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Ungeboren

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24.06.2001
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Ungeboren

Es war an jenem Tage vor vielen Jahren, als gerade der erste Schnee gefallen war. In der Luft lag die erste bittere Kälte des Winters, als sie in ihr Auto stieg und die Standheizung einschaltete. Ihr war entsetzlich kalt und geistesabwesend wischte sie sich ein paar Schneeflocken aus dem Haar. In Gedanken war sie schon wieder längst bei ihrer Arbeit, sie war Sekretärin eines Anwalts in Manhattan. Ihre Personalakte bei Rude and Stanley, der Anwaltskanzlei in der sie arbeitete, wies sie als Ruth Berlingetty aus. Alter 25 Jahre, blond, unscheinbar, wie jede andere New Yorkerin auch. Der alte Ford, den sie vor wenigen Jahren bei einem der zahllosen Gebrauchtwagenhändler erworben hatte, schien die Kälte im Winter genauso wie die Wärme im Sommer zu speichern. Der Wagen begrüßte sie mit einem kühlen Atemhauch. Fahrer- und Beifahrersitz waren abgenutzt und sie hätte sie wohl längst ausgetauscht, wenn sie genügend Geld gehabt hätte. Irgend etwas sagte ihr, dass dies ihr letzter Tag sein würde. Sie wusste: Es muß sein. Ihre Eltern wollten nichts mehr von ihr wissen, seit sie mit siebzehn Jahren schwanger geworden war. "Weißt du, was du bist?" hatte ihre Mutter sie gefragt. "Du bist eine billige kleine Schlampe! Entweder du lässt es wegmachen, oder wir sehen uns nie wieder!" Sie hatte "es" tatsächlich entfernen lassen, ein Schritt, der ihr alles andere als leicht gefallen war. Immer wieder kamen ihr Zweifel, wenn sie an den Eingriff dachte und an das Kind, ihr Kind, das es nicht mehr gab, das nie die Sonnenaufgänge mit ihr genießen, nie die verpestete Luft New Yorks riechen, nie nach ihrem unbekannten Vater fragen konnte. Ob es ihr wohl ähnlich gesehen hätte? Sie hätte so gerne noch einmal die Sterne am Nachthimmel gesehen. Was hatte sie nur getan? An dunklen Regentagen quollen die unzähligen Fragen aus ihrem Bauch hervor, um sie zu quälen und immer dann war sie allein in ihrer kleinen Wohnung und heulte und klagte den kahlen Wänden ihr Leid. Sie hatte es wegmachen lassen, aber sie war auch nicht zu ihren Eltern zurückgekehrt, als wäre nichts geschehen. Sie wusste, dass es das beste für sie alle war. Mit der Zeit hatte sie herausgefunden, wie man mit Problemen umgeht. Sie tat es ihrem Vater gleich und immer wenn die Fragen wiederkehrten, ging sie zum Schrank, zog eines der Bücher aus dem Bücherbord hervor und tastete dahinter nach einer Flasche Whisky. Dann öffnete sie sie, setzte die Flasche an die Lippen und ließ die Flüssigkeit die Kehle hinabrinnen. Und sie trank und trank, bis die Gedanken an die Vergangenheit, bis alle Gedanken verschwunden waren und sie die beruhigende Wärme in sich aufsteigen fühlte. "Auf das Leben!" schrie sie dann und steckte sich eine Zigarette in den Mund mit den viel zu roten Lippen, um sich die Seele aus dem Leib zu husten. Sie vertrug Zigaretten nicht. "Beschissenes Leben!" keuchte sie oft, wenn ihr Zigarettenqualm in die Augen geriet. Manchmal sang sie dann aus voller Kehle und von Zeit zu Zeit riefen die Nachbarn an, um zu fragen, ob alles in Ordnung sei, ob es ihr gut gehe. Doch es gelang ihr gewöhnlich nur selten, den Telefonhörer abzunehmen. Alles bewegte sich, nichts wollte stillstehen und das gefiel ihr, es gefiel ihr sogar sehr. Es war ein wenig wie Schwerelosigkeit, ihr eigener Flug durch das Leben. "Verfluchtes Leben!" Wenn sie sich noch auf den Beinen halten konnte, ging sie, wenn sie es nicht mehr konnte, kroch sie ins Badezimmer, um sich zu übergeben. Das Pochen in ihren Schläfen wollte einfach nicht aufhören, nicht von ihr ablassen und selig wie ein Kind am Heiligen Abend wartete sie darauf, dass ihr Kopf zerbersten möge. Doch er zerbarst nicht. Er zerbarst nie. Dann weinte sie wieder, Tränen platschten schwer auf die Fliesen im Bad und sie wischte sich das Erbrochene von den Lippen, doch der bittere Geschmack im Mund blieb. Manchmal stand sie sogar auf und betrachtete sich selbst im Spiegel: das Make-up verlief wie schwarze Tinte und bildete Rinnsale, die sich ihren Weg durch das zarte Gesicht bahnten. Falten lagen schwer um ihre Augen, als wollten sie ihr sagen: Schau, sieh dich an! Was ist nur aus dir geworden? Und dann hatte ihr Gesicht immer die Stimme ihrer Mutter. Selbst ihr Gesicht hatte sich gegen sie gewandt! Und ihre Freunde? Was sind schon Freunde? Sie waren gekommen und sie waren wieder gegangen. Früher oder später hatte sie alle zum Teufel geschickt. "Alle", murmelte sie vor sich hin, "Alle". Ihre eigenen Augen blickten ihr wortlos, aber doch mahnend aus dem Spiegel entgegen, rot und blutunterlaufen, die Augen einer alten Frau. Eine Frau, die um sich selbst und um ihr eigenes Schicksal trauert, um den Zauber der Jugend, ein großes Kind, dessen Sandburg in sich zusammengefallen ist. Durch die Wände konnte man ihr Jammern und Schluchzen und Heulen nicht hören. Doch man konnte ihre Stimme hören, wenn sie fast vergessene Kinderlieder aus ihrem Hirn zusammenkramte und sang - mit einer Stimme, die die Sonne vom Himmelszelt verjagt und stille leere gedankenlose Nacht zurückgelassen hätte, doch in ihrem Leben gab es keine Sonne, nur alles umgebende Mutlosigkeit. Tage reihten sich endlos aneinander und kaum hatte sie die nächste Flasche geöffnet, lag schon ein neuer Tag in den Geburtswehen und verdrängte die Nacht. Es widerte sie an. Manchmal führte sie endlose Monologe und räumte wild die Gläser aus den Schränken, so dass sie zersplitterten und wie glitzernde Diamanten am Boden lagen. "Scherben bringen Glück!" rief sie dann lachend, ein hysterisches, freudloses Lachen. Einmal hatten die Nachbarn die Feuerwehr rufen müssen, als sie im Alkoholrausch die Herdplatten in der Küche angestellt hatte und schlafen gegangen war. Die Küche war damals vollkommen verkohlt gewesen und die Rufe der Retter waren unbeantwortet geblieben. Wenn sie schlief, schlief sie!
Und nun? Nun saß sie in ihrem alten Ford und lauschte andächtig dem dumpfen Dröhnen der Lausprecher, aus denen fast vergessene Kinderlieder drangen. So schien es zumindest, wenn man sorglos an dem Wagen vorüberging. Sie trug noch ihre Tanzschuhe von letzter Nacht, als sie auf dem Balkon ihrer Wohnung im Regen gestanden und lauthals gesungen und getanzt hatte, getanzt bis zum Morgengrauen. Nicht einmal ihre Nachbarn riefen mehr an, um sich nach ihr zu erkundigen. Sie galt als verrückt und Mütter begleiteten ihre Kinder zur Schule, wenn sie auf dem Weg an ihrem Haus vorbeigehen mussten. Die Wolken waren wiedergekommen und mit ihnen die Stimmen, die sich immer wieder in ihre Seele bohrten, wieder und immer wieder - unaufhaltsam - und sie gefragt hatten:"Warum nur, Mami? Warum?" Sie war aus dem Haus gestürzt, ohne die Tür zu verriegeln. Die verrostete Fahrertür stand nun offen und noch ragte ein Bein heraus und ein Fuß, an dem locker ein Tanzschuh hing. Das Fahrerfenster hatte sie ein Stück weit hinuntergekurbelt, um den Schlauch hindurchzuschieben, den sie an den Auspuff des Wagens angeschlossen hatte. So viel Erfindungsreichtum hätte sie sich selber kaum zugetraut. Ein umsichtiger Mensch hatte wohl irgendwann die Autotür geöffnet und den Zündschlüssel herumgedreht, um den Motor zum Verstummen zu bringen und danach die Polizei gerufen. Aber es war bereits zu spät. Alles war ruhig und nur ein paar Nachbarn standen ungläubig mit neugierigen Gesichtern um den Ford herum, um ihren Kindern davon erzählen zu können, wenn sie alt waren. Neben der Toten lag eine leere Whiskyflasche, ein Bleistift und ein Notizblock, auf dem Ruth eine unleserliche Botschaft hinterlassen hatte: Mami hat dich lieb!
In ihrer Tasche trug sie 17 Dollar und 58 Cent, ein Fläschchen Nagellack, roten Lippenstift, naß geheulte Taschentücher, ein Kinderfoto von sich selbst und ihren Ausweis bei sich. Ruth Berlingetty, 25 Jahre, blond, Augenfarbe blau, Größe 1,75 m, Geschlecht weiblich. Unscheinbar, wie jede New Yorkerin auch. In der Kanzlei war ihr Fehlen lange unbemerkt geblieben und als man von ihrem Schicksal erfuhr, wurden Schultern gezuckt, Witze gerissen, Beileid geheuchelt, "Die arme Frau!", und ihre persönlichen Daten auf dem Aktenfriedhof begraben, die Stelle neu besetzt. Wenn ich heute an ihrem Haus vorübergehe, so weiß ich, dass Menschen ersetztbar sind. Kaum jemand, der an der Stelle, an der ihr Auto mit laufendem Motor stand, vorbeikommt, hält an. Manche zeigen ihren Kindern mit ausgestrecktem Finger den Ort, manche verdrängen die Gedanken und manche zucken mit den Schultern. Das Leben geht weiter.

 

Du hast die Hauptperson sehr lebendig charakterisiert. Begründend, wie die Gedankengänge entstehen. Da gibt es zahlreiche Beispiele...

Der alte Ford, [..] schien die Kälte im Winter genauso wie die Wärme im Sommer zu speichern.
Eine Reflexion auf ihre Lebenssituation, die gut hergeleitet wird. Ihre Gedankengänge in der Geschichte gehen sogar soweit, dass sich daraus ihr Schicksal zeichnet.
Schau, sieh dich an! Was ist nur aus dir geworden? Und dann hatte ihr Gesicht immer die Stimme ihrer Mutter. Selbst ihr Gesicht hatte sich gegen sie gewandt!
Es ist ihre gegenwärtig unvergessliche Vergangenheit die ihre Zukunft prägt. Schliesslich zweifelt sie von allen verlassen (auch von ihren besorgten Nachbarn) an sich selbst und was dann passiert ist ein trauriges Ende. Nämlich, dass scheinbar jedes Lebewesen ersetzbar sei. Gerade das ist ein gefährlicher Grad für Depressionen, wenn es nämlich zwischen Leben und Tod kaum noch Unterschiede gibt.

Im Laufe der Geschichte stellt sich immer wieder diese Schlüssel-Diskrepanz heraus...

wieder und immer wieder - unaufhaltsam - und sie gefragt hatten:"Warum nur, Mami? Warum?"
Diese Distanz zwischen Mutter und Tochter (ihr Kind und ihre Mutter) waren der Anfang und das Ende dieser Geschichte.

Was sind schon Freunde? Sie waren gekommen und sie waren wieder gegangen.
In der Geschichte wird zudem noch die Frage nach Freundschaft gestellt. Kennzeichnen sich Freunde nicht daraus in den schwierigsten Situationen Verständnis zu zeigen und zu einem zu halten?

Ein wirklich lesenswertes Stück, so das sich der leser automatisch Gedanken macht, über die Ursache/Folgen eines jeden Lebens. <IMG SRC="smilies/thumbs.gif" border="0">

 

Hallo Toby,

die Geschichte hat mich sehr beeindruckt. Hier wird wie mit kühnen Pinselstrichen ein Lebensbild entworfen, glaubhaft und realistisch. Die vielen Details geben dem Ganzen einen festen Rahmen und geben dem Text eine unerhört dichte visuelle Wirkung, der man sich beim Lesen nicht entziehen kann.

Das virtuose Beschreiben, mit dem Du die Frau zeichnest, scheint mir daher durchaus mit der Pinselführung eines geübten Malers vergleichbar. Zwei Beispiele als Beleg: die Rinnsale, die sich im Gesicht durch das zerfließende Make-up bilden, oder die Sandburg, die in sich zusammengefallen ist. Viele anderen Einzelheiten wären noch erwähnenswert. Entscheidend ist, dass nichts aufgesetzt wirkt und dass man beim Lesen ohne Mühe von Satz zu Satz gleitet, die Bilder in sich aufnimmt und zugleich eine spannungsvolle Dramatik empfindet, obwohl das Geschehen selbst eigentlich nicht die Hauptsache ist.
Der Schlussgedanke, "so weiß ich, dass Menschen ersetzbar sind", scheint den Widerspruch des Lesers bewusst herauszufordern. Er ist sicher provozierend gedacht. Denn durch die ganze Geschichte hindurch fühlt man, dass eben ein menschliches Individuum wie diese Frau, so heruntergekommen sie schließlich auch sein mag, eben doch unverwechselbar ist, in ihrer Individualität unersetzlich. Sie ist an den tiefen Verletzungen, die die erzwungene Abtreibung in ihr hervorgerufen hat, zugrunde gegangen.

Ein guter Text!

Hans Werner

 

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