihm werden wenn er frei war? Wo sollte er hin? Er kannte die Welt dort draußen nicht. Sie war ihm fremd.
Er versuchte diese Fragen auf später zu verschieben. Erstmal musste er unbemerkt entkommen. Die Freiheit war das Einzige was jetzt zählte.
Ein Geräusch ließ ihn zusammenzucken. Ein Wärter kam auf ihn zu. Eilig setzte er sich wieder an die Tür. Das musste der letzte Rundgang gewesen sein, denn die letzten Lichter wurden gelöscht.
Nur noch ein wenig warten, dachte er sich. Ungeduldig wartete er darauf, dass der letzte Sonnenstrahl verschwand.
Dann war es endlich soweit. Vorsichtig schob er die Tür auf. Das quietschen der rostigen Scharniere machte ihn noch unruhiger als er sowieso schon war.
Unendlich langsam kam er der Freiheit Stück für Stück näher.
Als er es geschafft hatte, und die Tür weit genug offen war, stand er da, unfähig sich zu bewegen.
Lauter denn je hörte er die Fragen in seinem Kopf hämmern, welche ihn davon abhielten zu fliehen.
Wohin? Man würde nach ihm suchen, ihn erbarmungslos jagen.
Doch dann kamen Erinnerungen in ihm auf. Bilder, die in all den Jahren mehr und mehr verblasst waren. Seine Heimat. Dorthin würde er zurückkehren. Es würde nicht einfach werden, aber er musste es wenigstens versuchen.
Nun, da er wusste wohin, trat er mit sicheren, kräftigen Schritten aus seinem Gefängnis.
Er hatte nie begriffen warum er damals eingesperrt wurde. Viele fremde Menschen hatten ihn besucht. Doch niemand hatte ihm je Antworten gegeben. Selbst Jene, die öfters vorbeikamen, hatten es ihm nicht erklärt.
Und die, die ihn eingesperrt hatten, die sprachen sowieso nie mit ihm.
Jetzt war das aber alles nicht mehr wichtig. Zeit, um vielleicht irgendwann mal nach Antworten zu suchen, würde er bald mehr als genug haben.
Er sah sich um. Welchen Weg sollte er nehmen?
All die Jahre war er fast nur im Kreis gelaufen. Er war frei, konnte selbst entscheiden wohin er gehen wollte. Was für ein wundervolles Gefühl.
Geradeaus. Ja, geradeaus. Immer nach vorne.
Vor einem großen, hohen Gitter endete seine Flucht.
Wie viele Hürden musste er noch überwinden um wirklichfrei zu sein?
In einiger Entfernung sah er einen Wald. Dort würde er sich erst mal verstecken, sollte es ihm gelingen über die Eisenstäbe zu kommen.
Zwar war er schon seit je her ein guter Kletterer, die glatten Stäbe waren allerdings auch für ihn ein unüberwindbares Hindernis. Immer wieder rutschte er ab.
Verzweiflung machte sich in ihm breit. Sollte seine Flucht hier schon zu ende sein? War der kurze Weg, von seinem Gefängnis bis hierher, alles was er jemals an Freiheit genießen durfte?
Mit sehnsuchtsvollen Blicken sah er zum Wald hinüber. Mehr denn je wuchs der Wille nach Freiheit in ihm. Nie wieder wollte er eingesperrt sein. Nie wieder!
Hastig irrten seine Augen durch die Dunkelheit. Der Vollmond stand schon recht hoch am nächtlichen Firmament. Ihm wurde bewusst, das er schon mehr Zeit für seine Flucht gebraucht hatte, als er dachte.
Eilig ging er an dem hohen Gitter entlang.
Er hatte es nicht mehr zu hoffen gewagt jemals einen Weg nach draußen zu finden, als er diesen wundervollen Baum entdeckte. Zwar reichte die Spitze dieser herrlichen Pflanze nicht bis ans obere Ende des Zaunes, aber dennoch hoch genug um es, dank seiner enormen Körpergröße, erreichen zu können.
Als er auf der anderen Seite stand, in der Freiheit, konnte er es erst mal gar nicht fassen. Er hatte es tatsächlich geschafft. Beinahe wäre ihm ein Freudenschrei entwischt.
Er musste es nur noch bis zum Wald schaffen. So schnell er konnte lief er durch die Nacht.
Es würde nur noch eine Frage der Zeit sein bis er einen Weg in seine alte Heimat fand.
Er sog die herrlich klare Nachtluft in sich auf wie süßen Nektar. So also roch die Freiheit.
Seine Freude ließ ihn jedoch unvorsichtig werden. Er vergaß alles um sich herum, achtete nicht darauf ob ihn jemand sehen konnte.
Nur noch eine Straße musste er überqueren, dann waren die Bäume schon greifbar nahe.
Die Lichter des LKW’s sah er erst als es bereits zu spät war. Ein heftiger Schmerz durchfuhr ihn, als sein gewaltiger Körper auf dem harten Asphalt aufschlug.
Die letzten Bilder, ehe er das Bewusstsein verlor, waren die seiner Heimat.
Zwei Wärter standen in seiner Nähe. Er hörte der Unterhaltung zu. Was besseres hatte er sowieso nicht zu tun.
„Das war ja verdammt knapp. Zum Glück konnten sie ihn doch noch retten.“
„Wenn die ihn tatsächlich eingeschläfert hätten, ..... Er ist doch so ein Prachtkerl. Einen Ersatz, in seinem Format, hätten wir nicht so schnell wieder auftreiben können.“
Traurig saß er in seinem Gefängnis und dachte über das Wort einschläfern nach. Er wusste nicht was es bedeutete, doch es klang fast so schön wie Freiheit
„In den letzten drei Monaten hat er sich wirklich gut erholt. Ist fast wieder der alte Silberrücken wie früher“.
Silberrücken. Auch mit diesem Wort konnte er nichts anfangen.
Aber es erinnerte ihn an Heimat und Familie.
„Guck mal Mutti“, jauchzte ein Kind. „Was für ein großer Gorilla. Aber warum sieht der denn so traurig aus?“
[Beitrag editiert von: Lady of Camster am 02.02.2002 um 11:48]