Und Troja brennt immer noch...
Und Troja brennt immer noch...
In Gedenken an Morty, der eigentlich eher selten mit dem Bus fuhr
Es war ein recht sonniger Dienstag, als Orson Welles morgens sein Haus verließ, um zur Garage zu gehen, in sein Auto zu steigen und zur Arbeit zu fahren.
Dieses Vorhaben wurde jedoch abrupt durch ein verdächtig ungesundes Geräusch aus Richtung Kühlerhaube unterbunden. Der Motor hatte den Geist aufgegeben. Orson, der übrigens nichts mit dem Orson Welles gemeinsam hatte, fluchte einige Augenblicke vor sich hin, dann entschied er, einfach den Bus zu nehmen. Also stieg er wieder aus der toten Hülle seines Autos und ging zügigen Schrittes zur nahegelegenen Bushaltestelle.
Neben einer skurril gekleideten Dame Mitte 50, vermutlich eine dieser dubiosen Kommunikationstrainerinnen, stand auch ein junger Mann an der Bushaltestelle, doch beide nahmen keinerlei Notiz von Orson, der mit seiner ledernen Arbeitstasche ehrlich gesagt sehr unscheinbar wirkte. Der Bus tauchte nach einigen Minuten hinter der Ecke des malerischen Häuserblocks auf und hielt sozusagen direkt vor Orson. Die Kommunikationstrainerin und der junge Mann stiegen hinten ein. Vermutlich verfügten beide unabhängig voneinander über eine Monatsfahrkarte, was natürlich dagegen sprach, dass die Dame Mitte 50 tatsächlich Kommunikationstrainerin war. Vielmehr war sie wohl eine mittelständische Hausfrau, die gern wie eine erfolgreiche Businesslady wirken wollte, denn Hausfrauen verfügen entweder über einen parklückenoptimierten Kleinwagen oder eine Monatsfahrkarte. Kommunikationstrainerinnen hingegen fahren für gewöhnlich eine schicke Limousine.
Da Orson im Gegensatz zu den beiden ehemaligen Mitwartenden nicht über eine Monatsfahrkarte oder zumindest ein Tagesticket verfügte, stieg er vorne beim Fahrer ein und löste eine Einzelfahrkarte. Dies war zwar, wenn man es einmal hochrechnen wollte, wesentlich teurer, aber da Orson nicht davon ausging, über einen längeren Zeitraum auf die öffentlichen Nahverkehrsmittel angewiesen zu sein, nahm er diese Tatsache stillschweigend und mehr oder weniger unbewußt hin.
Trotz des näher betrachtet unverschämten Fahrpreises brachte der Bus Orson an sein Ziel. Dieses wurde verkörpert von einem relativ hohen spiegelverglasten Bürogebäude, das trotz zahlreicher Stockwerke nicht ganz als Hochhaus durchging. In diesem Büro verrichtete Orson täglich seine Arbeit in der Lohnbuchhaltung. So auch an diesem Tag.
Der Vormittag eilte mit großen Schritten dem Mittag entgegen. Zu dieser Zeit pflegte Orson Welles in der Kantine zu essen. Der für ihn recht ungewöhnliche Anfahrtsweg hielt ihn auch an diesem Tag nicht von diesem kleinen alltäglichen Ritual ab. Es war 13 Uhr, als Orson Welles von seinem Schreibtisch aufstand, die Rufumleitung des Telefons auf die Nummer seiner Kollegin am Schreibtisch gegenüber umstellte und das angenehm klimatisierte Büro verließ. Er durchquerte den breiten Flur und erreichte schon nach wenigen Schritten den Fahrstuhl. Obwohl Orson Fahrstühle nie gemocht hatte, stieg er hinein, als die Türen auseinanderglitten und den Weg in die metallene Kabine freigaben. Orson drückte den Knopf, der ihm die freie Fahrt ins Erdgeschoß versprach und fuhr nach unten. Dort angekommen verließ er den Fahrstuhl wieder und betrat die der Fahrstuhltür gegenüberliegende Kantine.
Etwa zwei Minuten stand er unentschlossen vor der mit Kreide an eine große Tafel geschriebenen Tageskarte und überlegte hin und her, entschied sich dann jedoch für ein Jägerschnitzel mit Kroketten. Geduldig stellte Orson Welles sich in die Schlange der Wartenden und rückte seinem Mittagessen Schritt für Schritt näher. Nachdem die füllige Dame hinter der Theke einen Teller mit einem Jägerschnitzel und Kroketten auf sein Tablett gestellt hatte, ging Orson noch zum Getränkeautomaten. Er stellte sein Tablett kurz daneben ab, nahm ein Glas und ließ es vom surrenden Automaten mit Mineralwasser füllen. Nachdem dieser Vorgang abgeschlossen war, stellte er das Glas neben den Teller und machte sich mit dem gefüllten Tablett auf den Weg zu seinem Stammplatz.
Der Platz lag nicht direkt am Fenster, vielmehr neben einem größeren Blumenkasten in der Mitte des Raumes. Doch da die Wand der Kantine große Fenster hatte, fiel genug Tageslicht auf den Tisch. Orson stellte sein Tablett ab und setzte sich auf einen der drei Stühle, nämlich auf den, von dem aus er den besten Blick aufs Fenster hatte. Orson mochte es, beim Essen die vorbeigehenden Passanten zu beobachten und sich zu jedem von ihnen eine kleine Lebensgeschichte zusammenzuspinnen. Doch an diesem Tag hatte er keine Gelegenheit dazu.
Schon nach der ersten Krokette sprach eine angenehm vibrierende und trotz ihrer Sanftheit ungemein erotisch wirkende Stimme Orson an. Orson drehte sich um, damit er sich davon überzeugen konnte, dass er nicht träumte. Die angenehm vibrierende und auf Orson so erotisch wirkende Stimme gehörte Frau Becker-Liesenthal aus der Personalabteilung. Orson hatte schon öfter mit ihr zu tun gehabt, wenn er Fragen zu bestimmten Gehaltsabrechnungen hatte, doch privat hatte er sie – sehr zu seinem Bedauern – noch nie getroffen. Sie hielt ein Tablett in den Händen, auf dem ein Teller mit Jägerschnitzel stand und sie fragte Orson, ob sie sich zu ihm setzen dürfe. Ein Traum wurde wahr!
Frau Becker-Liesenthal setzte sich gegenüber von Orson, der natürlich bejaht hatte, an den Tisch und blockierte so zumindest teilweise die Sicht aufs Fenster. Doch erstens war sie recht zierlich gebaut und verdeckte somit nicht einmal den Eingang des gegenüberliegenden Friseursalons und zweitens sah Orson ihr zartes Gesicht viel lieber als den Eingang des gegenüberliegenden Friseursalons. Etwas schüchtern zerteilte Frau Becker-Liesenthal eine Krokette und begann, Orson in ein Gespräch zu verwickeln. Orson war hingerissen. Gebannt klebten seine Blicke an ihren Lippen, wie Kaugummi an heißen Tagen unter der Schuhsohle klebt. Zwischen zwei Krokettenstücken lächelte Frau Becker-Liesenthal und da war es um Orson Welles geschehen. Innerlich wuchsen ihm Flügel, er erhob sich vom Tisch und drehte eine elegante Runde um die weniger elegante Neonbeleuchtung an der Decke. Ein weiteres Krokettenstück später bot Frau Becker-Liesenthal, die mit Vornamen Ingrid hieß, ihm das „du“ an. Orson stellte sich als Orson vor und tänzelte im Geiste über eine frühlingsgrüne Wiese, warf überschwenglich mit Blumen und erwartete mit offenen Armen die ihm entgegenlaufende Ingrid. Das weitere Gespräch wurde in seinen Ohren zu einem Singsang, gleich dem der berühmt-berüchtigten Sirenen, sein Blick verschwamm in den von dezentem Make-up umrahmten Augen der gegenübersitzenden Ingrid und er bemerkte nicht einmal die ungestüm die Straße vor dem Kantinenfenster hinunterstürmende Wikingerhorde. Leise säuselte er immer wieder: „Ingrid, ach Ingrid!“ und trudelte in einen reißenden Strudel höchster Glückseligkeit, während der Friseursalon gegenüber den wütenden Attacken der Wikinger zum Opfer fiel. Orson bekam nichts davon mit. Er sah das Gebäude nicht einstürzen, er sah nur die bezaubernde Ingrid. Er hörte die Trümmer nicht aufeinander krachen, er hörte nur Ingrids Stimme, die schüchtern fragte, ob er, Orson Welles, mit ihr ins Kino gehen und sich einen als äußerst romantisch angekündigten Film ansehen wollte. Und ja! Das wollte er! Dass die Wikingerhorde aus seinem Blickfeld verschwand, nahm Orson gar nicht zur Kenntnis, auch nicht den zurückgebliebenen Wikinger, der irritiert auf den Schutt starrte. Orson wußte nur, dass dies der Augenblick war, auf den er schon so lange gewartet hatte! Vergessen war das Auto, das den Geist aufgegeben hatte! Ebenso egal war der letzte verbliebene Wikinger, der jetzt langsam mit schlurfendem Gang den anderen folgte! Vergessen war das Jägerschnitzel, die übrigen Kroketten und das Mineralwasser! Orson sprang auf, Ingrid sprang auf und sie fielen einander überglücklich in die Arme und tanzten ausgelassen um den Blumenkasten neben dem Tisch.