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Und heute ist Schluss.
Der Herbst knistert unter meinen Füßen, während ich gehe. Es riecht nach Natur, nach Herbst, nach einem frischen Herbst. Ich vernehme das Harz der Bäume, den Geruch der Blätter. Auch höre ich Vogelgezwitscher, die hellen Töne aus den Bäumen. Ich sehe nach oben. Der kalte Herbstwind weht mir durch das Haar, ich verstecke meine Hände in den Jackenärmeln und spanne mich an, ziehe die Luft ein und als ich ausatme bilden sich kleine Wölkchen vor meinem Mund.
Zu meiner Linken die Siedlung. Eine Anhäufung unschöner Gebäude, die alle für sich stehen, nicht so recht zueinander passen wollten. Die unbefahrene Straße, die sich hindurch zog.
Zu meiner Rechten der Wald. Ich erinnere mich an unsere langen Spaziergänge, die zärtlichen Küsse und Umarmungen, die wir dort hinterlassen haben. Es ist, als wäre es gestern noch so gewesen.
Sein Haus ist ein kalter quadratischer Bau, die Fassade bröckelt, und die Vorhänge hinter den schmutzigen Fenstern tragen als einzige Farbe. Mehrere Familien leben dort, Familien mit Kindern, meine Schwester spielte oft mit ihnen im Garten, als wir zu Besuch waren. Im Gegenteil dazu viele Rentner, die Frau im vierten Stock mit ihren viel zu schweren Einkaufstüten, der Mann im Erdgeschoss, der sich für den Hausmeister hält. Auch Jesper lebt dort. Bei seinen Eltern, obwohl er bereits achtunddreißig ist. Er ist schon immer ein anhänglicher Mensch gewesen, kein Mann, der Neues mit Freude aufnimmt.
Noch einen Schritt näher.
Jesper steht auf der Terrasse. Er hat eine Zigarette im Mund, lässt die Hand sinken, bläst den Qualm in die Luft. Er hat mich gesehen, sofort ein Lächeln in seinem Gesicht.
Eigentlich ist er ein super Kerl, denke ich mir, so wie er da vor mir steht. Er ist groß und kräftig, sportlich. Sein pechschwarzes Haar ist kurz und ordentlich. Sein Gesicht konturiert, die Wangenknochen stechen deutlich hervor und er ist geprägt vom Leben. Aber genau das macht ihn so attraktiv. Genau das macht ihn zu einem wirklichen Mann. Ich weiß nicht warum, aber es ist so. Und glaubt mir: Jede Frau würde mir zustimmen.
Doch Jesper ist nicht der, für den ihn alle halten.
Er wirft die Zigarette zu Boden, als er mich sieht, drückt den Stummel mit dem Fuß aus. Ein schwarzer Fleck auf der Marmorterrasse. Sein Kopf ist gesenkt. Es dauert lange, bis er sich mir zuwendet.
Ich sehe ihn durchdringlich an. Der kräftige Oberkörper zeichnet sich deutlich unter dem schwarzen T-Shirt ab. Er trägt Jeans und Cowboy-Stiefel, die ich schon immer schrecklich fand.
„Ann! Wie schön, dass du kommst. Ich muss mir dir reden.“
Das kannst du dir sparen, mein Freund. Ich habe kein Interesse. Aber dann öffnet er die Arme wie zum Gruß, möchte mich in sich schließen. Und ich vergesse mich, lasse mich darauf ein. Ich spüre seinen massigen Körper, seine Wärme an diesem Herbsttag. Als ich meinen Kopf auf seine Brust lege, kann ich seinen Herzschlag hören. Ich hasse mich dafür, dass ich mich bei ihm wohlfühle.
Jesper seufzt.
„Wie geht es dir?“, fragt er schüchtern.
Ich zucke nur mit den Schultern. Er gibt mir einen Kuss auf die Stirn.
„Warum verschweigst du mir deine süße Stimme?“ Es ist nur ein Flüstern, dann ein zärtliches Grinsen.
„Warum tust du mir das an?“ Ich bemerke die Tränen zu spät, die mir die Wange hinunter kullern. „Warum fragst du nach allem, was passiert ist, wie es mir geht?“
„Bitte, Ann! Fang nicht wieder damit an!“ Er löst sich aus der Umarmung, geht an mir vorbei und schiebt die Hände in die Hosentaschen.
„Du hast sie ermordet, Jesper! Du hast meine Schwester erschossen!“ Ich werde laut, die Tränen unaufhaltsam.
„Sie wollte uns anzeigen, wir hätten sie einfach nicht mitnehmen dürfen.“
„Sie war alt genug.“
„Es war ein Banküberfall, Ann. Das ist nichts für ein junges Mädchen.“ Er schüttelt den Kopf. „Du hast es gewusst, trotzdem wolltest du sie dabeihaben.“
„Du gibst mir die Schuld?“
„Ja.“
„Du warst es doch, der die Waffe auf sie gerichtet und abgedrückt hat!“
„Was hätte ich denn tun sollen?“ Er wendet sich zu mit um und sieht mir nun direkt in die Augen. Ich weiß nichts mehr zu sagen.
„Ich weiß, dass du sie geliebt hast, Ann. Und ich weiß auch, dass du sie über mich gestellt hättest. Das konnte ich nicht zulassen. Dafür ist mir mein Leben zu viel wert.“
Es reicht. Ich greife nach der Waffe, die ich mir zuvor eingesteckt habe. Der Griff ist kalt und es fühlt sich ungewöhnlich an.
Jesper reißt die Augen auf und schreckt zurück.
„Was zum Teufel hast du damit vor?“
„Dein Leben ist dir also zu viel wert?“ Ich erschrecke vor mir selbst. Es ist nicht meine Art, jemanden zu verletzen oder gar zu erschießen. Doch die Umstände erfordern es.
„Sei vernünftig!“, fleht er. Sein Gesicht wird bleich, sein Brustkorb hebt und senkt sich schneller als zuvor, ich merke, dass seine Hände zittern, als er sie in die Höhe streckt, als wolle er sich ergeben.
„Lass uns zur Polizei gehen“, bittet er, macht einen vorsichtigen Schritt auf mich zu. „Lass uns die ganze Angelegenheit klären und es ist vorbei, in Ordnung?“
Ich schlucke, werde unsicherer, doch lege meinen Finger an den Abzug. Meine Finger zittern. Der Schweiß steht mir auf der Stirn. Ich bin mir nicht sicher, wer von uns beiden die größere Angst verspürt.
„Leg die Waffe weg. Wir können das klären. Keiner von uns trägt Schuld …“
Dann drücke ich ab. Ein Knall in der ansonsten ruhigen Siedlung. Ein Kind schreit. Ich lasse die Pistole fallen und mit einem harten Schlag kommt sie auf.
Mit der Hand auf der Brust sackt Jesper in sich zusammen, kippt vorn über. Blut quillt zwischen seinen Fingern hervor, bildet eine Lache auf dem weißen Marmor. Sein Körper erschlafft, der Brustkorb hebt sich nicht mehr.
Ich kann seine Leiche nicht ansehen. Ich wollte das nicht. Dann renne ich so schnell ich kann, auch, wenn ich nicht weiß, wohin. Es ist, als würde ich versuchen, vor mir selbst zu flüchten.