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Unfall

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13.12.2003
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Unfall

Das Stück Zeitungspapier knistert noch, es erinnert Jerome an etwas, was er hoffte nie wieder zu spüren, doch nur so konnte er noch leben.
Er war an einem Sommertag zum Fluss gegangen in der Hoffnung auf ein Rendezvous oder auch ein flüchtiges Lächeln. Obwohl seine Hoffung sich wiedereinmal als Schein erwies, liebte er den Tag.
Nach einiger Zeit beschloss er den Fluss zu verlassen, um in sein Leben zurückzukehren.
Jerome hatte noch die Stirn wegen der Sonne zusammengekniffen, als er um die Ecke in den Schatten des Kaufhauses trat. Der Verkehr auf der Kreuzung stand, es hatten sich Trauben von Schaulustigen gebildet. Das vorsichtige Flüstern von wachsenden Gerüchten ging durch die Luft.
Ein Unfall, dachte Jerome und ging in die Trauben hinein um aus Neugierde zu sehen, was dort, für jeden zu sehen, auf dem Boden lag.
Zwischen den Schultern, Köpfen und Kappen der anderen sah er, wieder in der Sonne, erst einen Klumpen Blut, dann sah er in dem Blut einen Kopf. - Ein Fahrradfahrer war gestürzt, vor und hinter ihm Lastwagen.
Er ging rückwärts aus allen heraus. Bemühte sich nichts, niemand anzuschauen, zu berühren. Doch er sah an einer U-Bahn Treppe einen weinenden Mann sitzen. Es musste der LKW-Fahrer sein. Neben ihn kniete ein Passant, der unfähig war, diese massige südländische Gestalt zu trösten; er wagte es noch nicht einmal ihn in den Arm zu nehmen.
Hilflos in seinen Versuchen, die Gestalt zu fassen, begann er das Gesicht des Radfahrers mit einem Stück Tuch zu bedecken.
Polizei, ein neues Wort, sprang von einem Kopf zum nächsten. Mehrere Handys wurden herausgezogen, jeder war bemüht der Erste zu sein.
Jerome spürte, dass er gehen musste, angewidert davon, mit der Polizei zu reden. Sagen zu müssen, dass er nichts gesehen habe, dass er einfach nur um die Ecke gegangen sei, und da habe dieser Körper gelegen und um ihn herum lauter Menschen. Ging er in die Unterführung der U-Bahn Station. Unten umschlug ihn die kalte stehende Luft, er registrierte ihren Geruch von kaltem Urin. Hinter ihm klangen die Sirenen der ersten Polizeiwagen.
Er musste an die gefallene Gestalt mit dem blutigen Kopf denken; an das Fahrrad, das heile aussah, und die geplatzte Plastiktüte mit den zerfahrenen Orangen.
Das Dämmerlicht, entlastete seine Augen, es ließ ihn wieder in sich zurückkehren. Überlegt schlenderte er zum Bahnsteig. Mit einem Schwall kalten Windes, der, immer wieder angetrieben vom täglichen Verkehr der Stadt, hier unten kreiste, kündigte sich die Bahn an.
In der Menge schwitzender Körper sah sich Jerome soweit wieder gefestigt, dass er sich sagte, es war gut, dass Du gegangen bist, Du hättest niemanden helfen können. Es war gut so.
Als Jerome zu Hause ankam, hatte er jeden Gedanken an den Radfahrer verloren und so zog sich der Abend für ihn mit seinen alltäglichen Erledigungen hin.
Am nächsten Morgen konnte er sich an keinen Traum erinnern, aber er hatte viel zu lange geschlafen, er hastete aus seiner Wohnung. In der U-Bahn las er die Zeitung. Im Lokalteil wurde von dem Radfahrer berichtet, er sei kurz noch auf der Kreuzung in der Sonne gestorben, erstickt an einem nassem Tuch auf seinem Gesicht. Weiter unten stand seine Todesanzeige, es musste seine sein. Die einzige junge Person, die gestorben war.
Als Jerome die Anzeige las, musste er lachen und schließlich riss er die Seite aus der Zeitung und faltete sie zusammen und steckte sie ein.
In den folgenden Tagen schaute er sich immer wieder die Anzeige an. Er konnte sie nicht aus den Augen lassen, wann immer er an sie dachte, und er hatte sie nicht bei sich um sie zu lesen, ergriff ihn eine Angst, er würde an diesen Tag zurückfallen, würde wieder voller Grausen sehen, wie die Menge raunte und er dort lag. Wie er erstickt wurde, er, Jerome. Dessen Todesanzeige in der Zeitung sagte, er sei auf der Kreuzung in der Sonne gestorben.

 
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Hallo streuner,

ich gebe zu, dass ich deine Geschichte nicht hundertprozentig verstanden habe.

Was ich gut fand, waren die sinnlichen Details, das Blut zum Beispiel, die zerplatzten Orangen, der Uringeruch, die knisternde Zeitung. Interessant fand ich auch den Gedanken, dass Jerome Angst hat, die Todesanzeige nicht dabei zu haben. Und dass er glaubt, wenn er die Anzeige (die Bestätigung, dass es vorbei ist) nicht dabei hätte, würde er dassselbe nochmal erleben müssen. Sehr interessant - finde ich originell. Die seltsame Wendung, dass es plötzlich Jerome sein soll, der tot ist, hat mir dagegen nicht so gefallen. Wozu dieses Mysterium?

Was ich auch nicht so gut fand:
Ich verstehe den ersten Absatz nicht. Warum fängst du nicht so an: Jerome bog um die Kaufhausecke und stand inmitten eines Menschenauflaufs. Zwischen den Schultern, Köpfen und Kappen der anderen sah er erst einen Klumpen Blut, dann in dem Blut einen Kopf. (Dieser Satz von dir gefällt mir)

Manche Formulierungen sind nicht ganz treffend. Ich glaube nicht, dass man die Stirn zusammenkneifen kann - zusammenkneifen tut man Lippen oder Arschbacken. Oder ein kreisender Wind, was soll das sein? Dass er jeden Gedanken an den Radfahrer verloren hatte fionde ich auch seltsam (es erinnert mich an den Ausdruck gedankenverloren, aber daran willst du mich wohl nicht erinnern, oder?).

Manchmal bist du sprunghaft: Da sitzt der weinende LKW-Fahrer auf einer U-Bahntreppe und neben ihm ist ein Passant, der ihn tröstet. Und dann kommt: "Hilflos in seinen Versuchen, die Gestalt zu fassen, begann er das Gesicht des Radfahrers mit einem Stück Tuch zu bedecken."
Wer tut das? Der weinende Fahrer oder der tröstende Passant? Und wie kommt er so schnell von der U-Bahntreppe zu dem Fahrradfahrer - da müssten doch die ganzen Gaffer dazwischen sein, oder? Oder hab ich das alles falsch verstanden, und es ist Jerome? (Vielleicht war ich nicht aufmerksam genug, aber das sind die meisten Leser nicht.)

Alles Gute fürs nächste Jahr,
dein Stefan

 

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