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Und ihre Herzen waren mit Schrecken erfüllt
Ich bin mit euch; so festigt denn die Gläubigen. In die Herzen der Ungläubigen werde Ich Schrecken werfen. Trefft sie oberhalb des Nackens und schlagt ihnen jeden Finger ab!
– Aus dem Koran
Heute würden sie es in die Luft jagen, daran bestand kein Zweifel. Die Löcher waren gebohrt, die Sprengkörper verkabelt. Mit großem Stolz betrachtete Abu Kassem sein Werk.
100 kg Sprengstoff, einmal rundherum um die Zikkurat gelegt – die Arbeit eines ganzen Tages. Wie viel länger hatte es wohl gedauert, dieses Monument einst zu errichten? Jahre? Jahrzehnte? Und wie lange hatte es hier gestanden, unberührt inmitten dieser Wüste? Abu Kassem kannte keine Antwort auf diese Fragen.
Man hatte ihm gesagt, dass das Bauwerk sehr alt sei. Sehr viel älter als der Prophet. Und dass sein Makel vom Antlitz der Welt getilgt werden müsse, am besten vor laufender Kamera. Ohne die Aufnahme war eine solche Sprengung wertlos.
Einen besonderen Anlass, es heute zu tun, gab es nicht. Den gab es nie. Aber irgendwann mussten sie es ja tun, und wenn nur, um den Kuffar im Westen zu zeigen, dass mit ihnen noch zu rechnen war. Dass sie sich nicht einschüchtern ließen von Fernlenkraketen, den Drohnen und anderen feigen Waffen der Amerikaner. Dass Allah mit ihnen war.
Abu Kassem schritt ein letztes Mal die Seiten des Bauwerks ab und kontrollierte die Verkabelung. Zwei Männer folgten ihm in geringem Abstand. Sie trugen AK-47-Sturmgewehre und große Messer an ihren Gürteln. Es waren gute Männer; sie hatten viele Ungläubige getötet und den Ruhm Allahs gemehrt. Für Abu Kassem waren sie wie die eigenen Söhne.
„Yalla Samir!“, rief er und winkte den größeren der beiden Männer zu sich heran. „Schau doch bitte, ob du Kamerastativ und Banner auf dem Hügel dort aufstellen kannst.“
Samir nickte und eilte dann zurück zu einem weißen Geländewagen, der etwas abseits der Zikkurat parkte. Der andere, ein hagerer Mudschaheddin mit dichtem, rotem Bart und modischer Sonnenbrille, blieb zu Füßen des Bauwerks stehen und legte den Kopf in den Nacken. Auf der Spitze des Stufentempels flatterte die Fahne der Brigade, rot wie das Blut ihrer Feinde, darauf ein weißer Krummsäbel und die arabischen Worte „Es gibt keinen Gott außer Allah“.
„Nun, mein Bruder, wie denkst du darüber?“ Abu Kassem legte eine Hand auf die Schulter des Mannes, der sich Yussuf al-Britoni nannte, und folgte seinem Blick. „Das ist doch mal ein großer Haufen Steine.“
Yussuf nickt anerkennend. „Im Internet ließ sich ein bisschen was darüber finden. Die Kuffar streiten noch, warum das hier steht. Es gibt keine Spuren einer Stadt oder so. Das alles ist ja erst vor einem Jahr ausgegraben worden.“
„Ja, sie haben die Hälfte ihrer Ausrüstung zurückgelassen, als wir kamen und sind wie Feiglinge in die Stadt geflohen. Wie viel mag ihnen dieser Götzentempel wohl bedeutet haben, wenn sie nicht mal dafür kämpfen wollten?“
Der Rotbart nahm die Sonnenbrille ab und steckte sie in die Tasche seiner Tarnweste. Seine linke Augenhöhle war leer. Amerikanische Granate.
„Samir hat in einem Kloster einige Meilen südlich von hier ein paar Schriften entdeckt, die die Mönche dort versteckten“, fuhr er fort. „Darin heißt es, dass dies ein böser Ort sei, heimgesucht von Teufeln und Djinns.“
„Achso?“ Abu Kassem spuckte geräuschvoll in den Sand. „Dann ist unser Werk umso gerechter. Was habt ihr mit den Mönchen gemacht?“
„Wallah, zwei wollten Schutzgeld zahlen, aber der Abt hat sich geweigert.“ Der Rotbart umschloss den Schaft seines Messers und grinste fröhlich. „Er erfuhr die Barmherzigkeit Gottes, inschallah.“
Samir kam den Hügel hinabgerannt, das Sturmgewehr wippte lustig auf seinem Rücken auf und ab.
Mit rotem Kopf erreichte er den Fuß der Zikkurat.
„Kamera. Steht“, keuchte er und rang nach Luft. „Alles bereit zum Drehen.“
„Gut gemacht, Bruder. Von dort oben können wir die Explosion perfekt einfangen. Ich hätte allerdings gern ein paar zusätzliche Winkel. Das kommt besser.“ Er deutete auf einen Dünenkamm, der die Ausgrabungsstätte nach Süden hin flankierte. „Sei ein guter Junge und film das Ding mit deinem Samsung von da drüben.“
„Klar doch.“ Samir machte kehrt und wollte gerade loslaufen, da hielt Abu Kassem ihn am Arm zurück.
„Was ist noch?“
„Yussuf sagt, dass du bei den Kuffar Schriftrollen gefunden hast?“
„Hab ich. Sie waren in einer Statue versteckt. Ich hab sie gefunden, als ich einen Altar in ihrer Kapelle zerstörte.“
Abu Kassem kratzte sich an der Nase. „Und wo sind diese Papiere jetzt?“
„Na, im Auto. Ich möchte sie in Ramadi zu Geld machen. Für die Brigade natürlich.“
„Hast du sie gelesen?“
„Nicht alle, nur ein bisschen. Sind ziemlich altertümlich geschrieben.“
„Vielleicht können wir ja etwas davon im Video verwenden.“
Samir strich sich mit der linken Hand durch den schwarzen Flaum an seinem Kinn und schien zu überlegen.
„Indirekt, ja. Es geht darum, was für ein Ort das hier früher war.“
„Und woher wussten die Christen das?“
„Gar nicht, die haben den Text nur aufbewahrt. Jedenfalls hat das der Abt gesagt. Es ist die Abschrift eines älteren Textes. Der Autor … Yussuf, du hast doch den Abt befragt. Wie war noch gleich sein Name?“
Yussuf zuckte mit den Schultern. „Irgendein Astronom, der vor tausend Jahren in Damaskus wirkte. Seine Lehren sind haram. Wenn ihr mich fragt, sollten wir die Schriften verbrennen.“
„Ich möchte mir selbst ein Bild machen, dann entscheide ich, was mit den Texten passiert“, entgegnete Abu Kassem und klang dabei strenger, als von ihm beabsichtigt. Er räusperte sich.
„Und dieser Gelehrte, was wusste er über diesen Ort zu berichten?“
Samir schaute betreten zu Boden.
„Nun, diese Zikkurat ist das Haus eines Gottes“, begann er zögerlich. „Eines bösen Gottes, dessen Hunger mit Menschenblut gestillt werden muss. Darum pilgerten die Götzendiener an diesen Ort und opferten bei bestimmten Sternenkonstellationen ihre Erstgeborenen.“
„Was für Hunde“, grunzte Yussuf und kratzte mit seinem Messer über das Mauerwerk. „Jagen wir das Ding endlich hoch und sehen zu, das wir zurück zu unseren Frauen kommen.“
„Gut.“ Abu Kassem ließ die Fingerknöchel knacken. „Diese Opfergeschichte gibt dem ganzen erst die richtig Schärfe. Mit der passenden Musik unterlegt wird das eine Million Clicks auf Youtube machen, inschallah.“
„So Gott will!“, pflichtete Yussuf bei und schob sein Messer zurück in die Scheide.
„Wie sieht es bei dir aus?“ Abu Kassem presste das Walky-Talky an seinen Mund und brüllte gegen den starken Wind, der von Osten her aufgezogen war. Das Funkgerät gab ein Knacken von sich.
„Wir sollten jetzt anfangen“, hörte er Samir aus dem Lautsprecher sagen. „Bevor es noch stürmischer wird.“
Abu Kassem fluchte. Der Himmel hatte sich vor einer halben Stunde schlagartig verdunkelt. Für die Qualität der Bilder war dies natürlich alles andere als vorteilhaft.
„Na gut“, schrie er in das Funkgerät. „Geh trotzdem in Position und halt schön drauf. Erschrick dich nicht vor dem Knall!“
„Was?“
„Du sollst dich nicht erschrecken!“
„Kein Wort verstanden. Ich bin dann soweit. Ende.“
Abu Kassem reichte Yussuf das Funkgerät und stellte sich vor das hektisch flatternde Banner der Brigade.
„Kamera läuft“, sagte Yussuf.
„Feinde Gottes!“, begann Abu Kassem und hob drohend den Zeigefinger gen Himmel. „Allahs Gericht möge über euch kommen wie ein Sturm. Jenen, die den Propheten, alayhi as-salam, spotten, werden die Köpfe auf den Rücken gelegt. Jenen, die die Scharia missachten, werden die Hälse durchgeschnitten wie Vieh auf der Schlachtbank. Jenen, die sich mit den Ungläubigen verbünden, wird Gerechtigkeit widerfahren!“
Yussuf deutete mit einer Handbewegung an, dass er zu leise sprach. Abu Kassem nickte und justierte mit selbstsicherer Geste seine Gürtelschnalle.
„Heute zermalmen wir die letzten Zeugen der Ungläubigen und reinigen dieses Land von den Spuren ihrer Barbarei. Diese alten Steine bedeuten uns nichts. Sie sind so wertlos wie die Kuffar. Ihre Trümmer sind das schönste Denkmal, dass wir zu Ehren Allahs errichten können.“ Er riss seinen Zeigefinger so weit nach oben, als wollte er damit in den Himmel stechen. „Takbir!“, schrie er und in seinen Augen glühte der Zorn auf die Feinde des Propheten.
„Allahu Akbar!“, rief Yussuf zurück, erst etwas verhalten, dann aber immer lauter und aggressiver.
Abu Kassem gab ein Zeichen, worauf Yussuf die Kamera auf die Zikkurat richtete.
„So, wie diese Steine zerbersten, werden auch die Lügen der Amerikaner und der Zionisten zerbersten, welche die Feinde Gottes sind.“
Die anschließende Detonation ließ die Erde erzittern. Yussuf hielt sich schützend die Hände vor die Ohren, während Abu Kassem einige Schritte zurückwich. Ein großer Staubpilz bildete sich über der Stelle, wo eben noch der Tempel gestanden hatte und wurde schnell von den Windböen in Richtung Westen getragen. In der Ferne hallte der Donner der Explosion für einige Sekunden nach.
„Wow, habt ihr das gesehen?“, dröhnte Samirs aufgeregte Stimme aus dem Funkgerät. „Wo sind denn die ganzen Steine hin?“
„Hast du alles drauf, Großer?“, wollte Yussuf wissen. Aber als er sah, was Samir meinte, hielt er inne und ließ das Walky-Talky sinken. Der aufziehende Sturm hatte den Staub der Detonation mit sich genommen und gab den Blick auf die Explosionsstelle frei. Doch da war nichts. Kein Trümmerhaufen und auch kein Krater. Nur ein riesiges, klaffendes Loch im Boden. Vom Hügel bis zum Dünenkamm war der Wüstenboden weggesackt.
„Was ist das denn?“, fragte Abu Kassem und strich sich eine widerspenstige Haarsträhne aus der Stirn. Das Loch war von rechteckiger Form und erinnerte an einen Schacht, der von ihrer Position aus beinahe senkrecht in die Tiefe führte.
„Vielleicht ein altes Tunnelsystem, das unter der Druckwelle nachgegeben hat“, mutmaßte der Rotbart und klang dabei wenig überzeugt. „Manchmal sind die Anlagen unter einem solchen Tempel größer als der Tempel selbst.“
Aber Abu Kassem schüttelte nur den Kopf und zeigte nach unten. „Aber doch nicht in solchen Ausmaßen. Guck doch mal. Das ist eine Rampe oder so.“
„Eine Rampe für was?“
„Was weiß ich?“ Er zuckte mit den Schultern. „Ich bin Sprengmeister und kein Archäologe.“
„Komm, lass uns abhauen!“, sagte der Rotbart.
„Samir?“, rief Abu Kassem ins Funkgerät. „Wir fahren los. Beweg dich zum Wagen.“
Yussuf begann, dass Kamerastativ abzubauen, hielt dann aber inne und reckte den Kopf in Richtung Abhang.
„Hörst du das?“
Abu Kassem runzelte die Stirn und lauschte angestrengt in das Tosen des Windes. Tatsächlich konnte er jetzt ein Geräusch vernehmen. Ein leises Pfeifen lag in der Luft. Es drang aus dem riesigen Loch und klang, als würde jemand einen langanhaltenden, falschen Ton auf einer Flöte spielen.
Kurz darauf begann der Boden zu vibrieren. Erst war es nur ein leichtes Dröhnen, das unter den Sohlen zu spüren war. Das Kamerastativ geriet ins Schwanken und kippte schließlich nach vorne über.
„Ein Erdbeben!“, hörten sie Samir aus dem Walky-Talky rufen. „Bleibt alle, wo ihr seid!“
Die Worte waren kaum gesprochen, da nahmen die Stöße schon an Stärke zu. Abu Kassem schlug der Länge nach auf den Boden, Yussuf folgte wenige Sekunden später. Das leise Pfeifen war einem schrillen, ohrenbetäubenden Ton gewichen. Ein Orchester verrückt gewordener Flötisten saß in der Tiefe und pustete sich die Seele aus dem Leib.
„Fuck!“, entfuhrt es dem Rotbart, der Mühe hatte, auf dem abschüssigen Untergrund Halt zu finden. Mit jeder Erschütterung rutschte er weiter den Hügel hinab.
„Ramm dein Gewehr in den Sand!“, schrie Abu Kassem ihm hinterher, doch der Lärm aus Wind und unterirdischem Grollen ließ seine Worte ungehört verhallen. Immer schneller glitt Yussuf dem Schlund entgegen. Im Getöse vernahm der Sprengmeister einzelne Wortfetzen, die aus dem Funkgerät zu ihm herüber drangen.
„... normal! Geht nicht an das … Dschahannam … für uns als Warnung geschrieben!“
Der Rotbart war jetzt nur noch wenige Meter von der Kante des Schachts entfernt. Gleich würde er in der bodenlosen Dunkelheit verschwinden.
Dann, mit einem Mal, verstummte das schrille Geräusch und die Erde hörte auf zu zittern. Abu Kassem spuckte Sand, atmete tief ein und robbte an den Rand des Hügels. Einige Meter weiter unter sich sah er Yussuf, der ebenso perplex zu ihm hinauf blickte.
„Alhamdu Illahi, ich lebe noch“, lachte der Rotbart und reckte seine Faust in die Luft. „Ich lebe noch!“
„Sieh zu, dass du hier hoch kommst!“
„Ganz komisch riecht es hier“, rief Yussuf zurück und rümpfte die Nase. „Irgendwie so richtig komisch. Ich weiß auch nicht.“
Etwas schob sich aus dem Schacht. Abu Kassem konnte es sehen, aber der Rotbart war bereits auf die Knie gefallen und erbrach sein Frühstück in den Sand. Hinter ihm wuchs ein Ding aus der Tiefe, ein schwarzer, ledriger Schlauch, dessen breiter werdende Spitze in einer Art Kugel endete. Der Fortsatz war gerade mal so groß wie ein Kindskopf, ein wulstiger Knoten, der nach einem unbekannten Takt zuckte und pochte. Der Geruch von Fleisch, das zu lange in der Sonne lag, ging von der Erscheinung aus und schwappte aus der Senke und über Abu Kassem hinweg. Er spürte, wie sein Magen rebellierte und sich unter dem Gestank zusammenzog. Ein saurer Geschmack trat auf seine Zunge.
„Hinter dir, Bruder!“, presste er in einem letzten Versuch hervor, Yussuf auf das Ding aufmerksam zu machen. Aber der Rotbart bemerkte ihn nicht, sondern kniete vornüber gebeugt in seinem eigenen Erbrochenen und wimmerte leise vor sich hin.
Der Schlauch war inzwischen beträchtlich in die Höhe gewachsen, fünf Meter vielleicht, und pulsierte mit zunehmender Intensität. Mit einem schmatzenden Geräusch öffnete sich der Knoten und entblößte ein faustgroßes Organ, dessen Oberfläche mit Nesselfäden überzogen war.
„Die Hand Shaitans“, hauchte Abu Kassem, dessen Entsetzen nun blanker Panik gewichen war. Er griff nach seiner Kalaschnikow und zielte. Seine Arme zitterten. Die erste Salve verfehlte den Schlauch um einige Meter. Die zweite traf das schwarze Fleisch, zeigte aber keinerlei Wirkung. Stattdessen wurden die Fäden immer länger und berührten Yussuf schließlich am Rücken. Der Rotbart schrie wie ein Tier, als die Spitzen mühelos durch seine Kleidung und in das darunterliegende Fleisch drangen. Dann wurde er in die Höhe gehoben, als hätte man seinen Körper an einem Kranseil befestigt.
Abu Kassems Augenlieder flatterten. Der Anblick des zappelnden Mannes in den Fängen dieser Erscheinung war zu viel für ihn. Ein langgezogener Schrei entwich seiner Kehle. Dann rollte er auf den Rücken und begann zu schluchzen.
Samir ließ das Funkgerät sinken und starrte fassungslos auf das Schauspiel, dass sich ihm auf der anderen Seite der Senke bot. Yussuf klebte wie ein Insekt in den Fängen einer tödlichen Pflanze und zeigte kaum noch Anzeichen von Leben. Abu Kassem lag am Rand des Hügels und schien ohnmächtig geworden zu sein.
Er musste von hier weg, nur noch weg. Ungefähr hundert Meter von seiner Position entfernt parkte der weiße Geländewagen und hatte das Beben zumindest äußerlich unbeschadet überstanden. Ohne lange zu überlegen, stolperte Samir die Düne hinunter und hielt auf das Auto zu. Aus dem Augenwinkel konnte er sehen, wie die fremdartige Kreatur aus den Tiefen Yussufs Taille jetzt völlig umschlossen hatte und langsam in den rüsselartigen Körper zog. Ein gurgelndes Röcheln ertönte und Knochen knackten, als das Becken des Kämpfers unter dem Druck der Umklammerung nachgab und brach.
In Samirs Ohren rauschte das Blut. Noch immer war der Jeep viel zu weit entfernt. Wind peitschte ihm entgegen und seine Beine zitterten vor Überanstrengung. Mehrmals stolperte er, fiel in den Sand und musste sich mühsam wieder aufrappeln. Auch konnte er jetzt die Ausdünstungen der Erscheinung riechen. Es war ein Aasgestank, nicht unvertraut, aber tausendmal intensiver, als alles, was er bisher in seinem Leben gerochen hatte. Tränen traten ihm in die Augen.
Völlig außer Atem erreichte er schließlich die rettende Autotür, riss sie auf und schwang sich hinter das Steuer. Das Funkgerät hatte er auf der Düne zurückgelassen, aber immerhin steckte der Zündschlüssel noch in seiner Hosentasche. Es brauchte ein paar Anläufe, bis er das Schloss traf.
„Komm schon, nun komm schon“, keuchte er, während seine Augen weit aufgerissen in den Rückspiegel starrten. Ein zweiter Schlauch, ebenso gewaltig wie der erste, war nun hinter dem Hügel aufgetaucht und wuchs in den Himmel.
Stotternd sprang der Motor an. Samirs Herz machte einen Satz. Er legte den Geländegang ein und nahm den Fuß von der Kupplung. Dröhnend drehte der Motor auf. Die Reifen suchten nach Halt. Dann zuckte der Wagen einen halben Meter nach vorne. Und blieb stehen.
„Scheiße!“
Noch einmal startete Samir den Motor, ließ die Kupplung kommen und drückte aufs Gas. Links und rechts schossen Sandfontänen an den Fenstern vorbei, dann kam der Wagen in Fahrt. Zur Rechten lag eine schmale Zufahrtsstraße, die die Ausgräber angelegt hatten. Er schlug das Lenkrad ein und hielt auf sie zu.
Plötzlich bemerkte er eine Bewegung im Rückspiegel. Jemand lief ihm hinterher und fuchtelte dabei wie wild mit den Armen. Es war Abu Kassem.
Samir bremste scharf, stieß die Beifahrertür auf und ließ die Hupe ertönen.
„Los jetzt!“. schrie er und seine Stimme klang dabei so brüchig wie rissiges Papier. Aber Abu Kassem kam nur langsam voran. Immer wieder geriet der Mann ins Schlingern und drohte umzukippen. Eine große Wunde klaffte auf seinem Oberkörper.
„Oh Mann.“ Samir schüttelte resigniert den Kopf. „Es tut mir so leid!“
Im Rücken des Verletzten war ein dritter Schlauch aufgetaucht und begann, über den Rand des Hügels hinweg nach neuer Beute zu suchen. Das fremdartige Sinnesorgan glitt dicht über dem Boden und folgte Abu Kassems Blutspur. Durchsichtige Nesselfäden zuckten nach vorne. Doch der Sprengmeister merkte nicht, dass der Tod ihm auf den Fersen war. Unbeirrt hielt er auf den parkenden Geländewagen zu.
Samir schloss die Tür und rollte weiter in Richtung Zufahrtsweg – erst langsam, dann immer schneller. Auf keinen Fall konnte er zulassen, dass dieses Ding noch näher an ihn herankam. Der Abstand zu Abu Kassem wuchs, bis dieser nur noch ein dunkler Fleck im Rückspiegel und schließlich ganz aus seinem Sichtfeld verschwunden war.
Mit versteinerter Miene starrte Samir auf den Weg. Im Westen neigte sich die Sonne dem Horizont entgegen und entflammte das Land in tiefrotem Licht. Rauchsäulen stiegen in der Ferne auf, vielleicht die Spuren eines Gefechts. Er machte kehrt und fuhr in die entgegengesetzt Richtung. Nach einiger Zeit bemerkte er, dass seine Hände so fest um das Lenkrad geklammert waren, dass die Fingerknöchel weiß hervortraten. Er lockerte den Griff und holte tief Luft. Langsam fiel die Anspannung von ihm ab, doch sein Verstand war von einer seltsamen Schwere erfüllt. Die Gedanken flossen träge dahin und waren trotzdem kaum zu fassen. Ihm war, als ob jemand seine Erinnerung genommen, und durch Watte ersetzt hatte.
Er blickte zur Tankuhr. Das Benzin reichte noch knapp für 300 Kilometer Strecke, das war alles, was ihn im Moment interessierte. Ohne Ziel fuhr er in die Nacht, während die ersten Sterne kalt und hämisch vom Firmament auf hin herab funkelten.
Bei Anbruch des nächsten Morgens bemerkte er ein Schimmern am Horizont. Zunächst konnte er kaum etwas erkennen, doch je näher er kam, umso deutlicher wurde das Bild. Es waren Jeeps. Eine Kolonne aus Geländewagen schob sich ihm auf der sandigen Piste entgegen. Bärtige Männer in Tarnkleidung, bewaffnet mit russischen MGs und Panzerfäusten, saßen auf den Ladeflächen und deuteten bereits aus der Ferne in seine Richtung. Über dem vordersten Auto flatterte die Fahne der Brigade.
Samir bremste und wartete. Die Sonne hob sich als glühender Feuerball über die Hügelkette im Osten und brachte die Luft über der Straße zum Flimmern. Knirschend kamen die Reifen vor ihm zum Stehen. Es waren gut ein Dutzend Fahrzeuge, alles nagelneue Modelle. Jemand rief ihm zu, er solle seine Hände zeigen. Samir gehorchte.
„Wer bist du?“ Ein dicker Mudschaheddin mit ergrautem Bart stieg aus dem ersten Fahrzeug. Er trug eine Kalaschnikow und deutete mit dem Lauf auf Samir. „Was hast du allein hier draußen verloren?“
Samir bemerkte sofort, dass das Arabisch des Mannes hölzern war. Er sprach mit starkem Akzent und sein Aussehen war wenig typisch für diese Region. Vermutlich gehörte er zu einer Abordnung tschetschenischer Kämpfer, die diesen Sektor hier kontrollierten.
„Was ist, bist du taub?“, fragte der Dicke gereizt.
Weitere Männer stiegen aus ihren Wagen oder sprangen von den Ladeflächen. Einige näherten sich der Kolonnen-Spitze.
„Ich heiße Samir al-Haznam.“
„Und kannst du dich ausweisen, Samir al-Haznam?“ Der Tschetschene verzog argwöhnisch das Gesicht. „Ich habe dich hier noch nie gesehen.“
Samirs Griff ging an die Westentasche, um seinen Ausweis zu zeigen. Aber die Tasche war leer. Ihm wurde abwechselnd heiß und kalt.
„Irgendwo hier muss ich ihn haben. Etwas Geduld bitte. Gleich finde ich ihn.“
Er durchsuchte die anderen Taschen, drehte alle nach außen, kontrollierte jede Möglichkeit zweimal. Aber der Ausweis blieb verschwunden. Bestürzt starrte er auf den Boden.
„Muss ihn verloren haben.“
„Mein Sohn, schau mich an ...“, sagte der Tschetschene jetzt mit einem fast zärtlichen Ton in der Stimme. „Du musst keine Angst haben. Wenn du ehrlich zu mir bist, wird dir nichts geschehen. Verstehst du?“
Samir nickte, schwieg aber weiterhin.
„Also, was machst du allein hier draußen? Und woher hast du diesen Wagen?“
„Ich gehöre zur Brigade. Ich diene unter Abu Kassem beim Sprengkommando.“
„So so“, brummte der Mann. „Und wo ist Abu Kassem jetzt?“
„Er ist tot.“
Der Mann stieß ein scharfes Zischen aus und biss sich auf die Unterlippe. „Tot sagst du? Wie ist er gestorben?“
„Er starb … bei einer Explosion. Es gab einen Unfall.“
„Wo ist das gewesen?“
„Bitte, das kann ich nicht sagen. Ich muss nach Ramadi und mit einem direkten Vorgesetzten sprechen.“
Der Tschetschene stieß ein kehliges Lachen aus. „Du bist weit weg von Ramadi, mein Sohn“, grunzte er sichtlich amüsiert und der Patronengurt auf seiner Brust bebte dabei. „Hier bin ich dein Vorgesetzter. Und wenn du mich fragst, dann haben wir hier einen Fahnenflüchtigen aufgegriffen, der sich nach Norden absetzen wollte.“ Er gab ein Zeichen. „Durchsucht den Jeep!“
„Nein bitte, ich ...“ Die Faust des Tschetschenen traf Samir frontal am Kinn und fegte ihn von den Beinen. Gleich darauf spürte er den Stiefel des Mannes auf seinem Hinterkopf. Der Dicke verlagerte sein ganzes Gewicht auf das Bein und presste ihn tief in den Staub. Samir bekam kaum noch Luft. Männer liefen an ihm vorbei und begannen, den Geländewagen zu durchsuchen. Er konnte hören, wie sie auf Russisch miteinander diskutierten. Dann hob sich der Stiefel und Samir konnte wieder frei atmen.
„Was haben wir denn hier?“ Der Tschetschene wedelte mit einem Satz alter Schriftrollen vor seinem Gesicht. „Was sind das für Aufzeichnungen?“
Wieder sagte jemand etwas auf Russisch.
„Genau. Sieht antik aus.“ Die Augen des Dicken überflogen den Text, dann schüttelte er den Kopf. „Das Gekrakel eines Wahnsinnigen.“ Er drehte sich zu seinen Kämpfern und gluckste vor Freude, als er in schlechtem Arabisch aus dem Text zitierte.
„Schrecklich sind die namenlose Dingen, die unter dem Sand der Länder des alten Babylons in Höhlen und Tunneln hausen und von denen die Tafeln sagen, dass SIE Götter seien, die vor Anbruch des Menschengeschlechts von den Sternen kamen. Das Volk von K’n-yan stieg zu ihnen hinab. Im urzeitlichen Mu verehrte man sie an grässlichen Altären aus schwarzem Basalt. Das vergessene Sarnath fürchtete sie. Kadath in der kalten Wüste hat sie gesehen, doch welcher Mensch kennt Kadath?“
Einige der Männer lachten verhalten, anderen zuckten nur mit den Schultern oder schauten mit leerem Blick in die Ferne.
„Davon hast du dir auf dem Schwarzmarkt sicher eine ganz hübsche Summe erhofft.“
Samir schüttelte mit dem Kopf, aber er war viel zu müde, um sich noch weiter zu wehren. Ein dünnes Rinnsal Blut versickerte vor seinen Augen im Sand. War es sein eigenes?
„Genug damit, mein Sohn. Du kennst das Gesetz. Möge Allah deiner Seele gnädig sein.“
Samir wurde von starken Händen gepackt und in eine aufrechte Position gezerrt. Jemand legte ihm von hinten eine Binde um die Augen und zog sie grob in seinem Nacken fest. Er biss die Zähne zusammen, als er aufgerichtet und an einen anderen Ort gebracht wurde. Sie gingen nur wenige Schritte. Wieder wurde er zu Boden gedrückt, diesmal in eine kniende Position. Eigentlich hätte er Angst fühlen müssen, aber er blieb ganz ruhig.
„Kamera läuft“, hörte er noch eine Stimme sagen. Dann kam das Messer.