Und jetzt fällt mir kein Titel ein...
Als ich zum ersten Mal in diese Stadt kam, kannte ich mich noch überhaupt nicht aus. Ich stieg einfach am Bahnhof meiner alten Heimat in den Zug der Zeit und setzte genau heute vor einem Jahr am Bahnsteig vier meinen Fuß zum ersten Mal auf den Boden dieser modernen, schnelllebigen Metropole. Ich sah mich ein bisschen um, fand Geschäfte, die mich nicht lockten, Wohnungen, deren Besitzer Bilder, Geschichten, Kochrezepte, Tips für jede Lebenslage und vieles mehr in ihren Räumen ausstellten und auf Besucher hofften, sowie kleinere und größere Kaffeehäuser, die zum Teil nur bestimmte Gesprächsthemen ihrer Gäste duldeten.
Die ersten drei Monate verbrachte ich großteils in einem dieser Cafés, das recht belebt schien und ein Thema bot, das mich interessierte. Ich hörte mich ein wenig um und überwand mich, einen Menschen in dieser seltsamen Stadt anzusprechen, dabei hatte ich ein mulmiges Gefühl... Es dauerte eine Weile, bis er mir antwortete, er begrüßte mich aber herzlich und ich hatte den ersten Kontakt geknüpft. Jetzt schien alles leichter, denn schon kamen andere Menschen auf mich zu, die mich ebenfalls ansprachen und sich auch mit mir unterhalten wollten. Das freute mich sehr, insbesondere da ich ja aus meiner alten Heimat eher die Zurückhaltung und die Schüchternheit oder auch Ablehnung kannte, die die meisten Menschen ausstrahlten.
Es lief alles ein bisschen anders hier und alle waren per Du. Manchmal bekam man die Antwort schneller, manchmal dauerte es länger, je nachdem, wie oft der Gesprächspartner da war. Denn man konnte auch mit Leuten reden, die zum Beispiel gerade zuhause schliefen oder zu jemand ganz anderem sprachen. Man sagte einfach seine Worte heraus und der andere hörte sie sich an, wann immer er Zeit hatte und gab dann die Antwort.
Ich fand das sofort sehr praktisch, die Worte blieben sozusagen in der Luft hängen, bis mein Gesprächspartner wiederkam und sie in seine Gehörgänge eindringen ließ. Ich war hier plötzlich nicht mehr darauf angewiesen, mir Termine auszumachen, die dann irgendjemand nicht einhielt. Dieses Verfahren brachte natürlich noch mehr Vorteile mit sich. Man konnte, wenn man wollte auch einmal länger nachdenken, bevor man seine Meinung zum Ausdruck brachte. Oder während man sie sagte, zwischendurch aufs Klo gehen, ohne dass der Zuhörer es irgendwie bemerkte und man sich entschuldigen mußte, oder auch mit vollem Mund sprechen und er sah es nicht. Man gab ja die Sprechblase erst ab, wenn man alles hineingesprochen hatte, was man loswerden wollte. Ja, er sah es nicht einmal, wenn man frisch aus der Badewanne noch nackt vor ihm saß und ihm dabei von Politik erzählte. Außerdem passte der Chef des Lokales auf, dass niemand böse Worte in seine Sprechblasen steckte, diese wurden dann sofort wieder aus der Luft gefangen und restlos vernichtet.
Eine zeitlang gefiel es mir ganz gut, in diesem Café. Doch dann begann der Chef, der alleine dort reg.. arbeitete, immer mehr Worte aus der Luft zu fangen, Worte, von denen auch alle anderen, die sie bereits gehört hatten, meinten, es gäbe keinen Grund für sein Tun.
Zufällig bekam ich durch einen anderen Gast in diesem Café das Flugblatt eines anderen Lokals und schaute dort kurz hinein, der erste Eindruck war etwas seltsam, aber ich hatte doch das Gefühl, dass es ganz interessant sein könnte und machte hin und wieder einen Blick hinein.
Der Chef drehte nun völlig durch und man durfte in seinem Lokal nicht mehr frei kommunizieren, sondern er wollte haben, dass man die Worte, die man sagen wollte, zuerst bei ihm abgibt, damit er sie prüfen und von allen Seiten begutachten konnte, bevor er diese Sprechblasen in den Raum stellte. Viele Worte verschwanden daraufhin, und so auch immer mehr Gäste.
Auch ich verließ dieses Lokal nun. Zu diesem Zeitpunkt fehlte es mir aber auch nicht mehr. Viele wesentlich interessantere Menschen fand ich in diesem neuen Lokal und es gab auch viel mehr Gesprächsthemen, ja, man konnte eigentlich über alle Themen sprechen, wenn man nur die richtigen Worte fand.
Abgesehen, davon, dass es mich auch architektonisch mehr ansprach, was mir aber nicht wirklich wichtig war, hatte man in diesem Kaffeehaus auch noch die Möglichkeit, selbst sein Gesagtes wieder zurückzunehmen, oder umzubessern. Man konnte seine Worte einfach wieder aus der Sprechblase nehmen, andere hineinsprechen oder sie leer lassen, und die selbe Sprechblase wieder an den selben Ort hängen, nur eben mit verändertem Inhalt.
Es war ein sehr großes Café mit vielen Räumen, in das ich da geraten bin, dessen Umfang ich erst nach und nach ausmachte. Der Lokalmeister, wie er sich nannte, hatte einige Angestellte, die ihm halfen, sein Lokal von Beleidigungen und Beschimpfungen sauber zu halten und das funktionierte ganz gut, zumal ja großteils nur wirklich nette Leute hier waren. Manchmal kam es auch vor, dass jemand Etwas in das falsche Zimmer sagte. Dann schoben die Angestellten die Sprechblase an den richtigen Platz – die sind nicht sehr schwer, selbst die größten Sprechblasen konnte einer alleine schieben. Ansonsten, wenn es gerade nichts zu tun gab, waren die Angestellten ganz normale Menschen, die sich mit den anderen unterhielten. Keiner von ihnen war nur zum Arbeiten da und es war überhaupt sehr gemütlich hier. Der Lokalmeister selbst war ein richtiger Heimwerker, der nur selten seinen Werkzeuggurt ablegte und immer irgendwo etwas zu Basteln hatte.
Ich erkannte immer mehr den Wert dieses Cafés und verbrachte mehr und mehr Zeit darin, fing an, mich richtig wohl zu fühlen, süchtig zu werden. Das hatte einen einfachen Grund: Ich spürte Menschlichkeit und Ehrlichkeit.
Ich lernte mithilfe der Menschen hier, meine Worte so zu wählen, dass sie die richtige Form ergaben, in der man sie hier gerne sah. Das war zu Beginn gar nicht so einfach, da ich noch so vieles nicht verstand. Wir diskutierten in einer Ecke des Lokales wiederholt über die Fehler, die man beim Zusammensetzen seiner Worte immer wieder macht und wie man sie vermeiden kann. Ich nahm mir Vieles sehr zu Herzen und schloss auch einige der Anwesenden, die ich als besonders liebe Menschen erkannte, ein bisschen dort hinein. Und eins ist sicher: Ich geh hier nie wieder weg, solange es besteht, mein „Zuhause im Netz“.
Danke Mirko, Danke an alle.
[ 08.08.2002, 13:55: Beitrag editiert von: Häferl ]