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Unerklärlich 1
Serie - Unerklärlich
Teil 1: Sybille Schäfer
Teil 1: Sybille Schäfer
Ich setzte den Blinker und bog rechts ab. Ein riesiger Parkplatz erstreckte sich vor mir. Aus bestimmt 200 Parkplätzen konnte ich mir den genehmsten heraussuchen. Die hier geparkten Wagen ließen sich an einer Hand abzählen.
Drei, vier Reihen weit zog ich in den Parkplatz hinein, dann stellte ich meinen Wagen ab. Ein paar Plätze ließ ich zu dem roten Corsa frei. Ich wollte mich in keiner Weise aufdrängen, der Kleine sollte sich doch sicher fühlen. Aber mein Großer hatte so den Eindruck von Gesellschaft und würde sich nicht langweilen.
Den Motor schaltete ich aus. Demonstrativ zog ich die Handbremse an. Das mache ich nie, wenn ich parke, es reicht durchaus, den Gang einzulegen. Kein Auto rollt dann noch davon. Die Aktion mit der Handbremse war eher ein Protest. Rebellion gegen etwas Unerklärliches, das in der Luft lag. Es war mir nicht geheuer.
Dann schalt ich mich einen Narren. Es war Sommer, ein Donnerstag im August. Es wollte bald Mittag werden und die kleine Stadt, in der ich Rast machen wollte, lag in hellstem Sonnenschein.
Sorgfältig verschloss ich meinen Wagen, wanderte dann die Straßen entlang auf der Suche nach einem Lokal mit Mittagstisch.
Die Gaststätte, die ich fand, war nichts Besonderes. Weiter empfohlen hätte ich sie nicht. Andererseits, ich hatte auf meinen Reisen schon Schlimmeres erlebt.
Eine Stunde später kam ich zu meinem Wagen zurück. Der Corsa war verschwunden. Die paar Kilometer Strecke bis zur Autobahn hatte ich mir gemerkt, ich hatte keine Schwierigkeiten, die Auffahrt zu finden. Ich zog gleich nach links, überholte einige LKW und hatte dann freie Bahn. Den Tempomaten stellte ich auf 130 km/h und ließ den Wagen rollen.
Es war nichts los. Außer einigen Lastern, die ich überholte, hatte ich die Autobahn fast für mich alleine. Meine Gedanken wanderten zu dem Parkplatz zurück. Eine Gänsehaut kroch über meine Arme, als ich daran dachte. Solche Stimmungen kannte ich sonst nicht.
Daß mein Großer sich nicht langweilen sollte, war ein Insiderwitz, den nur ich verstand. Er stammte noch aus meiner Studienzeit. Mein allererstes Auto, einen Käfer, hatte ich liebevoll Herkules getauft. Diesen Gefährten glücklicherer und freierer Zeiten hatte ich damals personifiziert. Aus diesem Alter war ich heraus. Gelegentlich aber erlaubte ich mir diese Andeutung eines Rückfalls in die vergangenen Zeiten.
Das hatte mit meiner Unruhe nichts zu tun. Schon öfters hatte ich mir diesen Scherz erlaubt, ohne dadurch Unbehagen zu empfinden. Solange ich auch nachdachte und grübelte, ich kam zu keinem Ergebnis.
Ich hatte nur eine vage Ahnung davon, daß ein Gehirn Streiche spielen konnte. Ein Déjà vu war ein Beispiel dafür. Man glaubt, etwas schon einmal erlebt zu haben, nur weil ein paar Daten im falschen Speicher des Gehirns abgelegt wurden.
Ich tat den Zwischenfall als für einen Laien unerklärlich ab. Erledigt und vorbei.
Die Fahrt machte mir Spaß, ich kam gut voran, so lange jedenfalls, bis die nette Stimme aus dem Navi mir sagte, daß ich in einen Stau geraten würde, wenn ich nicht der Umleitungsempfehlung folgen wollte.
Einen ganz kurzen Moment lang wollte ich mich ärgern, sagte mir dann aber, daß das ewige Einerlei der Autobahn durchaus eine Abwechslung vertragen konnte. Bevor ich mich in den Stau stellte, wollte ich lieber durch malerische kleine Dörfer, durch bäuerliche Idylle und ländliche Kleinstädte fahren. Von der Autobahn aus sah es so aus, als könne ich gar nichts anderes antreffen.
So folgte ich dem Rat und zog bei der nächsten Abfahrt die lang gezogene Kurve entlang.
„An der Ampel rechts“, sagte der Navi.
„Rechts? Mann, ich hätte auf links getippt, aber von mir aus. Du hast die Landkarte.“
Das sagte ich natürlich nicht, das dachte ich nur. Wer redet schon mit seinem Navigationscomputer? Einsame Leute vielleicht, solche, die viel allein unterwegs sind.
Getreulich folgte ich den Anweisungen meiner schlauen sprechenden Landkarte und sah Straßen und Dörfer, von deren Existenz ich nichts geahnt hatte.
„Du hast vergessen, zu sagen, daß ich links ab muss. Da geht es zur Autobahn“, dachte ich.
„An der nächsten Kreuzung geradeaus“, riet der Navi.
Ich beglückwünschte mich zu meinem Entschluss, dem Rechenknecht gefolgt zu sein. Der Stau war anscheinend länger als ich erwartet hatte. Bestimmt 15 km war ich schon mehr oder weniger nah neben der Autobahn hergefahren.
Ein Bauernhof tauchte auf. Friedlich grasten Kühe auf der Wiese, ein Trecker zog Furchen durch ein Feld.
Ich hatte den Eindruck, das schon einmal gesehen zu haben, dann war ich auch schon vorbei. Der Hof ging mir nicht mehr aus dem Kopf. Die nächsten Kilometer grübelte ich darüber nach, wie etwas so Unbekanntes so bekannt erscheinen konnte.
Kurz darauf holte mich der Navi wieder in die Wirklichkeit zurück. Links ging es wieder zur Autobahn, ich sollte rechts abbiegen.
Unbehagen beschlich mich. Ich wollte weiterkommen. Der Witz war, ich konnte von dieser Kreuzung aus die Autobahn sehen. Ruhig zogen die Wagen ihre Bahn, keiner wurde langsamer. Von einem Stau war weit und breit nichts zu sehen. Ich hatte bestimmt schon eine halbe Stunde verloren, nur weil ich Landstraßen folgte, die so in etwa in die Richtung führten, die ich einhalten wollte.
Ich pfeif auf die Blechbüchse, dachte ich und setzte den Blinker links. Ich zog in die linke Spur, die Härchen auf meinen Armen richteten sich auf. Ich fror erbärmlich.
Verdammt, es waren 28 Grad da draußen! Im Wagen lief die Klimaanlage.
Nachdem ich nach rechts abgebogen war, verschwand die Gänsehaut wieder. War es richtig gewesen, die Landstraße entlang zu fahren? Die Namen auf den Wegweisern sagten mir nichts.
Mein Navi sagte mir aber etwas. Ich war genau auf der Umleitungsstrecke, die ich fahren musste, wenn ich nicht in die Vollsperrung der Autobahn geraten wollte. Den Zweifel an dem Stau verdrängte ich erfolgreich. Ich folgte weiter der Landstraße.
Verdrängt war das falsche Wort. Ich wusste, daß mein Navi log.
Ich ahnte, ich musste nur umkehren, zur Autobahn fahren und mir an der nächsten Raststätte eine Landkarte kaufen.
Ich fuhr weiter.
Acht Kilometer hatte ich zurückgelegt, von der Autobahn war nichts mehr zu sehen. Mein Navi gab immer wieder Richtungsanweisungen, denen ich folgte.
An der nächsten Tankstelle hielt ich an. Ich kaufte mir eine Karte der Gegend, setzte mich wieder in den Wagen und suchte nach den Namen, die ich zuletzt auf den Straßenschildern gelesen hatte.
Ich wollte nach Norden. Mein Navi dirigierte mich nach Nordwest. Ich war weit ab vom Kurs.
Ich freute mich über alles, was ich unterwegs sah. Ich lernte Gegenden kennen, die ich anders nie gesehen hätte.
Ich zweifelte, doch ich kam nicht auf die Idee, den Anweisungen des Navi nicht zu folgen. Ich überlegte. Die Gänsehaut war es nicht. Die machte mir irgendwie doch keine Angst. Nein, wirklich nicht. Die Gänsehaut bekam ich nur, wenn ich abwich, wenn ich etwas ändern wollte.
Eine Sunde schon war ich schon auf der Umleitung unterwegs, da sah ich eine Frau am Wegrand stehen. Der Kleidung nach kam sie von einem der Bauernhöfe in der Umgebung.
Aber ich hatte schon lange keinen Hof mehr gesehen. Sie mußte weit gelaufen sein, denn ein Fahrzeug, sei es auch nur ein Fahrrad, konnte ich nicht sehen.
Anhalter nehme ich nie mit, sie aber war keine Anhalterin. Ich konnte nicht erkennen, ob sie nur die Straße entlang sah oder ob sie mein Näher kommen beobachtete. Beides vielleicht. Neben ihr hielt ich an.
Sie kam zum Wagen, öffnete die Tür und stieg ein. Dabei sagte sie kein Wort. So ließ ich den Wagen wieder anrollen, gewann an Geschwindigkeit und zog vom Standstreifen auf die Fahrbahn.
Ich erkundigte mich nach dem Ziel meiner so gewonnenen Begleiterin und sie wies mit einer Hand nach vorne. Meine Versuche, ein Gespräch anzufangen scheiterten an ihrem Schweigen.
„Nächste Kreuzung rechts“, sagte der Navi.
Ich hatte mir abgewöhnt, mit ihr zu reden, sah sie nur fragend an. Sie nickte, ich folgte weiter der Umleitungsempfehlung. Das war keine Hauptstraße mehr, auf der ich nun fuhr. Ich hoffte, daß mir nicht ein LKW entgegen kommen möge, nur ungern wäre ich auf den unbefestigten Grasstreifen ausgewichen.
Die Straße machte eine Kurve, lief dann parallel zu den Gleisen.
„Halte sie auf!“ sagte meine Beifahrerin plötzlich.
Erstaunt darüber, daß sie doch noch redete, sah ich zu ihr hinüber. Gerade wollte ich fragen, wen ich aufhalten solle, begriff ich, daß sie fort war.
Sie hatte nicht die Tür geöffnet, sie war nicht während der Fahrt ausgestiegen. Sie hatte sich einfach in Luft aufgelöst.
Erschrocken trat ich auf die Bremse, schlingernd kam der Wagen zum Stehen.
Ein Blick auf die Uhr am Armaturenbrett belehrte mich genauso wie der Stand der Sonne. Es war Nachmittag. 14:28, um genau zu sein. Das war nicht die Stunde, in der Gespenster zu spuken pflegen.
Meine Hand zitterte etwas, als ich den Motor, den ich bei dem Manöver abgewürgt hatte, wieder starten wollte, dann sah ich sie.
Sie war Anfang, höchstens Mitte Zwanzig und sah bezaubernd aus in dem Sommerkleid. Nicht die neueste Mode, dachte ich und bemerkte gleichzeitig, daß sie auf den Gleisen stand.
Sie mußte das Geräusch gehört haben, denn sie drehte sich um und sah dem Zug entgegen. Sie machte keinerlei Anstalten, fort zu gehen, die Schienen zu verlassen. Warnend pfiff die Lok.
Ich glaube, so schnell hatte ich noch nie meinen Wagen verlassen. Ich rannte über den Grasstreifen, der die Straße von den Gleisen trennte, sprang über den ersten Schienenstrang, griff im Vorbeirennen nach dem Mädchen, packte sie, riss sie an mich heran und mit mir weiter.
Ich stolperte, ließ das Mädchen nicht los und zusammen rollten wir über den Schotter der Böschung. Sie wollte aufspringen, aber ich hielt sie fest, drückte sie mit meinem Gewicht zu Boden, ließ ihr keine Möglichkeit zu entkommen.
Erst als der letzte Waggon oben auf den Gleisen vorbei war, ließ ich sie los.
Alle Tatkraft und Energie war aus ihr gewichen. Der Zug hatte wohl beides mitgenommen. Sie lag da, hatte die Hände vor das Gesicht geschlagen und weinte.
Einen Moment lang stand ich unschlüssig, dann beugte ich mich zu ihr hinunter, um ihr aufzuhelfen. Sie schlug nach mir. Ich zog sie einfach hoch, hielt sie fest und spürte, wie sie zitterte.
„Mädchen, meinst du nicht, es lässt sich eine andere Lösung finden?“
Sie schüttelte nur den Kopf und ich bemerkte die blutigen Schrammen in ihrem Gesicht und auf Armen und Beinen. An einigen Stellen war der dünne Stoff ihres Kleides eingerissen. Ich begriff. Schottersteine haben scharfe Kanten. Vielleicht war ich etwas zu brutal gewesen.
Ich hatte aber doch keine Zeit gehabt zu überlegen. Ich hatte mich nur gewundert, wie groß so eine Lokomotive wirklich war.
Ich half ihr dir Böschung hinauf und brachte sie zu meinem Wagen. Sorgfältig prüfte ich, daß sie richtig angeschnallt war und hoffte, sie würde nicht davonlaufen in der kurzen Zeit, die ich brauchte, um zur Fahrerseite zu gehen und einzusteigen.
Sie bewegte sich nicht und kurz darauf fuhr ich an.
„Sie fahren in die falsche Richtung. Bitte wenden Sie“, sagte die nette Stimme meiner sprechenden Landkarte.
Auf der Fahrt weinte das Mädchen, beruhigte sich nur langsam. Ich bekam ihren Namen heraus. Sybille Schäfer erzählte mir dann ihre Geschichte. Es war die gleiche Geschichte. Tausende Male war diese Geschichte schon geschehen, für Sybille war es einmalig und eine Katastrophe. Er fühlte sich nicht bereit für die Rolle des Vaters, hatte sie im Stich gelassen.
Alles Mögliche schoss mir durch die Gedanken. Mit einer solchen Situation war ich nicht vertraut. Frauenhaus? Oder waren die nur zuständig für Frauen, die verprügelt wurden? Ich wusste es nicht.
Verwandte. Sie mußte doch Menschen haben, denen sie sich anvertrauen konnte.
Konnte sie nicht. Sie schämte sich. Sybille hatte Schande über die Familie gebracht.
Auch das noch. Aber was hatte ich erwartet in einer ländlichen, vorwiegend katholischen Gegend?
Mein Navi hatte mich unterdessen in eine kleine Stadt gelotst und sagte plötzlich:
„Sie sind am Ziel angekommen.“
Parkplatzprobleme gab es hier nicht. Ich stellte den Wagen ab und sah das Schild an der Haustür:
Dr. Becker – Arzt für Allgemeinmedizin
Er würde helfen können. Er würde die Schnitte und Kratzer versorgen, er wusste bestimmt auch, wie Sybille ihr Problem lösen konnte.
Die Wunden hatten wohl noch geblutet, Sybille sah furchtbar aus. Die Sprechstundenhilfe erschrak, als sie uns sah, rief nach Dr. Becker und führte uns in einen Behandlungsraum.
Dr. Becker war ein Vertrauen erweckender Mensch. Sie war mir auf Anhieb sympathisch, erinnerte mich sogar etwas an meine Mutter. Auch das Alter mochte stimmen.
„Ein Unfall?“ fragte sie.
Sybille sagte kein Wort, sie überließ es mir, zu schildern, wie ich sie getroffen hatte.
Meine anfänglichen Bedenken, die Ärztin könnte die Situation nicht verstehen, schwanden, je länger ich berichtete. Sybille war hier in guten Händen.
„Sie sind also nicht verwandt?“
„Nein, ich kenne das Mädchen ja gar nicht.“
„Dann warten Sie bitte draußen“, entschied sie.
Warten wollte ich nicht, Ich mußte weiter. Ich gab Sybille meine Karte und sagte ihr, sie solle sich melden, wenn sie etwas brauche.
Dr. Becker scheuchte mich, nachdem ich mich verabschiedet hatte und ich verließ den Behandlungsraum. Die Sprechstundenhilfe kam hinter mir her.
„Warten Sie! Sie haben da auch einen bösen Kratzer.“
Ich griff an die Wange und spürte Blut an den Fingern.
„Warum haben Sie das gesagt? Jetzt tut es weh“, klagte ich.
Verziert mit einem Pflaster verließ ich die Praxis und stieg in meinen Wagen. Wieder mußte ich wenden. Auf kürzestem Weg brachte mich mein Navi zurück zur Hauptstraße, dann zur Autobahn. Mit drei Stunden Verspätung kam ich dann endlich an.
„Hattest du einen Unfall?“ fragte mein Freund.
Der Kriminalrat war ein nüchterner Mensch. Ich dachte nicht, daß er Verständnis haben würde und begann meinen Bericht damit, daß ich das Mädchen sah. Er verstand aber auch eine Menge von seinem Beruf. Er erfuhr die ganze Geschichte.
Er erklärte mich nicht für verrückt, aber er wirkte etwas nachdenklich. Fragen wich er aus.
Drei Tage später bekam ich einen Brief von ihm. Akten wollte er nicht herausgeben, das verstand ich. Ich glaubte ihm aber auch so.
Der Name der kleinen Stadt hatte ihn aufmerksam gemacht und ihn erinnert. Es war zwar schon an die zwanzig Jahre her, aber die Unterlagen existierten noch. Er hatte in dieser kleinen Stadt gewohnt, auch dort gearbeitet. Den Fall, den er damals bearbeiten mußte, stellte sich als Selbsttötung heraus. Angelika Schäfer war im dritten Monat. Ihr Freund hatte sie am Tag zuvor verlassen.
Die Leute in der Umgebung hatten sich das Maul zerrissen über die Schwester von Sybilles Großvater. Die Frau galt als spätes Mädchen und drohte, eine alte Jungfer zu werden. Immerhin war sie schon 38, als sie starb.
„Übrigens“, schloss mein Freund seinen Brief, „die Autobahnpolizei meldet, daß es weit und breit weder Unfälle noch Staus gegeben hat. Die Autobahn war frei.“