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Ungeschriebene Gesetze
Die Waise sitzt am Straßenrand und ihre Hände spürt sie wegen der Kälte schon lange nicht mehr. Der Mann, der gerade noch über die Straße ging, als sei er der glücklichste Mensch auf der Welt, liegt nun regungslos wenige Meter vor ihr auf dem Boden. Wie der Fahrer kam und fuhr, das weiß sie nicht mehr, ihr Blick ist voll und ganz auf den nun toten Mann zu ihren Füßen fixiert gewesen. Jede seiner Bewegungen hat sie beobachtet und auf einmal lag er da und bewegte sich nicht mehr.
Er wusste nicht, dass er wenige Augenblicke später sterben würde, sie wusste es auch nicht; keiner wusste es. Und jetzt liegt er da, fühlt wahrscheinlich nichts mehr und sie lebt weiter und erlebt seinen Tod.
Schon komisch, denkt sie, und steckt sich eine Zigarette in den Mund. Sie anzuzünden fällt ihr schwer, sie spürt schließlich ihre Finger noch immer nicht.
Ob der Mann seine Finger gespürt hat? Ist nicht wichtig, denn das hätte seinen Tod auch nicht verhindern können.
Sie muss schmunzeln, bei dem Gedanken daran, dass auch sie, während sie auf der Bordsteinkante sitzt und über das Erleben eines Todes nachdenkt, selbst jeden Moment sterben könnte.
Unerwartet setzt sich ein Mann neben sie, er raucht ebenfalls und sie fragt sich, warum.
„Er war ein guter Mann“, sagt er und nickt vor sich hin, als stimme er einem imaginären Gesprächspartner zu.
„War“, wiederholt die Waise leise. Wird man denn so schnell zur Vergangenheit? Vor 10 Minuten war dieser Mann lebendig, scheinbar voller Energie und, vor allem, Gegenwart. Und jetzt, so kurze Zeit später, ist er zur Vergangenheit geworden, ein „War-Mal“ oder ein „Ist-Gewesen“.
Die Menschen sind viel zu objektiv. Wenn sie sich gegenseitig vergangene Geschichten erzählen, dann tun sie das auch in der Vergangenheit, berichten Geschehenes, als sei es ein ungeschriebenes Gesetz.
So gesehen sollte dieser Mann nicht etwa das Präteritum, sondern die Geschichte selbst sein. Ein Mann ohne Zukunft, eine Geschichte ohne Fortsetzung.
Der neben ihr Sitzende schaut sie fragend an und beugt sich auffällig nach vorne, um ihr ins Gesicht schauen zu können, lehnt sich dann wieder etwas zurück, doch die Waise macht durch Ignorieren seiner Blicke deutlich, dass sie keine Lust hat, sich mit ihm zu unterhalten. Er ignoriert ihre Gestik und sagt „So möchte ich auch sterben. So ganz ohne Zweifel, ohne großen Schmerz und ohne zu wissen, wann es soweit ist. Einfach.“
Die Waise überlegt kurz, ob sie antworten soll. Sie schaut in den trüben Himmel und kann die Sonne nicht entdecken. Nach einem kurzen Seufzer gibt sie die Suche auf und widmet sich wieder ihrer Zigarette. Sie hat es sich überlegt.
„Schwachsinn. Man muss sich doch vorher bewusst sein, was man hat und wenn man nichts hat, dann sollte man, wenn man weiß, das man sterben wird, seinem Willen nachgehen.“
„Wer sagt denn, dass man das muss?“
Die junge Frau zuckt mit den Schultern. Sie weiß keine Antwort.
„Deshalb ist oft davon die Rede, dass man jeden Tag leben soll, als wäre es der letzte“, fährt er fort, „und jeder weiß, dass das unmöglich ist. Jeden Morgen stehe ich auf, gehe zur Arbeit, komme wieder nach Hause und lebe den Alltag, als würde es den Zeitfluss nicht geben. Und jeden Abend wird mir immer und immer wieder aufs Neue bewusst, dass ich den Tag nicht genutzt habe. Aber das ist irgendwie okay, weil ich weiß, dass ich keine andere Möglichkeit habe. Die Gesetze und das Geld machen es doch unmöglich, genau das zu tun, was man gerade möchte, oder noch besser, alles das zu tun, was man je machen wollte.“
Es folgt ein kurzes Schweigen. Sie interessiert sich nicht für das Leben dieses fremden Mannes, zumal sie weiß, dass sie es besser hat, als er. Selbst wenn er noch so reich ist und vorgibt, noch so glücklich zu sein.
„Dann“, sagt sie nach kurzem Überlegen, „ist es doch erst Recht schlecht, unwissend zu sterben. Angenommen nach dem Tod erinnert man sich noch an sein Leben, sei es im Jenseits oder sonst wo, dann nimmt man die Erinnerung mit in den Tod, seine Möglichkeiten nicht genutzt und sein Leben nicht nach seinen eigenen Vorstellungen gelebt zu haben. Ist doch scheiße.“
Sie weiß, dass er auch Recht hat, aber zugeben würde sie das für Nichts.
„Eben.“
Die Waise dreht den Kopf und schaut ihm zum ersten Mal ins Gesicht.
„Sie sind komisch.“
Und das bezieht sie nicht nur auf die Lebensphilosophie des Mannes, sondern auch auf sein Aussehen. Er sieht unglaublich Glücklich aus, denkt sie, als gäbe es keine Probleme auf der Welt. Sein gepflegtes Aussehen, seine zurecht gemachten Haare und sein frisch rasiertes Gesicht, das alles lässt ihn abstoßend für die Waise wirken. Wo ist der Sinn dabei? Der Mensch verstellt seine Persönlichkeit, in dem er das tut, wozu er eigentlich gar keine Lust hat. Doch sobald man sich gehen lässt, ungewaschen oder ungepflegt erscheint, wird man schief angeguckt, schließlich ist das doch ekelhaft. Sie selbst sind es, denkt sie sich und nimmt noch einen Zug von ihrer Zigarette.
Aussehen ist nicht das, was im Leben zählt.
„Doch, ist es“, sagt der Mann und die Waise muss erst kurz überlegen was er meint, bis ihr klar wird, dass sie wahrscheinlich laut gedacht hat.
„Das ist genau das, was ich meine. Indem ich auf mein Aussehen achte, gehöre ich zur Norm und in dem ich zur Norm gehöre, werde ich in die Gesellschaft integriert.“
„Moment. Soll das heißen, Sie sind stolz darauf, zur Norm zur gehören?“
Er will gerade etwas erwidern, doch das Mädchen lässt ihn erst gar nicht zu Wort kommen.
„Menschen wie Sie verachte ich. Sie leben in den Tag hinein, folgen brav dem System und passen sich immer und überall an, nur um bloß nicht ausgeschlossen zu werden. Denn wenn man sie ausschließen würde, hätte ihr Leben natürlich keinen Sinn mehr. Sie laufen im Kreis, wissen sie das eigentlich? Sie pflegen ihr Aussehen, damit sie den anderen Menschen zeigen können, dass es ihnen gut geht und damit man sie auf der Arbeitsstelle nicht für ekelhaft hält oder vielleicht sogar feuert. Ich weiß ja nicht was Sie beruflich machen. Jeden Falls bekommen sie dann ihren Lohn und was machen sie mit dem Geld? Klar, in erster Linie ernähren sie sich, und dann? Dann geben sie es wieder irgendwie für ihr Aussehen aus.“
Sie will eigentlich noch viel mehr sagen, denn wenn es etwas gibt, was sie aus der Fassung bringen kann, dann sind es Menschen, die sie nicht verstehen und eine festgefahrene Meinung haben. Solche Menschen wie dieser Mann einer ist, ein Mann, der auf demselben Planeten, in derselben Stadt auf dem gleichen Bordstein, neben ihr sitzt und so viel anders ist.
Und dieser Mann ist es, der sie nun unterbricht, doch im Gegensatz zu ihr ist er ganz ruhig und lächelt sie an.
„Das stimmt schon. Ich passe mich der Norm an und achte sehr wohl auf mein Aussehen, wofür mit Sicherheit auch etwas an Geld drauf geht. Aber ganz ehrlich, läufst du nicht auch im Kreis? Ich kenne deine Vergangenheit und dein Leben nicht, aber es besteht bestimmt nicht nur daraus, dass du auf der Straße rumsitzt und Leuten beim Sterben zusiehst. Auch du hast einen Rhythmus, dem du folgst – oder nicht?“
Die Waise antwortet nicht, sondern überlegt kurz. Wie lange lebt sie schon auf der Straße?
Wie lange versucht sie schon, durch ihren Gesang auf den Straßen Geld für etwas Brot und manchmal auch für etwas Wasser zu gewinnen?
Sie zuckt mit den Schultern, weil sie weder die Antwort auf seine Fragen, noch auf ihre eigenen weiß. Und zum ersten Mal, seit sie waise ist, seit sie auf der Straße lebt und ihr einziger Gesprächspartner der Gemüsehändler vom Markt ist, weil er ihr manchmal Reste schenkt, die eigentlich in den Müll gehören, fühlt sie sich hilflos.
Die Waise sitzt am Straßenrand und ihre Hände spürt sie wegen der Kälte schon lange nicht mehr. Der Mann, der gerade noch über die Straße ging, als sei er der glücklichste Mensch auf der Welt, liegt nun regungslos wenige Meter vor ihr auf dem Boden. Wie der Fahrer kam und fuhr, das weiß sie nicht mehr, ihr Blick ist voll und ganz auf den nun toten Mann zu ihren Füßen fixiert gewesen.
Sie steht auf und klopft sich den Dreck von ihrer kaputten Hose. Noch einen letzten kurzen Blick wirft sie auf den Mann und fragt sich, wie er bei so kalten Temperaturen so unglaublich glücklich aussehen konnte.