Und vergiß nicht, ein frisches Taschentuch einzustecken...
„Meine Güte", durchfuhr es mich, „meine Güte, du hast kein frisches Taschentuch dabei." Dabei hatte ich sonst immer frische Taschentücher dabei. Ebenso, wie ich immer eine frische Unterhose trug. Doch vor allem ein frisches Taschentuch, das war es, worauf es ankam. Was heißt „ankam", darauf kommt es an, nur darauf.
„Ein Taschentuch ist wie eine Visitenkarte", hatte meine Mutter mir schon als Kind gepredigt. „Wenn Dein Taschentuch sauber ist, gibst du gleich einen ganz anderen Eindruck ab."
Und jetzt hatte ich keines dabei. Nur eines, das ich niemandem hätte ausleihen können. Und auch nicht mögen. Vermutlich hätte es auch niemand ausleihen wollen. Weder mein abgenutztes, vermutlich auch mein frisches nicht. Doch das hatte ich ja nicht einmal dabei, mußte ich voller peinlicher Verzweiflung feststellen. „Stell' dir vor, du hast mit dem Fahrrad einen Unfall", malte meine Mutter mir immer in den düstersten Farben aus, „und wirst ins Krankenhaus gebracht und hast ein schmutziges Taschentuch dabei oder eine schmutzige Unterhose an. Was sollen da die Leute von uns denken."
Mir drängte sich, ein bißchen zwanghaft beinahe, fast automatisch, immer das Bild auf: Ich auf dem Fahrrad unterwegs (ich fuhr ein äußerst schnelles Rennrad), auf dem Gepäckträger ein Stapel frischer Unterhosen und ein Stapel frischer Taschentücher. Mit Monogramm. Die Taschentücher. Meine Unterhosen trugen nie eines. Ein Monogramm, meine ich. Von einem LKW überrollt, sterbend im Rinnstein liegend, würde ich noch mit allerletzter Kraft eine frische Unterhose von dem Stapel zerren, mich der alten, bremsspurbehafteten Unaussprechlichen entledigen, die frischgewaschene, neue anziehen, mein benutztes Taschentuch durch ein neues ersetzen und dramaturgisch wirkungsvoll, nicht ohne Hinweis auf die frischen Wäschestücke, sterben. Und wenn ich dann vor meinem Schöpfer stünde könnte ich keine Argumente zu meiner Entlastung oder Entschuldigung anbringen außer dem einen: ...aber ich habe eine frische Unterhose an und ein frisches Taschentuch in der Tasche. Ein bißchen dürftig, vielleicht, aber immerhin.
Und in meinem Nachruf würde stehen: Er war zwar zu blöde zum Radfahren, aber er hatte eine frische Unterhose an und ein frisches Taschentuch in der Tasche. Auch der Polizeibericht würde sich ähnlich ausnehmen: „...fuhr der Schüler R. H. auf der Soundsostraße in Richtung Soundso, als er von einem LKW erfaßt und schwer verletzt wurde. Nachdem er gerade noch Unterhose und Taschentuch wechseln konnte, verschied er noch an der Unfallstelle."
Und die Reden zu meiner Beerdigung. Viel gibt es über einen fünfzehn- oder sechzehnjährigen Schüler ja nicht zu sagen. Er hat ja kaum gelebt. Eigentlich hat er überhaupt noch nicht richtig gelebt. Einige warme Worte von Pastor und vielleicht noch dem Mathe- und Chemielehrer - das war's. Aber die Tatsache der frischen Unterhose und des frischen Taschentuches würde Scharen von Beerdigungsrednern auf den Plan rufen. Denn wer, bitteschön, außer mir, wäre denn schon mit diesen sensationell frischgewaschenen baumwollenen Attributen ins Jenseits gegangen worden?
Und schließlich: Wie sieht denn das aus? Ein prachtvoller eichener Sarg, darinnen im aus golddurchwirktem Brokat gefertigten „letzten Hemd" der dahingeschiedene Schüler - aber keine frische Unterhose, kein frisches Taschentuch? Das geht doch wirklich nicht! Was kriegen die Leute denn für einen Eindruck von uns! Dabei sagt man doch aber: „Das letzte Hemd hat keine Taschen." Egal, Taschentuch muß sein! Und frisch!
„Oder auch, wenn du mal zum Zahnarzt mußt". Ich habe zwar noch nicht sehr viele Zahnärzte kennengelernt, doch niemals hat sich einer von ihnen auch nur im Entferntesten für meine Unterhosen interessiert. Für meine Taschentücher auch nicht. Wirklich niemals, Ehrenwort.
Als ich dann älter wurde, meiner unwesentlichen persönlichen Ansicht nach auch ein wenig reifer, lernte ich irgendwann meine heutige Frau kennen. Als wir noch „nur" befreundet waren, meine Mutter hatte das bald spitzgekriegt - Mütter bekommen alles mit - nahm sich mich nun erwachsenen Sohn irgendwann diskret beiseite: „Hör' mal Junge, das muß ich dir sagen - eine junge Frau legt ganz gewiß Wert auf frische Taschentücher. Und frische Unterhosen hast du ja wohl immer an und dabei?" Mir war diese sehr direkte und indezente Ansprache peinlich. Aber Mütter dürfen wohl so sein. Oder müssen sie es sogar?
Als meine Frau und ich heiraten wollten, nahm ich meine mittlerweile verwitwete Mutter mit zum Ort der Hochzeit, dem Wohnort meiner Schwiegereltern. Wir saßen im Auto auf dem Weg zur Autobahn als meine Mutter sich ans Herz griff, und heftig aufstöhnte so daß ich in tiefe Sorge um ihren Gesundheitszustand geriet und mich dann unvermittelt fragte: „Hast du auch frische Unterhosen und Taschentücher dabei? Immerhin heiratest du am Samstag." Ich konnte sie beruhigen. In Gedanken allerdings fesselte ich sie mit zusammengeknoteten frischgewaschenen Taschentüchern an eine riesigen Stapel frischgewaschener Unterhosen... Die Hochzeit lag lange hinter uns, wir waren inzwischen umgezogen und wohnten näher bei meiner Mutter. Eines Tages hatte ich etwas für sie zu besorgen, was ich ihr in ihre Wohnung brachte. Nach einem kurzen Gespräch über dies und jenes schritt sie im Schlafzimmer zu ihrem Wäscheschrank wobei sie mich aufforderte, ihr zu folgen. Sie öffnete eine der Türen und zeigte mir - einen ordentlich aufgetürmten Stapel frisch gewaschener Unterhosen. Mit Pathos in der Stimme und nicht ohne Stolz verkündete sie mir, daß sie für alle Fälle und auch für „den Fall der Fälle" vorgesorgt habe. „Und Taschentücher, nur für den Fall, daß ihr mal gefragt seid, sind in diesem Fach."
Ich floh Hals über Kopf aus der beunterhosten Wohnung meiner Mutter, sprang in mein Auto und fuhr wie von Furien gehetzt nach Hause. Dort angekommen wollte ich in unser Schlafzimmer stürzen um mir vor all dem Unterzeug und Schneuzzeug die Decke über den Kopf zu ziehen, als meine Frau mich im Treppenflur abfing: „Hier Schatz, nimm das bitte mit nach oben. Frischgewaschene Unterhosen, einige habe ich sogar gestopft...."
Doch diese beiden in meinem Leben so schicksalhaft wichtig gewordenen Baumwollaccessoires habe auch ihr Gutes: Ohne sie hätte ich diesen Unsinn bestimmt nicht geschrieben.