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unerhört
unerhört
Die Geräusche nahmen wieder zu, von dem Moment an, in dem sie ihre Leiche fanden.
Nach mehreren Tagen der friedlichen Stille war das kleine Haus zuerst vollständig von einem Schrei ausgefüllt. Nach seinem Verklingen, als die Maklerin sich im Zustand eines milden Schocks befand und draußen leise in ihr wirklich kleines Telefon gesprochen hatte, legte sich wieder eine Hülle über das Haus, die erst aufbrach, als der Kies unter den Reifen des Autos knirschte. Trockene kleine Steine, die aneinanderscharrten.
Der Beamte, der aus dem Streifenwagen kletterte, ächzte leise. Wohl, weil es langsam warm wurde, in diesem Frühjahr. Die Stimme der Maklerin geriet mehrfach ins Stocken, während sie zu sagen versuchte, dass das Mädchen im Wohnzimmer liege. Überflüssig, denn die Hütte besaß nur zwei Zimmer, durch die jetzt die Vormittagssonne floss und in denen die Stimme der Maklerin nicht zu vernehmen war.
Während das kleine Haus sich rasch mit Menschen füllte, die nichts darin verloren hatte, nahm das allgemeine Murmeln und Scharren weiter zu. Die Leiche war nackt, als man sie fand. Und - aus ermittlungstechnischen Gründen - änderte sich das auch für eine Weile nicht. Zuschauer kamen. Nicht um die Ermittlungen zu sehen, sondern um gehört zu werden, mit ihren Theorien darüber, wer das Mädchen war und wer sie getötet hatte. Ganz zu Anfang sagte jemand "Mord" und das Wort machte die Runde. Niemand widersprach.
Das Gesicht des Mädchens war schwer zu erkennen. Die Nase war mit einem leisen Knacks gebrochen, eine kurze Weile vor ihrem Tod. "Von außerhalb" gesellte sich zu dem "Mord" und die Gerüchte sprießten. Was sie hier gemacht habe und wer das mit ihr getan habe. Das übliche Leben blieb an diesem Tag liegen. Man ging zum Haus, dort draußen, und sprach über "die Sache".
Als die Nachricht das Haus erreichte, dass Sabrina nicht heimgekommen sei, letzte Nacht, die Nichte des Lehrers, zu Besuch für eine Weile, trat eine unerwartete Stille ein. Nur das Husten des Pfarrers, der sich fragte, wie er es dem Lehrer sagen sollte, hing in der Luft.
Der Beamte wurde hektisch, erteilte Anweisungen, ermittelte fieberhaft, fand nichts. Die Empörung stieg in der Menge auf und richtete sich gegen jeden, der als Täter in Frage kam. Jeder Fremde, der in den letzten Tagen in der Stadt, einer wirklich kleinen Stadt, gewesen war, musste froh sein, dass er fort war. Er war im Verdacht.
Dann, ein paar Stunden nach Mittag, begann das erleichterte Aufatmen, als Sabrina zurückkehrte in das haus ihres Onkels. Wohlbehalten. Es blieb die Frage nach der Toten. Die offene Frage.
Jetzt hatte man die Leiche, man sprach von ihr nur noch als "der Leiche", weil es so etwas hier noch nicht gegeben hatte und weil sie keinen Namen hatte, mit einem großen Tuch bedeckt. Nur die Kinder hielten jetzt noch den Atem an und schlichen auf Zehenspitzen zur Tür, um hineinzuspähen. Alle anderen verloren das Interesse und zogen vondannen.
Der Beamte wischte sich wieder und wieder mit einem leisen Seufzen den Schweiß von der Stirn, denn für einen Frühlingstag war es schon erheblich warm geworden. Das penetrante Summen der Schmeißfliegen und die Sonnenbahnen durch die Sprossenfenster umgaben die Leiche und das Tuch. Eine Antwort fand der Beamte darin nicht.
Gegen vier am Nachmittag verlor er das Interesse. Er fasste zusammen, was er wusste und legte die Notiz in Gedanken schon zu den Akten. Der Bleistift hinterließ ein kratzendes Geräusch auf dem Papier. Eine Fremde, tot, in einem verlassenen Ferienhaus. Am Rande der Stadt. Warum am Rande seiner Stadt? Ein namenloses Opfer und ein unbekannter Täter. Gestorben auf der Durchreise. Die Statistik sagt, die meisten Opfer kannten den Täter. Sie sagt, das Motiv sind oft persönliche Beziehungen.
Ungeklärte Morde lasten auf der Seele. Einen Moment hielt er inne, als er schrieb: "Todesursache:", dann kratze der Bleistift: "Unfall" in das Papier und er schloss mit resolutem Klappen das Notizbuch.
Der Beamte sieht auf die Leiche hinunter und fragt sich, was sie hier wollte und warum sie es nicht bekam. Aber nur für einen Moment. Dann betreten zwei Männer in weißen Overalls mit schweren Schuhen das Haus. Sie nehmen das Tuch von der Leiche und der Beamte wirft einen letzten Blick in die stummen Augen darunter. Dann tragen sie sie hinaus und legen sie in den Wagen. Kies knirscht, als er davonfährt. Sie bringen sie fort. Denn einen Raum dafür gibt es hier nicht.
Das Zuschlagen der Autotür ist das Letzte, was die Stille noch aufhält. Dann kehrt sie zurück und breitete sich in ihren Räumen wieder aus. Niemand stellt die Fragen, die keiner beantwortete und das Schweigen, das bleibt, sagte alles.
Jetzt, da wieder Ruhe eingekehrt ist, tritt das stumme Flehen dieser Augen wieder hervor. Wenigstens soll jemand es wissen. Wissen, was war, bevor die Stille hereinbrach.