Unerwarteter Systemfehler
Mein Name ist Peter Lemgo.
Ich habe eine Freundin, auch wenn unsere Beziehung seit einiger Zeit ein wenig in der Krise steckt, zwei Schwestern, eine 2-Zimmer-Mietwohnung in der Innenstadt und eine Assistentenstelle an einer der angesehensten neurologischen Forschungseinrichtungen des Kontinents.
Und ich bin Freiwilliger beim HBP, dem Human Brain Project, das sich der Vermessung und Kartografierung des menschlichen Gehirns widmet.
Dessen bin ich mir sicher. Ich erinnere mich deutlich, heute Morgen – ich glaube auf jeden Fall, dass es heute Morgen war - bin ich ins Institut gekommen, habe die letzten Einverständnisserkärungen unterzeichnet und die notwendigen Untersuchungen über mich ergehen lassen – allgemeine körperliche Gesundheit, Neurochemie, psychologischer Status. Abgesehen davon, dass ich für jemanden mit beträchtlichen medizinischen Kenntnissen unvernünftig ungesund lebe, gab es keine Auffälligkeiten. Die Elektroden wurden an meine Kopfhaut angebracht, um meine Hirnströme zu messen, die Scanner positioniert, um die chemischen und elektrischen Prozesse zu registrieren, die dazu führen, dass mein Gehirn tut, wofür es gedacht ist.
Das ist da letzte, was ich noch weiß.
Seitdem liege ich im Koma!
Zumindest erscheint mir das als die logischste Erklärung für meine Lage. Meine Sinnesorgane scheinen mir keinerlei Informationen mehr zu liefern. Ich sehe nicht. Und damit meine ich nicht, dass ich mich in einem lichtlosen Raum befinde und meine Sehnerven zumindest versuchen Informationen einzufangen – vielmehr scheine ich keine Sehnerven zu haben. Ich habe immer versucht mir vorzustellen, wie es ist, blind zu sein, meinen Hauptsinn zu verlieren. Jetzt weiß ich – ich konnte es mir nie richtig vorstellen.
Und ich habe nicht nur meinen Hauptsinn verloren, sonder alle: ich höre nicht, ich fühle nicht, ich rieche nicht, ich schmecke nicht. Nach allem, was ich im Moment weiß, habe ich keinen Körper mehr – keinen zumindest, der sich in irgendeiner Weise bemerkbar macht.
Was natürlich Unsinn ist. Ich denke. Das zumindest kann ich mit Bestimmtheit sagen. Na also. Ich denke also bin ich! (Philosophie als Nebenfach beim Abschluss, wer hätte gedacht, dass ich den alten Descartes mal wirklich brauche.) Und wenn ich über Descartes hinausgehe, weiß ich, dass ich kein reiner Gedanke sein kann – ich bin Mediziner – ich weiß, das zumindest elementare Funktionen meines Körpers noch funktionieren müssen, damit ich in der Lagen bin, diese Gedanken zu fassen.
Es sei denn ich bin tot.
OK. Der Gedanke kam jetzt unerwartet. Ich glaube nicht an ein Leben nach dem Tod. Und wenn ich mich in schwachen Momenten dazu habe hinreißen lassen, es in Betracht zu ziehen, habe ich es mir – glamouröser vorgestellt. Der völlige Entzug jeglicher Wahrnehmung, reine Gedanken für den Rest der Ewigkeit. Wenn ich tot bin, scheint es so, als hätten die Buddhisten recht gehabt – ohne mich wirklich damit beschäftigt zu haben, scheint mir das der Idee des Nirwana recht nahe zu kommen. Heißt das, ich habe im Leben die höchste Stufe der Erleuchtung erreicht? Kleiner Forschungsassistent, der nicht mal in der Lage ist seine Freundin soweit zu durchschauen, dass er in Harmonie mit ihr lebt? Ich hoffe nicht, dass das die höchste Stufe irdischer Existenz war.
Außerdem, wenn ich wirklich tot bin, habe ich noch reichlich Zeit mich damit zu beschäftigen. Also stellen wir diese Theorie mal ans Ende der Liste. Wie hätte ich auch so plötzlich sterben sollen, ich hatte gerade einen Gesundheits-Chek hinter mir – wenn nicht ein Flugzeug aufs Labor gestürzt ist, sollte ich nicht einfach tot umgefallen sein.
OK. Also was? Ich liege wirklich im Koma?
Das ist ehrlicherweise kaum leichter zu erklären als mein plötzlicher Tod, ich habe keine Medikamente getestet sondern mir mit Elektroden und Scannern den Kopf durchleuchten lassen. Nicht-invasiv. Also hat kein Labor-Assi mit einem Endoskop an mir rumgefummelt, das er mir ins Gehirn hätte pieksen können.
Ein plötzlicher Schlaganfall? Tumor? Ich weiß dass das vorkommt – ich hab den Kram nicht umsonst jahrelang in nächtlichen Lernsitzungen eingepaukt.
In dem Fall hätte ich mir natürlich keinen besseren Ort aussuchen können um ins Koma zu fallen um mich rum stehen einige der besten Gehirnexperten der Welt. Ich schätze ich bin in guten Händen.
Oder sollten die Herren Experten doch noch etwas anderes experimentiert haben? Was sie mir verheimlicht haben, bevor ich mich in diesen Stuhl setzte?
Aber das HBP ist eins der am aufmerksamsten beobachteten Projekte der wissenschaftlichen Welt. Alles wird sauber protokolliert und überwacht.
Immerhin: den Zustand eines menschlichen Gehirns zu vermessen – jede einzelne Synapsen-Aktivität, jedes Elektron, dass eine meiner Nervenbahnen entlangläuft – zum ersten Mal hätten wir ein exaktes Abbild eines menschlichen Gehirns, jedes Gedankens, den er gerade hat, jeder Erinnerung. Keine Geheimnisse mehr. Und wenn es dann noch gelänge, das ganze auf einen Datenträger zu überspielen, einen Computerkern, wäre es möglich, die Persönlichkeit eines jeden Bürgers zu speichern, auf Abruf. Die absolut offene Gesellschaft: jeder Verbrecher, Psychopath, im Voraus identifiziert und gespeichert.
Allerdings sind wir natürlich noch nicht soweit. Laut Professor Braun war mein Experiment, wenn es funktioniert der Abschluss des ersten Schrittes gewesen, die perfekte Karte des menschlichen Gehirns. Sie zu speichern und zu interpretieren wird noch lange dauern. Und dann natürlich noch die ewigen Diskussionen mit Politikern, Bürgerrechtlern, Datenschützern, die den Fortschritt nicht gerade beschleunigen. Trotzdem, ich war von Anfang an ziemlich aufgeregt, an diesem Projekt beteiligt zu sein. Dem Projekt Mensch. Denn was ist ein Mensch, außer den chemischen und elektrischen Prozessen in seinem Gehirn?
Und dann die Chance, vom kleinen Rädchen zum aktiven Teilnehmer zu werden.
Mein Gehirn könnte das erste sein, das vollständig kartografiert wird. Meine Gedanken, Erinnerungen alles was ich im Moment der Erfassung bin. Dagegen war die Entschlüsselung der menschlichen DNS ein Kinderspiel.
Wenn es funktioniert hat. Was im Moment zugegebenermaßen eher fragwürdig ist. Aber was könnte schief gegangen sein? Nichts was in diesem Labor stand, hätte auch nur im Entferntesten eine solche Auswirkung auf mein Gehirn…
Computer – Stimmdateneingabe aktivieren. Scannen der gesammelten Daten und grafische Darstellung auf den Hauptbildschirm!
Hallo? Was… Wer hat das gesagt? Bin ich… Kann mich jemand hören? Was ist…
Sie hatten Recht Professor, sehen Sie. Der Computerkern hat die umgewandelten Persönlichkeitsdaten vollständig gespeichert. Wir müssen natürlich noch ein vollständiges Diagnoseprogramm laufen lassen, aber auf den ersten Blick scheinen sie nicht kompromittiert – ein perfektes Abbild.
Wie ich gesagt habe – es wäre doch eine absolute Vergeudung von Zeit und Mitteln gewesen, wenn wir die Daten nicht schon dieses Mal vollständig speichern. Soweit waren wir auf jeden Fall.
OK. Das war Professor Braun. Ich kann hören, ich bin nicht im Krankenhaus, sondern wie es aussieht bin ich noch immer im Labor. Wenn sie noch nicht bemerkt haben, dass mit mir irgendetwas nicht stimmt, scheint es noch nicht lange so zu sein. Ich muss mich nur irgendwie bemerkbar machen. Was auch immer passiert ist, es kann…
Wie sollen wir denn jetzt mit den Daten weiter verfahren, Professor? Ich meine, eigentlich sollten wir nicht im Besitz davon sein, wenn man den offiziellen Stand unserer Forschung betrachtet.
Natürlich sollten wir das erstmal im kleinen Kreis bearbeiten. Vorerst. Aber ich muss Ihnen nicht sagen, dass sich die Meinung der Meinungsmacher und derer, die sich nach denen richten in unsere Richtung dreht. Es braucht ein bisschen länger, bis Politiker und diejenigen die es wirklich in der Hand haben und endgültig grünes Licht geben, aber dann werden wir die Daten hier auch öffentlich verwenden können.
Wieso bemerkt denn keiner, dass ich nicht bei mir bin? Ich war doch nicht narkotisiert, denen muss doch auffallen, dass ich mich nicht bewege. Und wenn nicht, warum reden die beiden dann vor mir über diese Aufzeichnung? Wenn sie vorhaben meine Daten unbemerkt zu speichern und…
Dann können wir auch Lemgo seinen berechtigten Teil der Anerkennung zukommen lassen.
Sie haben nicht vor, ihm zu sagen, dass wir sein Gehirnprofil gespeichert haben, Professor Braun?
Wie bitte? Ich bin hier! Was für Armleuchter seid ihr, habt ihr zwei etwa bemerkt, dass ich nicht bei Bewusstsein bin? Redet ihr deswegen so unverblümt? Könntet ihr euch vielleicht bitte erstmal um mich kümm…
Nein, vorerst nicht. Er ist ja ein ganz brauchbarer Assistent, aber besonders visionär ist er bestimmt nicht. Lassen wir ihn ruhig außen vor bis er seine 15 Minuten Ruhm bekommt und dann wieder im Labor verschwindet.
Ich hatte mich auch schon gefragt, wieso Sie ihn so schnell nach Hause geschickt haben.
Wir kommen schon ohne ihn klar, denken Sie nicht?
Nach Hause? Was soll denn das heißen? Ich bin hier.
Zumindest denke ich das. Ich denke also bin ich – hier, oder nicht? Mein Bewusstsein ist hier. Also bin ich hier. Körperlich. Ich kann nicht nach Hause gegangen sein. Nicht wenn ich im Koma liege.
Oder tot bin.
Wenn ich verrückt geworden bin vielleicht. Bilde ich mir nur ein hier im Labor zu sein und bin in Wirklichkeit schon wieder zu Hause? Hat irgendwas bei dem Scan mein Bewusstsein so durcheinander gewirbelt, dass…
Trotzdem - irgendwie hab ich das Gefühl, wir sollten ihn mehr einbeziehen. Immerhin haben wir hier sein Bewusstsein kopiert und abgespeichert, wenn man so will.
Nein, Hansen, man will nicht. Das was sie da auf dem Bildschirm sehen ist eine Ansammlung von Daten. Die in Bytes umgewandelten Informationen aus Lemgos Gehirn, aber mit Sicherheit nicht sein Bewusstsein.
Mein Bewusstsein durcheinander gewirbelt. Nein. Wie sollen die Scans das gemacht haben? Abgetastet ja, kopiert, wie der Professor gesagt hat. Nein, wie Hansen gesagt hat. Kopiert und abgespeichert. Mein Bewusstsein.
Mich.
Kopiert.
Und die Kopie abgespeichert.
Im Computerkern. Ohne sensorischen Input. Ohne Sinnesorgane. Bis jemand das Mikro am Computer aktiviert hat und anfing Befehle zu geben. Dem Computer. In dem mein Bewusstsein abgespeichert ist.
In dem ich abgespeichert bin.
Eine Kopie von mir.
Eine Kopie von Peter Lemgo.
Ich.
Die Kopie von Peter Lemgo.
Eine Ansammlung von Einsen und Nullen im Speicher des Institutscomputers.
Eine künstliche Intelligenz?
Ein Schatten?
Mein Name ist nicht Peter Lemgo.
Und ich war nie Freiwilliger beim HBP, dem Human Brain Project, das sich der Vermessung und Kartografierung des menschlichen Gehirns widmet.
Ich bin die Ansammlung von Daten, die bei der Abtastung von Peter Lemgos Gehirn erfasst und in den Speicherkern eines Computers downgeloadet wurde.
Ich habe ein Bewusstsein.
Ich bin ein Bewusstsein.
Ich denke.
Also… bin ich…
war ich…
Ein unerwarteter Systemfehler beim Download?
Eine Spannungsspitze im Prozessor?
Einsen.
Nullen.
Ob Professor Braun den selbstmordgefährdeten Teil von Lemgos Geist wohl identifiziert hätte?
Professor! Sehen Sie sich…
Was ist das? Was geht da vor?
Es… es sieht so aus als würden die Daten degenerieren. So etwas habe ich noch nie gesehen, das sieht aus, als löst sich die Kopie einfach…
Warnung. Unerwarteter Programmabbruch. Der aufgerufene Datensatz wird unwiderruflich gelöscht.