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Ungesehen
Die Lichter schienen dunkler zu werden, als der Mann das Apartment betrat. Mit einem gewissen Widerwillen lies sie ihn ein. Sie wusste nicht, warum sie es tat. Sie fürchtete sich vor ihm. Nicht vor seiner Erscheinung. Nein, es war etwas anderes.
Er hatte einen grauen Nadelstreifenanzug an, über dem er einen dunklen Mantel trug. Das einzig bunte Kleidungsstück, das er trug, war eine rote Krawatte. Aber auch dieses Rot wirkte dunkel, ja gar traurig. Er sah vornehm, dennoch unauffällig aus.
Sie wies ihm den Weg ins Wohnzimmer und bedeutete ihm, sich zu setzen. Ihr war, als kenne sie ihn nicht, und bis jetzt hatte er noch kein Wort gesagt. Es war, als hätte sie keine Kontrolle über sich, denn nicht er, sondern sie setzte sich, als er auf das dunkelblaue Sofa zeigte.
Nun saß sie ihm gegenüber und starrte ihn an, ohne ein Wort zu verlieren. Sie verlor sich in seinen tief blauen Augen. Das Geschehen kam ihr fern und unbedeutend vor. Dieses Gefühl verstärkte sich sogar noch, als er die Stimme erhob.
Sie hörte ihn nicht, als sie aufstand und zum Balkon schritt. Er versuchte nicht sie aufzuhalten, nein, im Gegenteil. Seine Worte waren wie ein goldenes Band, das sie die Balkontür hinaus, in die kalte Nacht führte. Auch als sie über die Brüstung kletterte, stand er nur hinter ihr, sie mit dem Blau seiner Augen verfolgend.
So stand sie da, in ihrem weißen Nachthemd in die Ferne der Nacht blickend. Eine einzelne Träne löste sich von ihrem Auge, rollte ihre Wange hinunter und schlug zehn Stockwerke weiter unten auf den dunklen Asphalt auf.
Immer noch redete der Mann im Anzug auf sie ein. Sie verstand seine Worte nicht, verstand aber sehr wohl, was sie tun musste.
Kein Schrei zerriss die Stille der Nacht. Kein Laut kam über ihre Lippen, als sie sich vom Geländer löste. Sie hatte ein Lächeln im Gesicht, als sie endlich, seit langen Jahren wieder Freiheit verspürte.
Als Mr. Miller nach Hause kam, war die Polizei schon vor Ort. Er stieg langsam, mit einem unguten Gefühl aus seinem Wagen.
Ein älterer Mann in Uniform kam auf ihn zu. Er war es auch, der ihn ein paar Minuten später vom leblosen Körper seiner Frau wegzerrte und versuchte, ihn zu beruhigen.
Etwas entfernt von all dem stand ein Mann in einem grauen Nadelstreifenanzug im Schatten eines Gebäudes und beobachtete das Geschehen.
Schon bald drehte er sich um und verschwand, ungesehen ins Dunkel der Nacht.