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Unfrei

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26.02.2003
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Unfrei

Sitz doch still. Junge, ich kann nicht denken, wenn Du so herumzappelst!
So ist es besser. Also gut, dies ist die Geschichte von dem, was Wilbur, den man heute als den Zeugen kennt, einst widerfuhr:
Vor ewig langer Zeit, als die Menschen noch nichts vom großen Geist wussten und die Götter noch jung und wütend waren, lebte dieser Wilbur als Köhler tief in dem Wald, der im Osten gleich hinter den Stadtmauern beginnt und sich weit bis dort hinaus erstreckt, wo die Sonne jeden Morgen ihre Reise beginnt.
Wilbur lebte allein in einer winzigen Kate, doch fühlte er sich selten einsam. An den Tagen wanderte er durch den Wald und schlug Holz, brannte Kohle in seinen Meilern und trieb Handel mit jedem, den er auf der großen Königsstraße traf, ganz gleich, welchen Volkes oder Glaubens er war. Des Nachts räucherte er Fleisch für die Winter, flickte seine wenigen Kleider und schnitzte auch bisweilen, genauso wie Dein Vater, weißt Du?
Auf diese Weise verlebte Wilbur also seine Tage in Frieden und Abgeschiedenheit.
Er hatte nun schon eine lange Strecke auf dem Weg seines Lebens abgeschritten und war mit den Wesen seines Waldes so vertraut, wie Du und ich es mit den Menschen in unserer Stadt sind, als er eines Tages den Weg nach Hause nicht mehr finden konnte.
Es war früh im Winter und es dunkelte bereits, als er sich auf den Heimweg machen wollte, den er gut kannte; kam er doch seit einiger Zeit beinahe jeden Tag einmal in diesen Teil des Waldes. Hier brannten die Meiler, in welchen er Schwarzeschenkohle gewann, die beste Kohle, die es in diesem Teil der Welt gibt, denn sie glüht so hell und heiß wie das Herz eines Drachen. Die Könige und Fürsten wollen keine andere.
Ein letztes Mal hatte Wilbur also an jenem Tag sein Werk gepflegt und folgte nun dem Wildpfad, der ihn, wie er wusste, Heim führen würde, als ihm etwas seltsam anmutete. Jener Felsen dort war ihm unbekannt. Und auch ein Tümpel wie dieser lag nicht an seinem gewöhnlichen Wege. Zwar wunderte sich Wilbur sehr, doch dachte er sich noch nichts dabei, machte auf dem Absatz kehrt und schritt den gleichen Weg zurück.
Doch gleich darauf endete sein Pfad in einem Dornengestrüpp. Dies erschreckte ihn außerordentlich, denn er war ja kurz zuvor noch dort gegangen. Weil das Gesträuch jedoch kein Durchkommen zuließ, machte er zögernd wieder kehrt und folgte mit bangem Herzen dem Weg in seiner ursprünglichen Richtung.
Es ging bis in die tiefe Nacht und nur das bleiche Mondlicht, das zart durch die Baumkronen fiel, erhellte seine Wanderung. Immer tiefer wand sich der Weg in den Wald hinein, an Sümpfen entlang, die er noch nie gesehen hatte, und zwischen knorrigen schwarzen Bäumen hindurch. Ein jedes Mal, wenn er einen Blick über seine Schulter auf den Weg hinter sich warf, da sah er nur dornige Sträucher und dichtes Rankengewirr, wo er im Augenblick zuvor noch den Fuß gesetzt hatte.
Hinterher wusste er nicht mehr zu sagen, wie lange er solcherart durch den immer fremderen Wald geirrt war, es mögen wohl Stunden gewesen sein, bis er plötzlich auf einer kleinen Lichtung stand.
Es war ein Ort, der von jedem Leben verlassen worden war. Das Gras, braun und schwarz verdorrt, griff rau nach seinen Beinen, kein Tier regte sich zwischen den Halmen und nur ein schaler, stinkender Wind hauchte darüber hinweg. Wilbur hatte noch nie einen Ort wie diesen gesehen, noch auch nur davon gehört.
Und dort, mitten in diesem Geschwür des Waldes, stand eine Gestalt, hochaufgeschossen und regungslos, aber so klapperdürr, daß die Knochen fast durch ihren schwarzen Mantel stießen, wenn ein Luftzug ging. Und dieses Wesen streckte gar eine Hand nach ihm aus und winkte ihn mit seinem knochigen Finger heran.
Entsetzliche Angst ergriff von Wilbur Besitz, doch er wagte es nicht zu fliehen, sich dem Befehl des unheimlichen Fremden zu widersetzen. Stattdessen begannen sich seine Beine wie von Geisterhand geführt zu bewegen und trugen ihn unerbittlich auf die Lichtung hinaus. Erst als er den schwarzen Mantel, von dem der Geruch nach Krankheit und Gruft ausging, schon fast berühren konnte, durfte er innehalten. Wilbur konnte dem anderen nicht ins Gesicht sehen, das im Schatten einer Kapuze aus derbem Wolfspelz lag, doch er spürte den kalten Blick seiner Augen.
Sehr lange dauerte diese Musterung, nichts rührte sich auf der Lichtung, kein Laut kam aus dem Wald. Selbst der Wind hielt den Atem an.
"Du wirst der Zeuge sein," grollte das Wesen plötzlich.
Wieder schob sich die ausgemergelte Hand aus den Falten des Umhangs und streckte sich ihm entgegen. Doch diesmal hielt sie etwas, etwas Rundes und Weißes, das Wilburs Hände lockte. Es zwang seine Arme nach oben und schloss seine Finger darum.
Es war ein Menschenschädel. Nicht größer als der eines Kindes lag er in seinen Händen, so zart und zerbrechlich wie Eierschalen. Der untere Kiefer war ihm genommen worden, doch ansonsten war kein Makel daran. Verständnislos und von kalter Angst erfasst blickte wollte Wilbur dem unheimlichen Fremden ins Gesicht sehen, ihn fragen, was vor sich ginge, aber als er den Kopf hob, stand der andere wohl zwei Dutzend Schritte von ihm, so starr und unbeugsam, als wäre er dort aus dem Boden gewachsen.
Und während Wilbur noch an dem zweifelte, was seine Augen ihm zeigten, schien es, als rührte sich etwas in seinen Händen. Der Schädel war schwerer geworden, größer auch und im nächsten Augenblicke schon hielt er eine junge Frau in den Armen. Sie war klein, reichte ihm kaum bis ans Schlüsselbein, mit wilden, braunen Haaren und lodernden grünen Augen in einem wachsweißen Gesicht. Ihr efeugrünes Kleid wirbelte um die bloßen Füße, als sie sich schroff Wilburs Armen entwand und mit stolz erhobenem Kopf über die Lichtung schritt, weder ihn noch den stummen Unbekannten mit auch nur einem Blicke würdigend.
Starr vor Angst wich Wilbur bis an den Rand der Lichtung zurück und drückte sich zitternd ins Unterholz. Lange Zeit, so schien es ihm, regte sich nichts auf der Lichtung und im stummen Wald.
Plötzlich teilte sich das Dornengestrüpp keine drei Schritte zu seiner Rechten und ein Mann trat hervor. In den Händen hielt er eine riesige Armbrust, um seine Hüften lag ein schwerer Gürtel, in dem mehr Messer und Werkzeuge steckten, als Wilbur in seinem ganzen Leben je gesehen hatte, und an seinen Seiten hingen daran zwei Köcher, bis an den Rand gefüllt mit Bolzen.
Die drei Wesen, der Mann aus dem Wald, die bleiche Frau und der Schwarzgewandete, gingen gemessenen Schrittes aufeinander zu, bis sie in der Mitte der mondbeschienenen Fläche verharrten, zu weit voneinander, um sich zu berühren, doch nahe genug, um einige seltsame Worte zu wechseln. Obwohl Wilbur wohl an die zwanzig Schritte von ihnen entfernt kauerte, konnte er ein jedes Wort von ihnen verstehen. Dieses Gespräch brannte sich in sein Gedächtnis ein und verfolgte ihn den Rest seines Lebens, trotzdem er seinen Sinn nicht zu ergründen vermochte.
Aus den Tiefen der schwarzen Kapuze kollerten die Worte: "Ihr seid gekommen."
"Es ist wieder an der Zeit", erwiderte der Schütze, "Ein weiteres Mal müssen wir Rechenschaft ablegen."
Die Stimme der Frau ließ sich kaum vernehmen, doch sie war so voller Verzweiflung, daß sie Wilburs Herz anrührte: "Ich wünschte nur, wir hätten mehr Zeit."
"Es beginnt", flüsterte der Hagere in seinen Umhang.
Eine unsichtbare Hand schien ihn zu ergreifen, er richtete sich zu voller Größe auf, schlug den schwarzen Mantel zurück, so daß ein Breitschwert zum Vorschein kam, auf dem Flecken von frischem Blut glänzten, und rief mit donnernder Stimme: "Im Namen Granars, des höchsten Gottes, befehle ich Euch: schwört Euren schwachen Götzen ab und unterwerft Euch ihm, dem obersten Kriegsherren, oder sterbt von meiner Hand!"
"Niemals darf ein Gott der Zerstörung über die Kinder Enerias, der hohen Göttin, herrschen!" antwortete die junge Frau mit mächtiger Stimme, "Wende Dich von Deinem Herrn des Todes ab und folge der großen Mutter, sonst ist Dein Ende besiegelt!"
"Fehlgeleitet seid Ihr", rief der Schütze, "Denn Tod und Leben müssen sich beide dem reinen Wissen unterwerfen. Nur Katertes, der Hüter der Weisheit, kann Eure Existenzen noch erretten!"
Das Breitschwert fuhr singend aus der Scheide und glitzerte im Mondlicht. "Werdet Ihr Euren Götzen abschwören und Granar folgen, oder wollt Ihr untergehen?" rief der Hagere. Aus den Falten ihres Kleides zog die Frau zwei kleine Päckchen, die in ihren Händen mit geisterhaftem Licht glühten. "Die Feinde Enerias müssen von ihrem Antlitz getilgt werden!" rief sie.
"Wenn Ihr weiter Eurem unwürdigen Glauben anhängt, ist es meine Pflicht, Euch zu erlösen", rief der Schütze und hob die gespannte Armbrust an die Schulter.
Mit einem unmenschlichen Aufschrei voll Pein und Wut warf sich der Schwarzgewandete in den Kampf, das Schwert weit über den Kopf erhoben. Im selben Augenblick schleuderte die Frau ihm schon die glühenden Geschosse entgegen. Sie trafen den Voranstürmenden auf die Brust und überschütteten ihn mit brodelnden Säuren. Der Geruch nach Fäulnis und Gift waberte durch die Luft. Kaum einen Herzschlag darauf löste sich der Schuss der Armbrust und traf sie mitten ins Herz. Sie war noch nicht einmal in das verdorrte Gras gesunken, da fuhr das Schwert herab und trennte dem Schützen den Kopf vom Rumpf.
Wilbur barg das Gesicht in den Händen und wandte sich schaudernd von dem Bild der Vernichtung ab, das sich ihm auf der Lichtung darbot. Erst als er eine Stimme hörte, schwach und vom Versiegen des Lebens gezeichnet, wagte er wieder einen Blick.
Nur noch der Fremde im schwarzen Umhang kniete einsam auf der Lichtung; von den anderen war kein Zeichen mehr zu entdecken. Ein seiner ausgemergelten Hand hielt er wieder den Schädel. In dessen noch so kurz zuvor makellosen Antlitz klaffte nun eine schwarze Zahnlücke. Behutsam, fast andächtig, fuhr der Finger des Fremden über jede Knochenplatte, ertastete jeden einzelnen Zahn. Ein Seufzen entwich den Schatten seiner Kapuze und mit seinem letzten Atemzug hauchte er die Worte: "So lange noch, so lange."
Tränen füllten Wilburs Augen und bitteres Mitleid schnürte ihm das Herz zusammen.
"Warum," schluchzte er, "warum müsst Ihr Euch das antun?"
"Weil sie es nicht besser wussten", sagte eine sanfte Stimme neben ihm. Wilbur erschrak furchtbar, glaubte er sich doch jetzt allein. Es war auch niemand außer ihm dort, nur die Stimme hörte er, die ihm erklärte: "Sie alle glaubten, richtig zu handeln. Und keiner, weder sie noch ihre Götter, ist fähig, seine Taten zu ändern."
"Aber wer bist Du?" fragte Wilbur, "Kannst Du ihnen nicht helfen?"
"Ich bin nur ein Geist, nicht mehr. Wenn Menschen leiden, muß auch ein Mensch ihnen helfen. Ich kann nur vermitteln."
"Wenn ich könnte, ich würde mein Leben geben, ihnen zu helfen", schluchzte Wilbur.
"Ist es Dein Ernst?" fragte der Geist, "Willst Du wirklich die Dir verbleibenden Jahre opfern, um jene drei aus ihrem Elend zu befreien?"
"Das will ich", schwor Wilbur.
"Dann soll es sein!" jubelte der Geist, "Durch Dich wird der Zwist entschieden werden und die Seelen der drei ihre Ruhe finden."
Ängstlich fragte Wilbur: "Was wird nun mit mir? Wie soll ich mein Leben geben?"
"Hab keine Angst", antwortete der Geist ihm, "Dir wird nichts geschehen. Doch denke immer an das Versprechen, das Du mir gegeben hast und handele danach."
Und mit diesen Worten schwieg der Geist, doch Wilbur fühlte, daß er nicht völlig gegangen war.
Überwältigt von dem Geschehenen sank er auf die Knie und betete.
Eine lange Zeit verharrte er regungslos auf jener Lichtung, überdachte das, was ihm widerfahren war, und dankte dem Einen Geist. Erst als der nächste Morgen dämmerte und nach und nach das Leben in jenen Teil des Waldes und sogar auf diese Lichtung zurückkehrte, erhob er sich wieder. Seine Gedanken waren noch immer nicht ganz bei ihm, doch fand er den Heimweg wie von unsichtbarer Hand geleitet.
Noch am selben Abend verließ er seine Kate für immer und machte sich, nur mit einem schmalen Bündel auf dem Rücken, auf, anderen Menschen von Dem Geist zu berichten.
Viele, viele Jahre zog er umher, scharte Jünger um sich und predigte, was der Eine Geist ihn gelehrt hatte, doch sein Leib wurde nicht einen Tag älter, obwohl seine Haare von jener Nacht an nur noch weiß waren.
Und so, mein Sohn, wurde die Kirche des Einen Geistes geboren in einer Zeit der Zwietracht und der Besessenheit.
Jetzt ist es aber wirklich Zeit, daß Du schläfst. Und wenn Du morgen schön artig bist, erzähle ich Dir vielleicht von Rodrik und von der Frostburg.
Jetzt schlafe schön, der Eine Geist wacht über Dich.

 

Hallo SilentSoul,

Eine schöne Geschichte ist das, was du da geschrieben hast! Der Stil gefällt mir, ich habe keine groben Grammatikfehler gefunden undsoweiter undsofort.
Aber: Als du den Totenschädel beschreibst, hast du "Rundes" und "Weißes" klein geschrieben. Da es sich hier um nominalisierte Attribute oder so handelt, müssen sie groß geschrieben werden.
Außerdem verstehe ich nicht, was die Zahnlücke im Gebiß des Schädels zu bedeuten hat. Vielleicht rankst du darum noch eine weitere Geschichte? Oder du lässt es wenigstens kurz anklingen?
Ansonsten, weiter so. Die Geschichte hat mir gefallen.

LG, Vita

 

Hi vita,

vielen Dank. Habe Runde und Weißes natürlich sofort korrigiert.
Was die Zahnlücke angeht: Ich war wohl etwas sehr sparsam mit Hinweisen. Eigentlich sollte sich aus dem Kontext ergeben, daß diese Kämpfe sich regelmäßig wiederholen, wobei jedesmal ein Stück des Skeletts verschwindet, bis irgendwann nichts mehr davon existiert und die drei Verfluchten genug Buße getan haben. Werde das demnächst etwas breiter darstellen (sobald mir einfällt wie).

Gruß

SilentSoul

 

Hi SilentSoul,

das hat sich mir wirklich nicht erschlossen. Ich dachte eigentlich, dass vielleicht jedes Mal ein Zahn verschwindet oder so... Vielleicht hab ich da aber auch nur nicht genügend nachgedacht. Trotzdem finde ich, dass du diese Stelle noch ein wenig breiter ausarbeiten könntest - aus dem fehlenden Unterkiefer könnte sich ja auch schließen lassen, dass er abgefallen ist, Unterkiefer neigen dazu, so etwas zu tun ;)

Vita

 

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