Unmenschlich
Unmenschlich, ja, das war das Wort, das Frank gesucht hatte. Das beschrieb ganz gut die Person, die ihm gegenüber saß. Er hatte vermutlich schon eine halbe Stunde gegrübelt, wie man wohl dieses "Wesen" bezeichnen konnte. Schmunzelnd dachte er an seine Schulzeit, als Mr. Baker ihn damals oft verstört ansah, weil Frank einfach nicht auf das entscheidende Wort kam, das der Englischlehrer hören wollte.
"Unmenschlich", stammelte er -in Gedanken versunken- vor sich hin. "Was?", fragte sein Gegenüber mit schmatzendem und sabberndem Mund. Frank störte es nicht weiter, das er ihm dabei mit einem Gemisch aus Fleisch, Soße und Speichel auf seine teure Designer-Jacke spuckte.
"Ach nichts, schmeckt's?", fragte er zynisch, aber nicht richtig interessiert, jedoch mit einem Fünkchen Erwartung, dass der Typ ihm sagen würde, dass er seit einem Tag nichts mehr gegessen hat, und ein großherziger Mann ihm vier Dollar in seinen Hut an der Main Street geschmissen hatte, und er sich darauf ein Schnitzelbrötchen beim Imbiss gekauft hat. Das würde er selbstverständlich entschuldigen, nicht dass es ihn aggressiv gemacht hätte, dass der Mann in einem Umkreis von 1 Meter eine Schutzbarriere aus Zwiebeln und Ketchup um sich errichtet hatte, nein, aber der Ketchup an seinen Ärmeln und die mit Zwiebeln versaute Jeans bot keinen schönen Anblick. Aber was ihn wirklich rasend gemacht hatte, war die Art und Weise, wie er dieses Schlachtfeld fabrizierte. Ungeniert machte er den Mund auf, stopfte sich ein Viertel des Brötchens in sein Maul, machte den Mund zu (soweit es noch möglich war) und schmatze wie ein Orchester mit verschiedenen Instrumenten, die verschiedene Klänge erzeugten. Frank stellte sich vor, welches der Schmatzgeräusche, welches Instrument darstellen könnte. Es musste wirklich ein großes Orchester sein.
"Yo". Er schaute ihn dabei selbstverständlich nicht an, zu beschäftigt war er mit der Vernichtung des Schnitzels, Frank hatte es auch nicht anders erwartet. Seltsamerweise assoziierte er diesen Anblick mit seinem alten Großvater, der ihm früher oft vom Krieg erzählte. Immer wenn er zu ihm ging -das war etwa zweimal pro Woche- erzählte er von der Army und wie sie damals die Deutschen fertig gemacht haben. "Schnitzelfresser" hatte er sie immer genannt, obwohl er nicht verstand, warum er das tat, schließlich essen ja nicht nur Deutsche Schnitzel. Er stellte sich nun seinen gebrechlichen armen Großvater vor, der in der Ecke eines Lazaretts kauernd seine eine Mahlzeit pro Tag zu sich nahm und dabei ebenfalls so ausgesehen haben muss. Sein Grandpa, jaja, was hatte er nicht für Geschichten erzählt, von Krieg und von Deutschen. Wenn er die Geschichten im Englischunterricht bei Mr Baker zusammen fassen müsste, würde er sie kurz und bündig so beschreiben: Sie handelten immer vom Tod. Immer nur vom Tod. Mit seinen zarten 10 Jahren hörte er von seinem Großvater immer nur Geschichten vom Tod. Er weiß heute noch nicht, ob er die Geschichten alle verdaut hat. Heute glaubt er bestimmt, das er mit dem Tod verwand ist, so bekannt ist er ihm. Gute Gelegenheit ihn heute zu besuchen, schließlich fuhr er ja heute zu seinen Verwandten. Zu Oma Audra, Tante Sandra, Großopa Marc und all die anderen Leuten, die er nur ein paar Mal in seinem Leben gesehen hatte.
Der Zug fuhr bisher pünktlich und sanft und Frank beschloss, sich ans Fenster zu lehnen und ein bisschen zu schlafen. Er wusste ja nicht, wann der Zug ankommt, das wusste keiner so genau. Nachdem sein Freund gegenüber mit dem Essen fertig war, hatte Frank jetzt zumindest die Gewissheit, dass er ihm, während er schlief, nicht durch einen Hustenanfall ausgelöst, auf den Kopf spucken konnte.
Es musste Stunden später sein, als er aufwachte und nun der Schaffner das erste Mal vorbeikam. "Die Tickets, bitte!", rief er ihnen mit einer tiefen Bassstimme zu und Frank zückte sogleich, mit einem gewissen Stolz verbunden, sein Ticket und übergab es feierlich dem Schaffner. Dieser betrachtete es skeptisch, lachte dann darüber, und gab es ihm grinsend zurück. Sein Gegenüber kramte derweil verzweifelt in seiner Jackentasche. Er tat so, als wüsste er nicht mehr, wo seine Fahrkarte abgeblieben war. Frank merkte sofort, was mit ihm los war, und wusste, dass er keine Fahrkarte besitzt. Es war ihm bekannt, das es, zur Zeit immer häufiger, Schwarzfahrer in dieses Zügen gab.
Er kramte jetzt nicht mehr und sah den Schaffner nur noch eröttend und mit sichtlicher Pein an. Es war ihm in der Tat peinlich, dass er nicht wie die anderen eine solche Fahrkarte besaß.
"Aha, ein Freischein also, nicht wahr?" sagte der Schaffner belustigt und vorwurfsvoll zugleich.
Er nickte.
"Beachten Sie bitte die Hinweise am Bahnhof!". Er nickte wieder und Frank kam es mittlerweile vor, als ob er ein Roboter ist, der monoton seine Befehle verarbeitet. "Wann kommt der Zug denn an?" fügte er überraschenderweise noch hinzu. Er war in letzter Zeit nicht mehr der Typ gewesen, der er einmal war. Seine Firma ging Pleite und seine Frau wollte mit der Tochter ausziehen und die Scheidung einreichen. Er hielt dem Druck nicht mehr stand und verfiel in letzter Zeit immer häufiger in schwere Depressionen. "Tja, Sir, schwer zu sagen, aber ich denke, so in 36 Stunden dürften wir da sein.
"36 Stunden?" blickte er den Schaffner fragend und mit einem Hauch Ironie an. "Ist das Ihr Ernst?".
"Ja natürlich Mr....."
".....Rumbell, Michael Rumbell, Sir".
"Ähh, ja, Mr. Rumbell, das ist mein voller Ernst!".
"Wow, die Technik schreitet ja immer schneller voran! Ziemlich schnell für so eine Strecke". Er hatte Recht, vor ein paar Jahren wäre man noch 72 Stunden gefahren, und das wusste der Schaffner sehr genau, wie oft hatte er nun diese Strecke begleitet? Bestimmt über 100 mal, da ist er sich sicher. Jedes Mal sieht er sich da sitzen, wie er vor 25 Jahren dort saß und die Strecke fuhr. Damals empfand er es wirklich als sehr lange. "Ja das stimmt".
Dem wusste Michael nichts mehr hinzuzufügen und der Schaffner setzte sich wieder in Bewegung.
Sie saßen nun wieder alleine im Abteil. Frank hatte mittlerweile seine Aversion gegenüber seinem Nachbarn abgebaut und begann sogar ein Gespräch mit ihm, jetzt ohne Zynismus. "Sie heißen also Michael, mein Name ist Frank." Er reichte ihm die Hand und er spürte, wie fettig Michaels war und nun seine Hand sein musste. Das ließ die alte Wut wieder hochkochen, Sekunden später aber beruhigte er sich aber wieder.
"Schön Sie kennenzulernen, Frank!"
"Sie sind also ein Freifahrer!".
"Ja, ich will eigentlich nicht darüber sprechen, aber gut: Meine Frau hat mich verlassen und unsere Tochter mitgenommen, das Gericht hat ihr das Sorgerecht zugesprochen und ich darf Laura nun nur alle zwei Wochen am Sonntag sehen. Ich war völlig fertig. Und Sie, Frank?"
Frank überlegte, ob er ihm die Wahrheit auftischen sollte, schließlich würde es auf ihn keinen guten Eindruck machen, wegen so einem Grund dorthinzufahren. Er entschloss sich letztendlich doch für die Wahrheit. "Ich hatte einen Verkehrsunfall, vier Tote und muss gezwungener Maßen auch diese Reise antreten. Wissen Sie, ob wir von dort aus unseren Familien schreiben dürfen?" Michael überlegte kurz, und sagte dann entschlossen "Nein, ich denke nicht".
Sie vertieften diese Thematik nicht weiter und verbrachten den Rest der Zeit damit, darüber zu mutmaßen, was sie dort erwarten wird, was sie dort essen dürfen, ob es dort wohl Freizeitmöglichkeiten gibt und ob sie arbeiten müssen.
Im Großen und Ganzen empfand Frank den Service im Zug als sehr angenehm. Viermal am Tag kam eine junge hübsche Frau vorbei und brachte eine köstliche Mahlzeit. Für Frank war sie, wie der Busen der Stewardess, wie er sie nannte, zu üppig und die Hälfte seines Essen verputzte Michael. Er fand es mittlerweile lustig, wie schnell und schamlos er fraß (essen war ja wohl kein entsprechender Ausdruck dafür). Amüsierend, gerade zu zum Totlachen. Auch wenn sie sich jetzt schon gut kannten, wollte er ihm dies aber nicht mitteilen, wie hätte es auch geklungen, wenn eine 4-Tage Bekanntschaft zu einem sagt, das man wie ein Schwein fresse. Dennoch sehr amüsant.
Etwa eine halbe Stunde vor der Ankunft hörten sie ein Rauschen im Lautsprecher über ihnen. Nach kurzem Räuspern sprach der Zugführer: "Verehrte Fahrgäste, wir erreichen nun in Kürze unser Ziel. Bitte halten sie sich zum Aussteigen bereit. Dieser Zug kommt in circa 20 Minuten an. Denken Sie daran, auszusteigen, dieser Zug endet hier!" Großes Gelächter im ganzen Zug, da hatte sich der Zugführer einen tollen Gag erlaubt, "der Zug endet hier", super, der Brüller schlechthin. Michael verstand den Witz erst ein wenig später, aber Frank lachte, wahrscheinlich das erste Mal nach seinem Unfall, richtig herzlich. Michael stimmte 10 Sekunden später mit ein. "Bitte achten Sie auf die örtlichen Durchsagen am Bahnhof, wie Sie weiter kommen. Ich wünsche Ihnen eine schöne Ankunft und viel Vergnügen bei Ihrem Aufenthalt."
Allmählich packten sie zusammen und standen auf. Auf dem Gang hatte sich schon eine riesige Schlange gebildet, die alle darauf warteten, endlich aussteigen zu können. "Wir werden wohl die Letzten sein, da kommen wir jetzt eh nicht raus." Michael dachte kurz nach und entgegnete: "Zumindest müssen wir keine Koffer mitschleppen, das würde die ganze Sache erschweren." Recht hatte er, Frank stellte sich das ganze Szenario im Zug vor: "Können Sie mir den Koffer herunterstellen?", "Passen Sie doch auf, wo Sie hintreten." Ja, das blieb ihnen Gott sei Dank erspart.
Die Türen ließen sich jetzt öffnen und 10 Minuten später war es auch Michael und Frank möglich, auszusteigen. "Unsere Wege werden sich nun wahrscheinlich trennen, ich muss bestimmt in eine andere Richtung als Sie, machen Sie's gut, Frank!" Frank reichte ihm die Hand und schüttelte sie nun mit einem lachenden und einem weinenden Auge. Diesmal klebte kein Fett mehr an Michaels Händen. Es war nach 36 Stunden wahrscheinlich auch eingezogen oder er hatte es sich an seinen Kleidern abgeschmiert. "Viel Glück, Mi.....". Die Stimme einer jungen Frau ertönte und plötzloch wurde es totenstill auf den Bahngleisen. "Meine verehrten Damen und Herren, willkommen in Apokalypse! Bitte beachten Sie folgende Informationen: Begeben Sie sich zu der Richtung, für die Sie auserkoren wurden. Diese entnehmen Sie den Hinweisschildern über den Aufgängen. Die Urteile werden am Schalter verteilt."
Es waren fast alle schon beim Gericht, Michael und Frank eingeschlossen. Sie bekamen Ihre Beschlüsse und Ihre Wege trennten sich tatsächlich. Michael musste Richtung Westen, Frank Richtung Osten. Am Eingang zum Paradies, bzw. Hölle blickten sich Frank und Michael noch einmal um und winkten sich das letzte Mal zu. Entschlossen betraten beide ihr Schicksal.
"Unmenschlich", flüsterte Frank leise vor sich hin, "ja, unmenschlich".
[ 26.04.2002, 19:27: Beitrag editiert von: Zami1986 ]