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Und führe uns nicht in Versuchung
Die erdrückende Schwüle hatte es angekündigt. Der Wind hatte sich vom leichten Rauschen zum Heulen gesteigert. Die pechschwarzen Wolken hatten bald auch den letzten Sonnenstrahl verschluckt. Kurz darauf war der erste Blitz mit brutalem Krachen herunter gefahren und nun tobte der Sturm über die Burg. Stumm betrachtete der Mönch sein bärtiges Gesicht, das sich in dem regennassen Fenster spiegelte. Seine rechte Hand hielt eine Kerze, die fast bis zum Docht abgebrannt war. Bald ist es vorbei, dachte er.
Seufzend setzte er sich wieder an sein schmales Pult, tauchte die Feder in das Tintenfass und begann zu schreiben. Seine Bewegungen waren konzentriert, beinahe mechanisch.
Ein weiterer Blitz zuckte auf und erhellte kurzzeitig die kleine Kammer, bis der Donner durch den sturmgepeitschten Wald krachte. Sein Kopf schmerzte von der dauernden Konzentration. Stundenlang ein Satz nach dem anderen. Lesen, übersetzen, niederschreiben. Und das seit Stunden, Tagen, Wochen. Gott, gib mir noch ein wenig Kraft, bat er stumm.
Er führte den Keramikbecher zum Mund und trank einen Schluck verdünnten Wein. Mit jeder Stunde kam er seinem Ziel näher. Es war bald geschafft.
Als er sich erschöpft zurücklehnte, hörte er ein leises Klopfen. Langsam drehte er sich um und blickte zur Tür.
Das Kerzenlicht warf tanzende Schatten an die holzverkleideten Mauern seiner Kammer. Der Wind pfiff durch den Fensterspalt. Er zuckte zusammen, als es ein zweites Mal klopfte. Hatte er nicht um absolute Ruhe gebeten?
„Wer ist da?“, rief er. „Ich will nicht gestört werden.“
Hinter der wurmstichigen Tür blieb es still. Er verzog die Mundwinkel vor Ärger.
„Entweder trittst du jetzt ein, oder du gehst!“, befahl er nochmals. „Ich habe keine Zeit.“
Ein leises Stöhnen ertönte. Die Bretter an der Wand knarrten und schienen sich nach innen zu biegen, als würde der Raum zur Mitte hin zusammen geschoben. Das Pfeifen des Windes steigerte sich zu einem wahnsinnigen Kreischen, als würde ein Dämon um Einlass bitten. Er umklammerte die Lehne seines Stuhls bis seine Fingerknöchel weiß hervortraten. Was ist das?, dachte er. Es zischte, als die Kerze im Wachs ertrank und alles Licht verschwand.
„Ist da jemand?“, fragte er. Seine Stimme sollte fest klingen, aber er bemerkte, dass sie zitterte. Licht, beschloss er, ich brauche Licht. Er atmete tief ein und schlurfte zur Tür. Doch auf halbem Wege erstarrte er.
In der Finsternis hörte er, wie sich die Tür langsam öffnete. Die Angeln quietschten wie der Todesschrei eines kleinen Tieres. Seine Arme und Beine fühlten sich taub an. Angestrengt versuchte er etwas zu erkennen.
Plötzlich zischte eine Stimme und ließ ihn zusammenfahren.
„Hallo Jörg“, hallte es durch den Raum, „ich denke, ich bleibe eine Weile.“
Sein Herz klopfte so stark, als wolle es aus der Brust springen. Sein Mund war trocken vom Wein und vor Furcht.
„Bist du es?“, krächzte er.
Ein eisiger Wind blies ihm ins Gesicht als er die zischende Stimme wieder vernahm.
„Der den du fürchtest“, sprach sie.
Jörg schloss die Augen. Zitternd knetete er seine schweißnassen Hände. „Nicht hier und nicht jetzt“, flüsterte er.
„Ich schere mich nicht darum, wann es Euch passt“, erwiderte das Wesen.
„Was willst du? Mich töten?“
Die Stimme kicherte. „Das kann ich nicht. Das könnt Ihr nur selbst, und das wisst Ihr.“
„Ist das dein Ziel? Mich in den Tod zu treiben?“
„Möglich.“
Er schüttelte den Kopf und blickte zu Boden. Wie lange konnte man so etwas ertragen? Er hatte gehofft, es wäre vorbei. Seit Wochen hatte er ungestört geschrieben. Keine Stimmen, keine Erscheinungen. Und nun begann es erneut.
Die Erinnerungen kehrten zurück. Erinnerungen an seine Kindheit, als er diese schrecklichen Trugbilder zum ersten Mal erlebte.
Er war damals vier und wollte die Pferde sehen. Sein Vater ließ ihn nie allein in den Stall, weil die Tiere manchmal ausschlugen. Aber das begriff er nicht, er wollte sie nur mit Heu füttern und streicheln. Und so war er allein in den Stall gegangen, als sein Vater im Bergwerk war. Er fürchtete sich nicht, denn er kannte den Stall und das Vieh. Wenn man selbst nicht nervös wurde, blieb es auch sanft. Doch als er die Stalltür öffnete, war es anders als sonst.
Durch die Fenster drang kaum Licht, deshalb ließ er die Tür offen. Weiter hinten im Stall erkannte er einen dunklen Umriss. Ein ungutes Gefühl beschlich ihn und er rief nach den Pferden.
In diesem Moment hörte er das klackernde Geräusch der Hufe und das Klirren von Ketten. Die Kreatur trottete langsam aus dem Schatten und er schrie.
Sein Vater, der ihn damals verzweifelt gesucht hatte, fand ihn Stunden später auf dem Dachboden des Stalls. Er hockte im Heu, die Knie bis an das Kinn gezogen und starrte verängstigt ins Leere. Drei Tage war er nicht mehr ansprechbar, und in seinen Träumen wurde er von skelletierten Pferden heimgesucht. Er wollte nie wieder in den Stall gehen. Er wollte nie wieder so etwas erleben. Doch Erlebnisse wie dieses wiederholten sich. Mit Schaudern dachte er an die Geschichte mit dem Apfel.
Zusammen hatten sie den Baum im Nachbarhof erklettert und er hatte sich dabei die Hände blutig geschürft. Trotzdem war das Grinsen nicht mehr aus seinem Gesicht gewichen, als er die Äpfel in seiner Robe davon trug. Schließlich hatten er und seine Freunde diesen Raubzug tagelang geplant und dafür eine gehörige Tracht Prügel riskiert. Schnell waren sie gerannt und hatten sich eine schattige Stelle am Waldrand gesucht, um ihre Früchte zu essen. Und dann geschah es.
Nie würde er den Moment vergessen, als er im Schatten gelegen hatte, seine Stirn schweißnass, und er gierig in den süßen Apfel biss. Und als er kaute, sah er, dass es kein Apfel mehr war. Statt der Frucht hielt er eine faulige, madenübersäte Zunge in der Hand.
Nur seinen Freunden war es zu verdanken, dass er nicht dem Wahnsinn erlag. Sie hatten ihm, als er den Apfel ins Gebüsch schmetterte, und zu schreien begann, zuerst den Mund zugehalten, damit sie nicht bemerkt wurden. Als er um sich schlug, hielten sie in fest. Und als er die Augen verdrehte, war es Matthias, der ihm mit der flachen Hand so fest ins Gesicht schlug, dass ihm die Tränen kamen. Aber es half. Er beruhigte sich, und überstand den Anfall. Aber er konnte es nie wieder vergessen.
Und die Stimme. Sie hatte ebenso oft zu ihm gesprochen. Sie hatte ihn versucht zu Dingen zu überreden, die er nicht tun wollte. Geschichten erzählt, die er nicht hören wollte. Sie hatte ihn fast wahnsinnig gemacht.
Zu lange schon hatte er dieses Leid ertragen. Er spürte, dass er keine Kraft mehr hatte. Qualen die niemals endeten. Er wollte nicht mehr. Er wollte die Stimme nicht mehr hören. Doch sie sprach weiter:
„Ich biete Euch einen Handel an“, lockte das Wesen.
Er verzog das Gesicht. „Das wäre Wahnsinn“, entgegnete er.
„Da liegt Ihr falsch. Jetzt seid Ihr dem Wahnsinn nahe. Ihr könnt es nicht mehr ertragen.“
„Nein, ich kann nicht mehr“, seufzte er. „Aber ich werde nicht die Hand an mich legen, das musst du selbst tun.“
„Es kann aufhören. Ich könnte Euch euren Frieden geben. Ich werde nicht mehr auftauchen.“
Jörg blickte verwundert auf. „Was sagst du da?“
„Ich sagte, ich bin bereit für einen Handel.“
„Welcher Art?“
„Hört auf zu schreiben.“
„Die heilige Schrift?“ Instinktiv blickte der Geistliche zu seinem Pult.
„Ja“, grollte das Geschöpf.
Er wurde wachsam. „Warum?“, fragte er misstrauisch
„Es ist nutzlos. Wer wird es lesen?“
„Alle werden es lesen. Jetzt lässt sich alles drucken. Man kann es unters Volk bringen.“
Die Kreatur lachte.Ein tiefes und heiseres Geräusch. „Das ist nutzlos. Ihr erwartet doch nicht, dass sie es verstehen werden? Ihr könnt es reproduzieren, gewiss. Aber wer wird sich wirklich dafür interessieren? Das einfache Volk? Gewiss nicht.“
„Warum liegt dir dann soviel daran, dass ich aufhöre?“ Der Ordensbruder versuchte verzweifelt etwas zu erkennen.
Das Wesen zischte. „Weil ich diese Schriften hasse. Das wisst Ihr.“
Unschlüssig blickte Jörg in seiner Kammer umher. Er konnte niemanden erblicken. Seine Finger ertasteten das Manuskript, mit dem er soviel Zeit verbracht hatte.
„Ich höre also auf zu schreiben, und du tauchst nicht mehr auf?“, murmelte er.
„So ist es.“
„Und die Visionen?“
„Werden ebenfalls verschwinden.“
Der Mönch ging eine Weile im Kreis und zupfte an seinem Bart. „Aber wie willst du mir das versprechen? Welche Sicherheit habe ich, das du verschwunden bleibst?“
„Welche Sicherheit habe ich, das Ihr zu schreiben aufhört? Wir müssen uns beide vertrauen. Und außerdem habe ich Euch die letzten Wochen verschont, oder nicht?“
Der Ordensbruder dachte nach. Die Mission aufgeben? überlegte er. Wie ehrlich ist es - Ein gegenseitiger Pakt - Ich schreibe nicht, und es taucht nicht mehr auf - Aber warum – Warum nicht früher - Hat er Angst?- Nein, das kann nicht sein - Aber vertrauen? - Der Apfel - Der Stall – Verschwinde doch - Lass mich - Dir vertrauen? - Dir vertrauen?
„Dir vertrauen?“, schrie er. Er verspürte keine Furcht mehr, nur noch zügellosen Zorn. „Du suchst mich mein ganzes Leben heim, treibst mich beinah in den Wahnsinn, und ich soll dir vertrauen?“ Er lief in dem dunklen Raum auf und ab und fuchtelte mit den Armen. „Zeig dich! Zeig dich endlich!“ Seine Stimme überschlug sich. „Ich werde nicht aufhören zu schreiben. Ich werde das Wort verbreiten. Alle Welt soll wissen, wer du bist, und wo du dich versteckst. Und das wird dir deine Macht nehmen. Bei unsrem heiligen Herrn, Jesus Christus, hebe dich hinfort!“
Donner krachte laut und ließ die Kammer erzittern. Er roch den fauligen Geruch, den er schon damals im Stall bemerkt hatte. In der Ecke des Zimmers tauchte es -er- auf. Die Augen leuchteten blutrot in seinem horngekrönten Schädel. Schwarze Flügel umrahmten spitz den riesigen Körper. Aus seinen Armen und Beinen ragten scharfe Stacheln. Die Kreatur öffnete den Mund und entblößte schmutzige Fangzähne. „Ihr seid nicht stärker!“, kreischte der Teufel mit ohrenbetäubender Stimme. „Ich werde Euch in den Wahnsinn treiben. Und niemand wird je die verlogenen Worte lesen.“
Der Mönch stolperte rückwärts, konnte sich aber am Schreibpult festhalten. Mit fahrigen Bewegungen fuhr er über die Schreibfläche und ertastete das Tintenfass. „Ich bin ein Sohn Gottes!“, schrie er. „Beim Vater, dem Sohn und dem heiligen Geist, du kannst hier nicht verweilen!“ Er griff sich das Fass und schleuderte es auf den Gehörnten. „Weiche und kehre nicht wieder!“ brüllte er.
Das Glas flog durch den Teufel hindurch und zerschellte an der Wand. Mit lautem Kreischen löste sich der Satan auf und verschwand.
Schwer atmend starrte der Geistliche in die Ecke. Er hatte sich ein weiteres Mal gewehrt. Heute würde der Gefallene nicht zurückkehren.
Doch es klopfte wieder an der Tür. Der Ordensbruder wirbelte herum und schrie laut auf. War es denn nicht schon genug?
„Verschwinde endlich!“, klagte er. „Du kannst mich nicht verleiten! Weder heute noch an andern Tagen!“
„Junker Jörg?“, sprach jemand kleinlaut. „Ist etwas geschehen?“
Der Mönch sah zur Tür. Erst jetzt bemerkte er, dass es wieder hell im Zimmer war. Im Türrahmen stand Michael, der Knecht, und hielt zitternd eine Kerze in der Hand.
Jörg bemerkte, dass er die Fäuste immer noch kampfbereit erhoben hatte und senkte erschöpft die Arme. Er wankte zum Schreibpult und ließ sich in den Stuhl fallen. Erst nachdem er den Weinbecher ausgetrunken hatte, konnte er wieder sprechen. „Es ist gut, Michael.“ Er flüsterte fast. „Man hat mich wieder auf die Probe gestellt, aber ich war nochmals stärker.“
Michael schüttelte verständnislos den Kopf. „Benötigst du etwas? Noch etwas Wein?“, erkundigte er sich zögernd.
„Nein.“, entgegnete Jörg und blickte auf sein hölzernes Kreuz. „Für heute ist´s gut.“
Michael sah zu Boden. „Gut“, sagte er. „Ich lasse dir noch die Kerze hier.“
Er ging zum Pult um den Kerzenhalter zu holen. Als er die Hand ausstreckte, ergriff ihn der Mönch und sah ihm ins Gesicht. „Michael?“, begann er.
„Ja?“
„Wenn das hier,“, er deutete auf das Manuskript, „wenn das hier beendet ist, wirst du es lesen?“
Der Knecht lächelte. „Ich? Ich kann das doch gar nicht lesen?“
„Du kannst lesen“, brummte der Mönch. „Du gehörst zu denen, die es gelernt haben.“
„Ja, aber ich kann es nicht verstehen. Das sind die Schriften von Geistlichen, von Gelehrten. Das kenne ich nicht.“
Jörg blickte in das Manuskript. Müde hob er den Kopf und beobachtete die Rinnsaale des Regens an der Fensterscheibe. Alles vergebens?, dachte er.
„Was wäre...“, setzte er an, „wenn man es umschreiben würde? Verständlicher, einfacher, ohne den Sinn zu verfälschen? Würdest du es dann lesen?“
Michael versuchte einige der Sätze zu entziffern. „Ja“, entgegnete er. „Ja das würde ich gern.“
Zufrieden nickte Jörg. „Das ist gut.“, sagte er. „Das ist gut.“
„Nun, dann lass ich dich allein“, erwiderte der Knecht.
„Ja, tu das. Danke für die Kerze. Gehab dich wohl.“
„Gehab dich wohl“, wünschte Michael zurück.
Er ging aus der Kammer und schloss sanft die Tür hinter sich. Der Mönch blickte noch lange aus dem Fenster. Er würde von neuem beginnen müssen. Die Bibel musste anders übersetzt werden. Einfacher. In der Sprache der Bauern und der Handwerker. Ja, er würde dem Volk aufs Maul schauen. Dann würde jeder Bäcker, Schmied und Handwerker das heilige Wort in sich aufnehmen. Nur dann würden sie den Teufel erkennen. Und ihm die Macht nehmen.