Mitglied
- Beitritt
- 15.05.2017
- Beiträge
- 6
Unheilig
Der seit nunmehr fast zwei Jahrzehnte leerstehende, verwahrloste Supermarkt „Point“ bot einem jeden, der daran vorüberging oder -fuhr ein Bild beinahe grenzenloser Trostlosigkeit. Leer Papier- und Plastiktüten, kaputte Glasflaschen, zertretene Blechdosen und anderer Müll lagen über den ganzen Parkplatz verstreut. Niemand schien sich darum zu kümmern. Hin und wieder ließ ein sanfter Luftstoß die leeren Tüten über den Asphalt tanzen, ehe der Wind wieder nachließ und dem lustigen Spiel Einhalt gebot.
Die großen Fenster des Gebäudes waren von innen sorgfältig mit braunem Papier abgedeckt worden. Außen waren die Scheiben schmutzig und ausladend. Hier und dort waren kleine Sprünge im Glas und an manchen Stellen waren die Scheiben klebrig und rochen nach Limonade, abgestandenem Bier oder Erbrochenem. Selbst die Natur schien sich der abstoßenden Aura dieses Ortes anzupassen. Die Bäume, die den Parkplatz an zwei Seiten umgrenzten, trugen das ganze Jahr über keine Blätter und die Wiese, die auf den dafür vorgesehenen Flächen zwischen den Parkplatzreihen im Sommer eigentlich hellgrün sprießen sollte, war von schmutzigem Grau. Es war fast so, als hätte etwas derartig Böses diesen Ort berührt, dass selbst die Farben sich weigerten, sich preiszugeben.
An der Vorderseite des Supermarktes, über den Türen, waren dicke Neonröhren angebracht, die einst in textmarkerfarbenem Orange stolz das Wort POINT in die Welt hinausgeleuchtet hatten. Doch nun erweckten sie nur noch einen durch und durch traurigen Eindruck. Die Röhren waren derartig schmutzig, dass, selbst, wenn sie noch hätten leuchten können (was sie natürlich nicht mehr konnten), das Licht durch die dicke Schmutzschicht hindurch nicht mehr sichtbar gewesen wäre.
Schlicht zusammengefasst war dies der letzte Ort der Welt, an dem irgendjemand sich hätte aufhalten wollen.
Langsam aber sicher wurde es dunkel und die Nacht begann ihren dicken Mantel des Schweigens über die Stadt auszubreiten. In der Ferne hörte man noch das Rattern der letzten Straßenbahn, die die übriggebliebenen Fahrgäste absetzte, allerdings keine neuen mehr einsteigen ließ. Dann war es ruhig.
Niemand wäre auf die Idee gekommen, dass sich in dieser Nacht das Tor zu einer anderen Welt auftun und alles für immer verderben würde, was sich tragischer Weise zur falschen Zeit am falschen Ort befand.
Die fünf Jugendlichen (man hatte sich im Nachhinein geeinigt, in der Zeitung nicht ihre richtigen Namen preiszugeben, denn die Würde des Menschen solle schließlich unantastbar bleiben) bildeten einen kleinen Kreis und breiteten das Spielbrett vor sich aus. Einer von ihnen, ein Junge, sechzehn Jahre alt, legte den Kopf in den Nacken und betrachtete das kleine quadratische Loch im Dach über ihm. Das Seil, das sie benutzt hatten, um in den Supermarkt zu gelangen, baumelte knapp 10 Zentimeter über dem Boden und er überlegte, ob es nicht vielleicht ein Fehler gewesen war, leichtsinniger Weise hier herunterzuklettern. Runter war ja leicht. Aber was, wenn sie es nicht mehr schafften, hochzuklettern? Die Dachluke war immerhin gut fünf Meter über ihnen. Aber was soll’s, im Notfall mussten sie eine Scheibe einschlagen. Das würde vermutlich niemandem auffallen, geschweige denn irgendjemanden interessieren.
Eines der beiden Mädchen, die dabei waren, holte ein kleines Glas aus dem Rucksack und stellte es in die Mitte des bemalten Pappkartons, den sie optimistischer Weise „Spielbrett“ nannten. Rund um den Karton waren das Alphabet und die Ziffern null bis neun mit dickem schwarzem Stift aufgemalt.
Mitten in der Nacht in ein verlassenes, vermutlich einsturzgefährdetes Gebäude einzubrechen und Geister zu beschwören hatte natürlich in den Teenagerköpfen nach einer grandiosen Idee geklungen. Mutprobe hieß es später in den Zeitungen. Doch eigentlich war es das nie gewesen. Die Erwachsenen wollen in allem Blödsinn, den Jugendliche machen eine Mutprobe sehen. Es ist das erstbeste was ihnen einfällt und sie kommen erst gar nicht auf den Gedanken, dass solche Ideen auch einfach nur just for fun entstehen. Just for fun
„Ist hier jemand? Ist hier jemand, der uns hören kann?“ Die obligatorische Frage nach der Anwesenheit Verstorbener. Der Klassiker, der das Spiel mit den Toten einläutete. Das Glas bewegte sich – überraschender Weise - nicht. Eigentlich hatte jeder damit gerechnet, dass einer der anderen es anschieben würde. Einen gab es doch immer, der das tat. Aber das Glas blieb ruhig.
Draußen auf dem Parkplatz, auf der anderen Seite der mit braunem Papier verdeckten Scheiben, wie in einer anderen Welt, unsichtbar für die im Kreis sitzenden und Geister beschwörenden Kinder, bewegten sich die Reifen eines Wagens. Das Auto bestand aus einer verrosteten Karosserie, eingeschlagenen Seitenfenstern, einem verbeulten Dach und abgebrochener Antenne. Bemerkenswert, wie alles, was dieser Parkplatz zu bieten hatte, sich makellos an das vorherrschende Bild der Trostlosigkeit, Vergessenheit und besonders an die beinahe knisternde Gewaltsamkeit dieses Ortes anpasste. Auf dem Fahrersitz trommelte jemand leicht mit den Fingerkuppen der linken Hand auf das Lenkrad. Die rechte Hand wanderte hinüber zum Drehknopf des zerstörten Autoradios und stellte es an. Stellte es an? „Ist hier irgendjemand, der mit uns in Kontakt treten möchte?“, rauschte eine Stimme aus dem alten Radio und im Rückspiegel des Wagens funkelte ein Augenpaar, das perfekt zu diesem Parkplatz passte.
Drinnen rissen die fünf fast zeitgleich ihre Finger vom Glas. Es war innerhalb eines Sekundenbruchteils so heiß geworden, dass es sich angefühlt hatte, als hätten sie den Finger zu nah über einer offenen Flamme gehalten. Fünf kurze erschreckte Aufschreie später zerbrach das Glas mit einem entsetzlich grässlichen Geräusch. Es klang fast so wie brechende Knochen. Nein, es klang ganz genauso. Ein Geräusch, das nicht zu einem brechenden Glas gehören sollte, das hier nichts verloren hatte und deswegen genau hierher passte. An den Ort, wo alles anders war, als es sein sollte. Die fünf schrien durcheinander, Entsetzen auf den Gesichtern und sprangen durch den Raum. Einige bluteten an den Händen oder im Gesicht, wo Glasscherben sie getroffen hatten.
Plötzlich wurde es hell. Die Kinder hörten schlagartig auf, zu schreien. Fast so wie eine Maus, die die Anwesenheit einer Schlange witterte und deswegen keinen Mucks von sich zu geben wagte, um nicht entdeckt und gefressen zu werden. Scheinwerfer schienen durch das Glas, durchdrangen das Papier an den Scheiben. Dann war es dunkel.
Das Auto stand da, die vordere Stoßstange nur wenige Zentimeter vor den Glasscheiben. Der Innenspiegel, der wenige Augenblicke zuvor noch ein Augenpaar gespiegelt hatte, wäre dazu jetzt nicht mehr in der Lage gewesen. Die gesamte Spiegelscheibe war aus der Plastikhalterung gebrochen und der Fahrer
war weg. Drinnen verloren die Kinder allmählich ihren Verstand. Was sich innerhalb der Wände dieses verlassenen Gebäudes, das ohne Regale, Wursttheke und Einkaufswagen an eine grässlich leere Lagerhalle erinnerte, abspielte, war zu viel für die Wahrnehmung Sechzehnjähriger. Schnitte breiteten sich auf ihren Armen und Beinen aus. Schnitte, aus denen Blut floss, Schnitte, die immer tiefere furchen in das Fleisch rissen, wenn man sich bewegte und vor allem: Schnitte, die aus dem Nichts zu kommen schienen. Die Mädchen weinten und schrien, die Jungen hatten das abgrundtiefe Entsetzen in den Augen und waren vielleicht gar nicht mehr dazu im Stande, zu schreien. Immer grässlichere Wunden zogen sich über ihre Körper. Ein tiefer Riss im Oberarm eines der beiden Mädchen bot unzähligen kleinen Würmen die Möglichkeit, aus ihrem Fleisch zu entschwinden. Sie quetschten sich aus der offenen Wunden, platschten auf den Boden und hinterließen eine Spur aus Sekreten und Blut. Niemand war mehr bei Sinnen. Keiner konnte verstehen, was sich zutrug. Jeder Bisschen Verstand, jeder Funken Wahrnehmung war aus den jungen Köpfen verschwunden. Alles weg, bis auf den Urinstinkt. Der primitive Gedanke, zu überleben, ließ sie schreien und mit den Füßen strampeln. Einen Ausdruck endgültiger Verdummung auf den Gesichtern. Augen, die verrieten, dass keiner der Anwesenden auch nur die geringste Vorstellung davon hatte, wer sie waren, wo sie waren und warum sie waren. Niemand von ihnen hörte das Zerbersten der großen Scheiben. Niemand nahm das Röcheln wahr, das so voluminös, so präsent war, dass es den Boden vibrieren ließ. Keiner von ihnen fühlte, wie sie gewaltvoll zu Boden gerissen wurden, einer nach dem anderen, wie ihnen die Haut zu brennen begann, als das Etwas sie berührte, ihnen die Kleider vom Leib riss und sich dem ehrlosesten aller Verbrechen hingab. Und als die Decke herabbrach und die fünf unter sich begrub, dem grässlichen Vorgehen ein Ende bereitete, kriegte es auch niemand mit. Alle tot. Von der unheiligsten aller Kreaturen zu Tode gefoltert, vergewaltigt und in den Zeitungen dieser Welt als perverse, dumme Jugendliche verewigt. Beim Einbruch in leerstehenden Supermarkt verunglückt. Nackt. Dumme Pubertierende eben. Die Geschichte in allen Zeitungen. In allen.
Aber die Namen. Die nahmen sie mit ins Grab.