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Ungeeignet
Ihre Knie zittern unmerklich, als sie dem Mann im grauen Anzug folgt. Unter dem Jackett zeichnet sich sein gerader Rücken ab, darüber ragt ein stolzer Nacken mit hoch erhobenem Kopf empor. Er öffnet die nächste Türe, lässt sie eintreten und weist mit der Hand auf einen Stuhl.
Mit trockenem Mund setzt sie sich, während er um den Tisch herumgeht und sich auf der anderen Seite niederlässt. Neben ihm sitzt bereits ein weiterer Mann, der denselben Anzug trägt. Nur seine Augen haben eine andere Farbe, sie sind heller, wie Eis.
Sie faltet ihre Hände nervös über dem Tisch und versucht, sie stillzuhalten, versucht, Blickkontakt aufzubauen, freundlich zu lächeln. Das einzige Geräusch ist das Ticken der silbernen Uhr an der Wand und das Rascheln der Unterlagen, die der Mann vor sich sortiert. Schließlich zieht er ihren Lebenslauf daraus hervor, sie sieht ihr makelloses Bild vom Fotografen und die magere Ausbeute ihres Schullebens in Papierform.
Die Fragen beginnen wie in Zeitlupe und ihre Antwort folgt blitzschnell, denn sie kennt die Fragen schon.
Das Gespräch zieht nur nebelhaft an ihr vorbei, die Fragen durchdringen als einzige klare Fragmente das Rauschen in ihren Ohren.
„Was sind Ihre Stärken?“, fragt der Mann routiniert.
„Ich bin ehrgeizig und arbeite produktiv. Außerdem bin ich sehr teamfähig." Sie kommt sich albern vor, wie sie versucht, selbstsicher zu klingen und das Zittern in ihrer Stimme dennoch kaum verbergen kann. Wie sie versucht andere von etwas zu überzeugen, an das sie selbst nicht glaubt.
„Und Ihre Schwächen?"
„Ich bin zu perfektionistisch, ich gebe immer mein Bestes, um alles so gut wie nur möglich zu machen. Außerdem bin ich sehr selbstkritisch, ich denke immer, ich könnte noch besser sein, und versuche auch, das umzusetzen.“ Sie hofft, dass sie überzeugend und ihre Worte nicht auswendig gelernt klingen. Der andere macht Notizen, seine Hand fliegt über das Papier.
„Warum sollten wir ausgerechnet Sie nehmen?“
„Ich bin motiviert und lernfähig, produktiv und zielstrebig.“ Es ist schwer, diese Worte herauszubringen. Sie kommen ihr vor wie leere Worthülsen, zufällige positive Attribute, austauschbar und nichtssagend. Jeder und zugleich niemand könnte sich damit identifizieren.
Die Leere des Raums macht sie schwindelig, der Schreibtisch scheint im Nichts zu stehen, umgeben von blütenweißen Wänden, die den Raum begrenzen und gleichzeitig keinen Halt geben.
„Haben Sie noch Fragen?“
Sie weiß, dass sie nicht zuerst nach Gehalt und Urlaub fragen darf, als wäre es nicht offensichtlich, dass ihre diese Fragen auf der Zunge liegen. Aber sie muss den Schein wahren. Als könnte sie sie tatsächlich täuschen. Produktiv, bereit, am liebsten kostenlos zu arbeiten, und mit einer Motivation, die für 365 Arbeitstage im Jahr reicht.
Aber sie beginnt, ihre Liste abzuarbeiten, interessiert zu sein, die richtigen Fragen zu stellen. Sie hasst ihre Heuchelei und die Männer vor sich, die ihre Menschlichkeit hinter Masken verbergen, aber vielmehr hasst sie sich selbst dafür, dass sie es ihnen gleichtut.
„Vielen Dank. Wir melden uns die nächsten Tage.“ Die Männer stehen auf und sie bedankt sich, reicht beiden die Hand und erschrickt vor deren Kälte. Erneut blickt sie auf die silberne Uhr. Es ist kaum Zeit vergangen.
Schnell nimmt sie ihre Tasche, schlüpft in ihre Jacke und flüchtet aus dem Raum. Sie weiß schon, dass sie erneut einen kurzen, höflichen Absagebrief erhalten wird. Aber sie weiß wieder nicht, warum.