- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 2
Unendliches
Sie sitzt auf ihrem Sofa, das sich gegenüber der Bücherwand befindet. Liebevoll blickt sie auf den einen Gedichtband von Goethe. Sie hatte ihn vor etlichen Jahren in der Schulbibliothek ausgeliehen und ihn nie zurückgebracht. Darin befindet sich ein Gedicht, das schon beim ersten Lesen so tief an ihr Innerstes rührte, dass sie weinen musste. Inzwischen kennt sie es auswendig:
Selige Sehnsucht
Sag es niemand, nur den Weisen,
Weil die Menge gleich verhöhnet,
Das Lebend´ge will ich preisen,
Das nach Flammentod sich sehnet.
In der Liebesnächte Kühlung,
Die Dich zeugte, wo Du zeugtest,
Überfällt Dich fremde Fühlung
Wenn die stille Kerze leuchtet.
Nicht mehr bleibest Du umfangen
In der Finsternis Beschattung,
Und Dich reißet neu Verlangen
Auf zu höherer Begattung.
Keine Ferne macht Dich schwierig,
Kommst geflogen und gebannt,
Und zuletzt, des Lichts begierig,
Bist Du, Schmetterling, verbrannt.
Un solang Du das nicht hast,
Dieses: "Stirb und werde!"
Bist Du nur ein trüber Gast
Auf der dunklen Erde.
Etwas, das zunächst einen Gegensatz darzustellen scheint: Tod und Leben. Entweder oder. Entweder lebendig oder tot. Tertium non datur. Wo der Tod ist, ist kein Leben. Dennoch untrennbar miteinander verbunden. Das eine bedingt das andere. Wo Tod sein will, muss zuvor Leben sein. Etwas, das nicht war, kann nicht "nicht mehr" sein. Tod ohne Leben? Es scheint ihr plötzlich nicht mehr evident zu sein. Tot kann auch etwas sein, das zuvor nicht gelebt hat. Doch Leben ohne Tod? Das setzt Ewigkeit voraus, Unendlichkeit. Hach, wie sehr sie dieses Wort doch liebt: Unendlich. Sie versucht sich die Unendlichkeit vorzustellen und lächelt dabei. So sehr sie auch nach der Grenze sucht, sie findet keine. Ein Glücksgefühl durchzieht sie, ihr Zwerchfell scheint zu platzen.
Goethe zieht eine Linie vom Leben zum Tod. Das Lebendige, das sich nach dem Flammentod sehnt. Welch Verzweiflung doch hinter diesen Versen steckt! Das Leben ist sie, ein sprudelnder Quell, ein Brunnen, der sich stets kurz vorm Überlaufen befindet. Freude, Trauer, Liebe, Wucht, Sehnsucht, Verzweiflung. Ihre Verzweiflung ist es, die sie in diesem Gedicht wiedererkannt hat. Sachte streicht sie sich eine blonde Strähne aus dem Gesicht. Ihr Leben, eine Aneinanderreihung von Gratwanderungen. Oftmals war sie schon abgerutscht und zog sich mit letzter Kraft wieder hoch. Hin und wieder fiel sie Dennoch tänzelte sie kurze Zeit später wieder am Abgrund und schüttelte die Bedrohung mit einem Schulterzucken ab. "Und Dich reißet neu Verlangen auf zu höherer Begattung." In die Höhe wollte sie und will sie. Nie gewöhnlich sein, immer besonders. Egal, in welche Richtung es sie trieb. Braves Mädchen, böses Mädchen, extremes Mädchen. Es war ihr immer ein Gräuel, Mittelmaß zu sein. Ganz oben oder ganz unten.
Dieses Mädchen nun sitzt auf ihrem Sofa und ist glücklich zu denen zu gehören, die sich von ihrem Verlangen leiten lassen. Begierden befriedigen. Luft atmen. Verbrennen. Wiedererstehen wie Phönix aus der Asche. Schockieren, überraschen.
Tränen laufen ihr über die Wangen. Es ist die Erinnerung, die sie zu sehr mitnimmt. Die Tragik, die das Leben mit sich bringt. Das Leben und der Tod. Die Ehrfurcht, das Erschaudern vor den großen Dingen. Sie erinnert sich:
Ganz allein hatte sie den Raum gefunden in der Klosteranlage "Unser Lieben Frauen" in Magdeburg. Sie hatten ein Ticket für die Kunstausstellung gekauft, um in die Räume des alten Stifts zu kommen. Dietmar hatte den Wunsch geäußert und ihm konnte sie keinen Wunsch abschlagen - obschon es ihr widerstrebte, die kostbare Zeit, die ihnen in dieser wundervollen Stadt zur Verfügung stand, mit moderner Kunst zu verschwenden. Sie stand in diesem kleinen Raum mit Kreuzrippengewölbe. Zwei Quadratmeter waren es, maximal. Die Enge und die Dunkelheit tat ihr jedoch gut. Auch die Stille. Die Stille in dem Raum, der nur erleuchtet wurde vom laufenden Fernseher. Darauf zu sehen war eine Brandung. Die Felsen hoben sich stolz vom kiesigem Strand ab und ragten in den wolkenverhangenen Himmel. Ferne war zu sehen. Dann jedoch kam alles näher. Die Umrisse wurden klarer und man erkannte eine menschliche Gestalt just da, wo die Wellen auf die Steine trafen. Noch näher. Eine Frauengestalt. Sie war nackt und ihre blasse Haut wirkte unschuldig und unberührt. Näher. Ihre Hüften kreisten und nach und nach konnte man einen Reifen erkennen, der ihre Taille umspielte. Näher. Die Mitte ihres Körpers war mit kleinen roten Punkten übersät. Nun erkannte man auch, dass ihr Hula-Hoop-Reifen mit Stacheldraht überzogen war. Immer näher, immer tiefer. Immer tiefer gruben sich die Stacheln in ihr Fleisch. Die Kamera kam immer näher an ihrem Bauch. Das Schamhaar war dicht und dunkel. Die Wunden begannen zu bluten und aus einigen Löchern in ihrem Bauch tropfte bereits ihr Lebenssaft.
Den Namen der Installation, die nach etwa fünf Minuten wieder von vorne begann, hat sie sich nicht gemerkt. Auch nicht die Künstlerin. Was sie sich jedoch gemerkt hat war, dass die Frau in der Brandung die Künstlerin selbst war. Sie hat sich absichtlich verletzt. Was müssen das für Schmerzen gewesen sein? Wie viel Selbstbeherrschung verlangt es einem Menschen nur ab, weiterzumachen, obschon man objektiv betrachtet vor Schmerzen vergehen müsste? Sie steckt voller Bewunderung für die Frau. Es ist eine Getriebene. Eine, die ein Projekt verfolgt und dem alles andere unterordnet. Welche Absicht steckt dahinter? Eine Überheblichkeit? Ein Vergleich mit Christus, der ebenso wie sie freiwillig den Dornenkranz nahm? Eine Demutshaltung? Der Hinweis auf das Werden und Vergehen? Ihr Bauch, ihre Scham. Die Weiblichkeit. Hier entsteht Leben. Der Bauch der Frau ist etwas, was einem vor Ehrfurcht erstarren lassen müsste. Das kleine Mädchen weint angesichts der Wucht, die ihr in diesem Gedanken gewahr wird. Hier entsteht Leben. Es ist der Ursprung des Lebens. Die Höhle. Der Platz, wo Wunder geschehen. Dieser Platz zerstört. Zerstört durch die Wucht des Stacheldrahts. Brennen. Schmerz. Feuer. "Das Lebend´ge will ich preisen, das nach Flammentod sich sehnet."
Der Tod und das Leben. Ganz nahe beieinander und doch so abgetrennt voneinander. Sie ist im Leben. Sie fühlt es. Es ist ganz und gar intensiv. Durchströmend, fesselnd, glücklich machend. Ihr Leben kreist um ihre Liebe. Um diesen abstrakten Begriff, über den sie schon so viele Worte verloren hat. Dieses Gefühl, das sich fassen lässt. Es lässt sich einfangen wie ein kleiner Vogel. Herrlich ist sein Gefieder. Vollkommen unschuldig wirken seine Bewegungen. Ganz und gar zerbrechlich scheint er und ein Bedürfnis wird geweckt, auf dieses Wunder acht zu geben. So zerbrechlich wie ein Vögelchen ist nämlich die Liebe. Nicht allen Menschen gelingt es, so ein entfliehendes Geschöpf wie ein kleines Vögelchen einzufangen und es in der Hand zu halten. Äquivalent scheint es ihr bei der Liebe zu sein: Nicht alle Menschen sind in der Lage, Liebe in ihrer reinsten und unschuldigsten Ausprägung zu erfahren. Sie hatte es versucht, doch es gelang ihr nicht. Vielleicht war die Zeit noch nicht reif. Vielleicht war sie zu ungeschickt. Vielleicht hatte das Schicksal sie aufgespart für das eine Vögelchen, das nun in ihrem Leben ist. Das sie in ihrer Hand hält. In allen Farben schimmert das Gefieder ihrer Liebe. Sie ist glücklich (während sie sich fragt, ob es ein Zufall ist, dass sie die Vogel-Metapher verwendet hat. Hat sie dieses Bild unbewusst Papageno entliehen?).
Glück ist es, das sie empfindet, das ist gewiss. Täuschung lauert überall, doch nicht im Gefühl. Das Gefühl kann einen täuschen, doch selbst ist es nie Täuschung. Es ist etwas Unmittelbares. Mittelbarkeit ist die Wurzel der Täuschung. Sender über Wahrnehmung zu Empfänger. Empfänger über Wahrnehmung zu Sender. Gefühl zu Empfänger. Unmittelbar. Das Gefühl zieht sie zu ihm. Er. Der Mann. Ihr Mann. Er ist es, der die Seele des kleinen Vogels ist, den sie in der Hand hält. Der Vogel ist ihre Wahrnehmung. Das Gefühl, das er ihr vermittelt, ist Liebe. Liebe ist es, die sie empfängt. Vom Vogel und aus sich selbst, aus dem Gefühl. Die Liebe zu ihm ist keine Täuschung, es ist in ihr drin. Sie hat Angst, dem kleinen Vogel nicht gerecht zu werden. Sie hat Angst, dass er ihr entschwindet. Ob es ihm ähnlich geht? Sie lehnt sich zurück und versucht die Angst beiseite zu schieben. Jetzt ist der Moment. Die Liebe ist da. Gespürt, wahrgenommen. Wieder ist es ein Gefühl, als würde ihr Zwerchfell explodieren. Wieder ist es etwas, das sie unmittelbar wahrnimmt. Es scheint unendlich zu sein, das hat sie ihrem Geliebten bereits mehrmals offenbart. Unendlichkeit des Gefühls, Unendlichkeit der Liebe. Eine ewige Ausdehnung auf räumlicher und zeitlicher Ebene. Die räumliche Unendlichkeit des Himmels wird nicht durch Wolken wettgemacht. Ebenso wenig wird die zeitliche Unendlichkeit dadurch beeinträchtigt, dass den Menschen für die Liebe nur ein begrenztes Fenster zur Verfügung steht. Etwas, das gefühlt ist, hat Bestand. Auch, wenn die Menschen vergehen, die es gefühlt haben. Gleichgültig, ob sich jemand daran erinnert, es ist da. Es ist im Raum, im unendlichen Raum.