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Ungeeignet

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24.09.2015
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Ungeeignet

Ihre Knie zittern unmerklich, als sie dem Mann im grauen Anzug folgt. Unter dem Jackett zeichnet sich sein gerader Rücken ab, darüber ragt ein stolzer Nacken mit hoch erhobenem Kopf empor. Er öffnet die nächste Türe, lässt sie eintreten und weist mit der Hand auf einen Stuhl.
Mit trockenem Mund setzt sie sich, während er um den Tisch herumgeht und sich auf der anderen Seite niederlässt. Neben ihm sitzt bereits ein weiterer Mann, der denselben Anzug trägt. Nur seine Augen haben eine andere Farbe, sie sind heller, wie Eis.
Sie faltet ihre Hände nervös über dem Tisch und versucht, sie stillzuhalten, versucht, Blickkontakt aufzubauen, freundlich zu lächeln. Das einzige Geräusch ist das Ticken der silbernen Uhr an der Wand und das Rascheln der Unterlagen, die der Mann vor sich sortiert. Schließlich zieht er ihren Lebenslauf daraus hervor, sie sieht ihr makelloses Bild vom Fotografen und die magere Ausbeute ihres Schullebens in Papierform.
Die Fragen beginnen wie in Zeitlupe und ihre Antwort folgt blitzschnell, denn sie kennt die Fragen schon.
Das Gespräch zieht nur nebelhaft an ihr vorbei, die Fragen durchdringen als einzige klare Fragmente das Rauschen in ihren Ohren.
„Was sind Ihre Stärken?“, fragt der Mann routiniert.
„Ich bin ehrgeizig und arbeite produktiv. Außerdem bin ich sehr teamfähig." Sie kommt sich albern vor, wie sie versucht, selbstsicher zu klingen und das Zittern in ihrer Stimme dennoch kaum verbergen kann. Wie sie versucht andere von etwas zu überzeugen, an das sie selbst nicht glaubt.
„Und Ihre Schwächen?"
„Ich bin zu perfektionistisch, ich gebe immer mein Bestes, um alles so gut wie nur möglich zu machen. Außerdem bin ich sehr selbstkritisch, ich denke immer, ich könnte noch besser sein, und versuche auch, das umzusetzen.“ Sie hofft, dass sie überzeugend und ihre Worte nicht auswendig gelernt klingen. Der andere macht Notizen, seine Hand fliegt über das Papier.
„Warum sollten wir ausgerechnet Sie nehmen?“
„Ich bin motiviert und lernfähig, produktiv und zielstrebig.“ Es ist schwer, diese Worte herauszubringen. Sie kommen ihr vor wie leere Worthülsen, zufällige positive Attribute, austauschbar und nichtssagend. Jeder und zugleich niemand könnte sich damit identifizieren.
Die Leere des Raums macht sie schwindelig, der Schreibtisch scheint im Nichts zu stehen, umgeben von blütenweißen Wänden, die den Raum begrenzen und gleichzeitig keinen Halt geben.
„Haben Sie noch Fragen?“
Sie weiß, dass sie nicht zuerst nach Gehalt und Urlaub fragen darf, als wäre es nicht offensichtlich, dass ihre diese Fragen auf der Zunge liegen. Aber sie muss den Schein wahren. Als könnte sie sie tatsächlich täuschen. Produktiv, bereit, am liebsten kostenlos zu arbeiten, und mit einer Motivation, die für 365 Arbeitstage im Jahr reicht.
Aber sie beginnt, ihre Liste abzuarbeiten, interessiert zu sein, die richtigen Fragen zu stellen. Sie hasst ihre Heuchelei und die Männer vor sich, die ihre Menschlichkeit hinter Masken verbergen, aber vielmehr hasst sie sich selbst dafür, dass sie es ihnen gleichtut.
„Vielen Dank. Wir melden uns die nächsten Tage.“ Die Männer stehen auf und sie bedankt sich, reicht beiden die Hand und erschrickt vor deren Kälte. Erneut blickt sie auf die silberne Uhr. Es ist kaum Zeit vergangen.
Schnell nimmt sie ihre Tasche, schlüpft in ihre Jacke und flüchtet aus dem Raum. Sie weiß schon, dass sie erneut einen kurzen, höflichen Absagebrief erhalten wird. Aber sie weiß wieder nicht, warum.

 

Hallo Bluebirthday

sei gegrüßt hier :)
jetzt bin ich über deinen kurzen Text gestolpert und bevor ich mich an die frische, würzige Herbstluft begebe, noch ein paar Anmerkungen dazu.
Nun ja: eine Geschichte ist das irgendwie nicht. Eine Frau bei einem Vorstellungsgespräch und das war es im Grunde schon. Gut, sie hat das Gefühl, dass es sinnlos ist, dass sie nicht sie selbst sein darf und dass sie eine Absage bekommen wird. Und gut, es sind einige feine Beobachtungen enthalten und es liest sich ganz angenehm. Aber eine Geschichte? Eher doch ein Bericht oder ein Tagebucheintrag, aus dem ich wenig mehr als eben diese Beobachtungen mitnehme.

Im einzelnen:

darüber ragt ein stolzer Nacken
wie sieht denn ein stolzer Nacken aus?

Nur seine Augen haben eine andere Farbe, sie sind heller, wie Eis.
Tragen die Männer unterschiedliche Krawatten? Und überhaupt: wie stelle ich mir sie vor?

Sie faltet ihre Hände nervös über dem Tisch und versucht, sie stillzuhalten, versucht, Blickkontakt aufzubauen, freundlich zu lächeln. Das einzige Geräusch ist das Ticken der silbernen Uhr an der Wand und das Rascheln der Unterlagen, die der Mann vor sich sortiert.
gut beschrieben finde ich:)

makelloses Bild
wie stelle ich mir ein makelloses Bild vor?

Wie sie versucht andere von etwas zu überzeugen, an das sie selbst nicht glaubt.
warum?

„Ich bin zu perfektionistisch, ich gebe immer mein Bestes, um alles so gut wie nur möglich zu machen. Außerdem bin ich sehr selbstkritisch, ich denke immer, ich könnte noch besser sein, und versuche auch, das umzusetzen.“
da erkennt jeder Personaler dass es eine antrainierte Antwort ist:)

Die Leere des Raums macht sie schwindelig, der Schreibtisch scheint im Nichts zu stehen, umgeben von blütenweißen Wänden, die den Raum begrenzen und gleichzeitig keinen Halt geben.
schön...

Sie hasst ihre Heuchelei und die Männer vor sich, die ihre Menschlichkeit hinter Masken verbergen, aber vielmehr hasst sie sich selbst dafür, dass sie es ihnen gleichtut.
nette Beobachtung, nur wir alle tragen Masken, reiß sie ihr runter in deiner Geschichte und mach daraus dadurch eine Geschichte!

Bleib dran, Empathie und die Fähigkeit zur Beobachtung und zum Ausdruck ist keine schlechte Grundlage, nur eine Kurzgeschichte ist das noch nicht.

viele Grüße
Isegrims

 

Hallo Bluebirthday,
herzlich willkommen hier.
Das Ende ist total vorhersagbar. Ich hatte auf was Aussergewöhnliches gehofft.

Aber sie weiß wieder nicht, warum.
Das ist natürlich nicht gut. Die Protagonistin scheint sich immer bei den falschen Firmen oder Behörden zu bewerben.
Sie weiß, dass sie nicht zuerst nach Gehalt und Urlaub fragen darf, als wäre es nicht offensichtlich, dass ihre diese Fragen auf der Zunge liegen.
Genaus das hätte sie mal fragen sollen. Dann hätte Sie nachher eine bessere Stimmung und wäre besser informiert.
Ich bin ehrgeizig und arbeite produktiv. Außerdem bin ich sehr teamfähig.
Irgendwie langweilig. Das sagen doch alle von sich.
Ich schlage Dir vor, Du gibst Deiner Protagonistin irgendwas Besonderes. Humor, unerwartete Ehrlichkeit; sie sagt den Typen, dass sie eine krumme Nase haben, und ihre Firma oder was auch immer, in besseres und schöneres Personal investieren sollte. Aber bitte gib der Geschichte ein anderes Ende. Die Frau wird eingestellt, weil sie gerade so fein nach Schweiss riecht. Denk Dir was aus. Ich bin gespannt.
Viele Grüsse
Fugu

 

Liebe Bluebirthday,

ich muss mich anschließen - Deine Geschichte ist noch nicht fertig. Es fehlt eine Wendung, ein Überraschung - aber Du hast ja bereits beste Voraussetzungen dafür geschaffen, diese Überraschung einzubauen!

Deine Protagonistin hat das Spiel schon diverse Male gespielt - Vorstellungsgespräch nach Schema x, ein feuchter Händedruck, kurz darauf die Absage. Sie findet keinen Weg in ihren Beruf, vielleicht geht ihr langsam die Kohle aus und ihr steht das Wasser bis zum Hals. Total ungeeignet scheint sie ja auch nicht zu sein - immerhin wird sie immer wieder zum Interview eingeladen! Sie hat die Schnauze voll, zweifelt an sich, spult nur noch auswendig gelernte Phrasen ab, die wie aus einem längst überholten Ratgeber klingen. Wie lange spielt sie also noch mit, bis sie ihre Strategie ändert?

Dabei könnte ihr zum Beispiel mitten im Gespräch der Kragen platzen, sie fängt an zu fluchen, schmeißt ihre Tasche quer durchs Büro und fragt die Personaler, was zur Hölle an ihr denn Bitte nicht stimmt. So viele Möglichkeiten!

Noch eine kurze Anmerkung:

Mit trockenem Mund setzt sie sich, während er um den Tisch herumgeht und sich auf der anderen Seite niederlässt. Neben ihm sitzt bereits ein weiterer Mann, der denselben Anzug trägt.
Der zweite Mann kann zwar den gleichen (eine Kopie, einen ganz genau gleich aussehenden Anzug), keinesfalls aber denselben Anzug tragen - den trägt ja bereits der erste Mann.

Frohes Schreiben,

Gruß
Rose

 

Liebe Isegrims, Fugusan, Feuerwanze und RoseParker!

Da ich das mit dem Zitieren von einzelnen Kommentaren noch nicht so raus habe, antworte ich euch allen allgemein:

Vielen Dank erst einmal für eure Kommentare und Ratschläge! Sie haben mir wirklich einen neuen Blickwinkel auf die Geschichte gegeben.
Was ihr alle kritisiert habt, ist die Vorhersehbarkeit und Langeweile, woran ich vorher eigentlich gar keinen Gedanken verschwendet habe.
Denn es ging mir ursprünglich nur darum, die Gefühle und das wiederholte Scheitern der Protagonistin trotz ihrer Anstrengungen darzustellen, und ich habe gar nicht daran gedacht, dass etwas Unerwartetes passieren könnte oder dass eine Pointe fehlt.
Das kommt mir jetzt im Nachhinein selbst etwas dumm vor, denn die paar Sätze machen wirklich noch keine Kurzgeschichte.

Ich werde mir eure Kritik zu Herzen nehmen und versuchen, nächstes Mal mehr herauszuholen.

Liebe Grüße,
bluebirthday

 

Hola Bluebirthday,

Das Gespräch zieht nur nebelhaft an ihr vorbei, die Fragen durchdringen als einzige klare Fragmente das Rauschen in ihren Ohren.

Das ist ein toller Satz! Entweder steckt viel Sorgfalt drin oder Du bist ein großes Talent. Oder ein Talent, das sehr sorgfältig arbeitet. (Das ’nur’ ist nicht nötig.)
Das würde auch die Kürze Deiner Geschichte erklären. Sie zeigt, dass viel Inhalt mit wenig Worten transportiert werden kann. Du umreißt ein Riesenfeld mit all den anstehenden Befindlichkeiten, die unsere Gesellschaft prägen. Durch die nüchterne Beschreibung dieses Vorstellungsgesprächs umgehst Du alle Fettnäpfchen der zu oft gehörten, gelesenen Zeitkritik, Kapitalismuskritik – was weiß ich. Das ist eine schöne Studie der üblichen Abläufe. Oh – Oh!! Das sollten wir mal überdenken.
Auch wenn ich keine Kurzgeschichte lese, hat mir Dein Text ausnehmend gut gefallen; ich empfand ihn als sehr gelungen. Er regt auch zum Sinnieren an, über das Spielchen, das wir alle mitmachen, erdulden, verachten.

Der Hammer ist:

„Was sind Ihre Stärken?“, ...
„Und Ihre Schwächen?" –
und die Antworten darauf! Das empfand ich als Volltreffer ( und ein furchtbarer Verdacht stieg in mir auf – auch wegen der authentischen Sprache: Du kommst aus diesem Panorama, vielleicht sogar von jener Seite, die ...)?

„Warum sollten wir ausgerechnet Sie nehmen?“

Schon hundertmal gehört – immer wieder klasse! Hinter manchen Schreibtischen sitzen Leute – die muss man einfach lieb haben.

... leere Worthülsen, zufällige positive Attribute, austauschbar und nichtssagend. Jeder und zugleich niemand könnte sich damit identifizieren.

Auf den Kopf des Nagels! Leider jeden Tag aufs Neue. Mit jedem Satz habe ich mehr Spaß an Deinem Text – nicht an Deiner Geschichte.


Ein paar belanglose Randbemerkungen:

... als wäre es nicht offensichtlich, dass ihr(e) diese Fragen auf der Zunge liegen.

Die Männer stehen auf und sie bedankt sich, reicht beiden die Hand und erschrickt vor deren Kälte. Erneut blickt sie auf die silberne Uhr. Es ist kaum Zeit vergangen.

Hier sind mir die eiskalten Hände dieser Blödiane zu klischeehaft.
Der Blick auf die Uhr hingegen ist großartig, sehr treffender Wink Richtung Effizienz.

... und flüchtet aus dem Raum.

Gut gesagt. Flüchtet wohin? Ich hoffe, sie weiß es. Aussteiger lassen grüßen, tun so, als ob das ganz einfach wäre. Viele müssen zurückrudern und die alten Verhaltensweisen wieder annehmen / akzeptieren, wenn auch schmallippig.

Jetzt kommen wir zum Schluss:

Sie weiß schon, dass sie erneut einen kurzen, höflichen Absagebrief erhalten wird.

Hier hakelt’s ein bisschen bei mir. Sie weiß schon ... und trotzdem tut sie sich das an? Aber bei diesem Vor - Wissen macht doch die ganze Show keinen Sinn?

Aber sie weiß wieder nicht, warum.
Hier wüsste ich mehrere mögliche Antworten – was die richtige ist, weiß ich leider nicht.

Ich grüße Dich und danke Dir für dieses lesenswerte Schmuckstück.

José

 

Lieber José,

ich freue mich sehr dass dir der Text so gut gefallen hat! Auch wenn er dadurch immer noch keine Kurzgeschichte wird, aber ich glaube, du ihn genauso aufgefasst, wie ich ihn herüberbringen wollte.

Noch kurz zum Schluss:
Sie gibt jedes Mal aufs Neue ihr Bestes, indem sie trotz ihrer Zweifel versucht, perfekte Antworten zu geben, aber dennoch versagt sie immer wieder und merkt das schon während des Gesprächs.
Ich hoffe, das macht es verständlicher.

Danke jedenfalls für deine positive Rückmeldung, sie hat mir neuen Antrieb gegeben :)

Liebe Grüße
Bluebirthday

 

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