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Und sie liebte ihn
Lisa stand dem Mann gegenüber, den sie sich immer gewünscht hatte. Groß und stark hatte er sein sollen, dazu ein starker Wille und selbstbewusste Dominanz. In den Nächten der letzten Woche hatte sie sich diesen Moment häufig ausgemalt. Den Moment, in dem sie all ihre Gefühle vor ihm offenbaren würde. Sein Gesicht, sobald er entweder begriff, dass sie während der Küsse das Gleiche gespürt hatte, wie er, oder aber erkannte, dass sie das Alles viel zu ernst genommen hatte. Diese Möglichkeit hatte sie allerdings sofort wieder verdrängt, sobald sie sich in ihrem Kopf einnisten wollte.
Aber jetzt, wo es so weit war, hatte sie Angst, dass sie ihm nichts bedeutete, dass sie für ihn nur ein naives kleines Kind war, mit dem man sich die Zeit vertreiben konnte, nicht mehr.
Nervös strich sie sich die Haare aus dem Gesicht. Verdammt, mit dieser Geste würde sie ihm jetzt garantiert ihre Aufregung gezeigt haben. Er kannte sie doch wie seine Hosentasche!
„Wie würdest du reagieren, wenn ich dir jetzt sagen würde, dass ich dich liebe?“
Er dachte lange nach. Sehr lange. Fast schon zu lange, befand Lisa. Seine sonnengebräunte Haut legte sich auf der Stirn in Falten des Nachdenkens. Gerade, als sie sich mehr oder weniger geschickt wieder aus der Affäre ziehen wollte, antwortete er.
„Vielleicht wäre ich verwirrt und wüsste nicht, wie ich das aufnehmen sollte. Oder ich wäre überglücklich. Oder aber ich wäre unsicher, weil wir uns schon so lange kennen…“
Lisa zuckte kurz zusammen, als ihr sechundzwanzig Jahre älterer Urlaubsflirt sie an die kurze Dauer ihres Kennenlernens erinnerte. Vor zwei Wochen hatte er sie am Strand vor dem italienischen Hotel angesprochen und auf ein Eis eingeladen. Und während sie dieses geschleckt hatte, waren sie sich in einem tiefsinnigen Gespräch näher gekommen. Nie hätte Lisa gedacht, dass ein erwachsener Mann die Probleme und Sorgen einer Vierzehnjährigen so gut verstehen würde.
„Was wäre dir denn am liebsten?“, holte er sie aus ihren Erinnerungen zurück.
„Ich denke, das Zweite wäre am schönsten…“ Verflucht noch mal, jetzt färbten sich ihre blassen Wangen schon wieder rosa. Das hasste Lisa doch so an sich.
„Du bist niedlich, wenn du rot wirst.“ Sein rauer Finger fuhr über die roten Wangen und sah sie nachdenklich an.
Lisa lächelte glückselig. Diesen Spruch hatte sie schon so oft von Lehrern und Klassenkameraden zu hören bekommen und jedes Mal gereizt reagiert. Wer ist schon gerne niedlich oder süß? Aber wenn er es sagte, war es etwas ganz anderes. Niedlich zu sein, das ist doch gar nicht so schlimm, wenn der Traumtyp das denkt, oder?
Plötzlich wurde sie mutig.
„Ich liebe dich“, sagte sie und sah ihm fest in die grauen Augen.
Er grinste und sagte: „Ich liebe dich auch."
Dann beugte er sich vor und küsste sie, wie er es schon so oft getan hatte.
Doch dieser Kuss war irgendwie anders.
Vielleicht war sie einfach befreiter? Oder lag es an ihm?
Lisa war sich etwas unsicher, weil sich ein merkwürdiges Gefühl in ihrer Magengrube entwickelte, als er, wie immer, eine seiner großen Hände auf ihren Hintern legte. Was wollte er? Und was war nur los mit ihr? In der Theorie war doch alles wie immer.
Sein anfangs zarter Kuss wurde fordernder und seine breiten Finger gruben sich in ihr Fleisch.
Sie wollte sich von ihm lösen, als ihre innere Alarmglocke zu läuten begann, doch die starke Hand in ihrem Nacken ließ sie nicht los. Panik überkam sie. War er doch nicht der besorgte freundliche Mann, in den sie sich verliebt hatte? Hatten ihre Eltern etwa doch Recht gehabt, als sie Lisa vor so viel älteren Männern gewarnt hatten?
Ihre Arme stießen ihn von sich, doch er klammerte sich an ihr fest. Sie konnte sich nicht wehren. Wie in Trance bekam sie mit, wie ihr Traum sich in einen Albtraum verwandelte.
Er konnte mit ihr tun und lassen, was er wollte.
Heiße Tränen der Erkenntnis liefen ihre eiskalten, schneeweißen Wangen hinunter, während ihr durch den Kopf fuhr, dass sie besser doch auf ihre Mutter gehört hätte.