...und ohnmächtig sehe ich zu.
„Wie geht es dir?“, fragte ich Hanna und legte meinen Arm auf die Schulter des schweigsamen Mädchens. „Danke gut!“, war ihre Antwort. Augenblicke des Zögerns vergingen, dann sagte sie: „Naja, nicht so gut.“
Sie schob ihr langes, schwarzes Haar hinter ihr linkes Ohr und deutete darauf. „Sehen Sie? Das hat mein Papa gemacht.“ Die Strähnen verdeckten das Ohr wieder, bevor ich noch einen Blick darauf werfen konnte. Ich brauchte einen Moment, um die Situation zu erfassen, hob dann langsam meinen Arm und streifte nach einem kurzen, fragenden Blick vorsichtig die schwarze Mähne beiseite. Eine blutunterlaufene Ohrmuschel leuchtete mir entgegen - ich hatte so etwas noch nie zuvor gesehen!
„Und das auch!“ Hannas Stimme zitterte unter ihren ersten aufsteigenden Tränen, während sie die Ohrmuschel nach vorne bog. Direkt dahinter das selbe Bild. Der Schädelknochen des dreizehnjährigen Mädchens leuchtete in all den Farben, die ein kräftiger Schlag nur hinterlassen konnte.
An jenem Morgen, der mein ziemlich blauäugiges Lehrerleben mit einem Schlag ändern sollte, hatte ich gerade Gangaufsicht. Ich war gut drauf, patrouillierte über die Gänge und beobachtete die nach und nach eintrudelnden Schüler, wie sie geschwätzig und lachend, teils verschlafen zu ihren Klassen schlenderten. Ich liebte meinen Beruf und tu es noch, aber heute unter völlig anderen Gesichtspunkten. Meine Blauäugigkeit, meine rosarote Brille habe ich an jenem Morgen verloren.
Hanna stand vor mir, in ihren Augen funkelten die Tränen, funkelte Zorn über das, was passiert war, lag Verständnislosigkeit, schrie es um Hilfe. „War das ein „Ausrutscher?“, fragte ich, obwohl ich die Antwort schon wusste. Hanna schüttelte den Kopf. Das sonst so stille Mädchen hatte nach all den Jahren endlich ihr Schweigen gebrochen.
Schon in den ersten Schultagen, in denen ich „meine Kinder“ kennen gelernt hatte, war mir aufgefallen, dass Hanna die stillste unter all den Schülern war. Selten kam ein Wort über ihre Lippen. Noch seltener ein ganzer Satz. Der Kindermund diente nur dazu, nie geöffnet zu werden. Sorgte dafür, ein grausames Geheimnis zu verschließen, das ich in den folgenden Tagen und Wochen noch kennen lernen sollte - nein, nach drei Jahren, in denen ich Hanna nun kannte, endlich kennen lernen durfte.
Die Schulglocke rief zur Pflicht.
Kurz drückte ich sie noch an mich, spürte, wie auch mir Tränen in die Augen stiegen, die ich mit meiner angezüchteten Vernunft gerade noch unterdrücken konnte, dann schob ich sie auf Armeslänge von mir, sah in ihre rehbraunen Augen und - musste sie auf die nächste Pause vertrösten.
Ich hatte Unterricht. Nur eine Stunde, doch die kam mir vor wie ein ganzer Tag. Ständig flogen meine Gedanken fort, versuchten sich vorzustellen, wie es zu dem Bluterguss hatte kommen können, versuchten die Tiefe dieser Kinderseele, die jahrelang schier Unmögliches ertragen musste, zu ergründen. Am liebsten wäre ich geblieben, hätte sie in den Arm genommen, mit ihr geweint.
Nach meinem Unterricht raste ich zu Hanna. Schon von weitem sah ich, dass sie auf mich wartete. Sie lächelte mich an. Ein dankbares Lächeln. Gemeinsam mit ihrer besten Freundin Karin, die über alles Bescheid wusste, die Hanna absolutes Schweigen versprochen hatte, folgte sie mir wortlos in einen leerstehenden Klassenraum.
Karin war die jenige, die mir völlig aufgebracht alle Details aus Hannas traurigem Kinderleben berichtete. Von den Stockschlägen, vor denen ihr Vater das Fenster immer sorgsam verschloss, von den Fausthieben, die er gänzlich grundlos an sie und ihre Schwestern verteilte, von dem Alleinsein, eingesperrt in ihrem Zimmer und von den vielen anderen Dingen, die mein gesunder Verstand nicht fassen konnte.
Hanna hielt die ganze Zeit über meine Hand, ihr Blick war gesenkt.
Mit der flehentlichen Bitte, nur ja niemandem davon zu erzählen, und schon gar nicht die Eltern zu einem Gespräch in die Schule zu holen, fanden wir nach einigen Stunden zu einem erschöpften Ende. Ein Ende, das erst der Anfang sein sollte. Der Anfang eines neuerlichen Schweigens.
Hanna schien es in den nächsten Tagen besser zu gehen. Wahrscheinlich schon alleine deswegen, weil sie wusste, dass ich es wusste. Ich konnte einen Teil der Last mit ihr tragen. Aber diese Last wurde zusehends zur Belastung. Sollte ich handeln? Wie sollte ich handeln? Sollte ich auch schweigen? Sollte ich tatsächlich auf die Bitte des Mädchens Rücksicht nehmen? Wie konnte ich ihr damit eine Hilfe sein? Gleichzeitig wusste ich, dass ich ihr schon längst eine Hilfe war. Und ich wusste auch, ich würde das Vertrauen brechen müssen, das sie endlich zu einem Menschen gefunden hatte!
Wochenlang hatte ich Zweifel. Wochenlang verschleppte ich die Meldepflicht. Wochenlang erzählte mir Hanna von ihrem Martyrium. „Aber ist alles nicht so schlimm, solange er nur nicht das Fenster schließt“, versicherte sie mir immer wieder.
Doch er hatte das Fenster wieder einmal geschlossen. Das reichte! Unser Schularzt war im Haus ......
Es musste etwas geschehen! Es konnte nicht sein, dass ich hier ohnmächtig zusah, der Bitte eines geschlagenen Mädchens nachgebend.
Von da an begann das Formelle seinen Lauf zu nehmen. Schulärztliche Kontrolle, blaue Flecken an Rücken, Oberarmen und Oberschenkel, Besprechung mit der Direktorin, Verständigung des Jugendamtes, ein formloses Schreiben mit dem Ersuchen, man möge behutsam vorgehen, da das Mädchen womöglich mit Konsequenzen für ihr Handeln zu rechnen hätte.
Ich machte mir Vorwürfe, hätte am liebsten alles rückgängig gemacht. Ich hatte wirklich kein gutes Gefühl dabei und es sollte mich nicht enttäuschen.
Denn schon nach wenigen Tagen stand ein völlig eingeschüchtertes dreizehnjähriges Mädchen vor mir und blickte mich mit seinen hilfeschreienden, rehbraunen Augen an. „Wie geht es dir?“, fragte ich Hanna vorsichtig und legte meinen Arm auf ihre Schulter. „Danke gut“, flüsterte sie und ihre Stimme zitterte unter den ersten aufsteigenden Tränen.