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...und er sagt dir leise, "es wird alles wieder gut"
Ich liebe die Nacht. Das habe ich schon immer. Ich liebe die Ungewissheit, die jede dunkle Ecke mit sich bringt, die Schatten, die lautlos über die Häuser und Straßen schleichen und diese Klarheit, die auftritt, sobald die Sonne untergegangen ist.
Sobald der Himmel schwarz wird, sieht man die Wahrheit. Man braucht nur in den Himmel zu blicken und schon ist klar, dass es gar keinen Himmel gibt. Nachdem die Sonne uns Menschen einen Tag lang mit ihren Licht- und Farbenspielen einen blauen Himmel vorgegaukelt hat, der uns in unserer Welt einschließt, kann man in der Nacht auf die Wahrheit blicken. Auf das ewig weite Universum und wir Menschen haben das Privileg, es zu sehen. Diese unglaubliche, unbesiegbare und erdrückend riesige Naturgewalt. Und dort, mitten drin, leuchten diese wunderbaren, für uns so winzig kleinen Sterne.
Ich liebe diese Sterne. Seit ich sechs Jahre alt bin, erzähle ich jedem, dass ich immer meinen ersten Stern in der Nacht finden muss und dann schlagartig alle anderen erblicken kann. Obwohl jeder mir immer erzählte, dass es bei ihnen genauso wäre, hat es bei keinem eine so starke Bedeutung, wie bei mir.
Denn mit sechs Jahren begann meine Pechsträhne.
Damals saß ich mit meinen Eltern und meiner großen Schwester in unserem Auto auf dem Weg von einer Weihnachtsfeier nach Hause. Draußen tanzten die Schneeflocken in einem wirbelnden durcheinander vor meinem Fenster herum und riefen mich zu ihnen. Ich blickte hinaus und stellte mir vor, wie ich einfach aus dem Wagen springen und durch den Schnee fliegen würde. Ich sah mich selbst dort in der Wiese hüpfen, an der wir vorbeifuhren und mich den Hang zur Straße runter rollen. Beinahe konnte ich schon die Kälte spüren, die von dem Schnee ausging und sich manchmal wie kleine Nadeln anfühlten, die mir in die Haut piksten. Ich stutzte kurz und fing an zu lachen. Nadeln waren natürlich viel schlimmer, als diese wunderschönen, weißen Flöckchen, die im Strahl der Scheinwerfer in allen Farben glitzerten. Ich sehe noch heute meine kleine Hand vor mir, die sich langsam nach vorne bewegte und das Fenster aufschraubte.
„Lucy! Lucy, mach das Fenster zu“, motzte mich meine Schwester an, die mich immer herumkommandierte, nur weil sie vier Jahre älter war, als ich.
„Aber es schneit so schön“, antwortete ich und spürte, wie meine Hand langsam taub wurde, nur weil ich sie kurz aus dem Fenster des fahrenden Autos hielt.
„Es ist kalt“, jammerte sie, „Mama, sag doch was!“
Meine Mutter, die hinter dem Steuer saß, warf mir einen strengen Blick durch den Rückspiegel zu.
„Hör auf deine Schwester und schließe das Fenster wieder. Sonst sind wir gleich erfroren“
„Aber Mama!“
Ich wollte das Fenster nicht zu machen. Auch wenn ich langsam gar kein Gefühl mehr in meiner Hand hatte, so ließ es mich trotzdem denken ich sei draußen im Schnee.
„Keine Widerrede, Liebling“, kam es nun auch von meinem Vater.
Schmollend schloss ich das Fenster wieder. Ich war sauer und traurig darüber, dass sie nicht verstanden hatten, dass ich doch nur spielen wollte und beschloss, erst mal nicht mit ihnen zu reden. Ich betrachtete weiterhin das frohe Spiel des sich draußen abspielenden Wetters, bis meine Eltern plötzlich das Radio aufdrehten und ich neugierig aufhorchte.
„Hörst du das, Lucy? Dein Lieblingslied läuft.“
Mein Papa hatte Recht. Im Radio lief "Leise rieselt der Schnee“. Auf einmal hatte ich wieder vergessen, dass ich sauer auf meine Eltern und meine Schwester gewesen war. Das Lied war laut im ganzen Auto zu hören und wir alle sangen fröhlich und mehr oder minder die Töne treffend mit. Ich grinste meine Schwester neben mir an, die mich anstrahlte und ihre Augen blitzten erfreut auf. Sie nahm meine Hand und drückte sie fest. Ich dem Moment fühlte ich mich einfach nur sicher und geborgen.
Dann weiß ich nur noch Bruchstücke. Ich weiß noch, wie ich plötzlich helle Lichter vor uns sah und ein lautes Hupen ertönte. Wie sich Mamas Augen im Rückspiegel mit einem Mal erschrocken weiten und wie mein Papa sich auf einmal verängstigt an der Tür festklammert und meiner Mama irgendeine Warnung zurief. Ich kann mich noch erinnern, wie ein gewaltiger Ruck durch mich ging, als der LKW vor uns unser Auto erfasste und durch die Luft schleuderte und ich die Augen schloss und schrie. Schlagartig fühlte ich mich gar nicht mehr sicher und geborgen. Ich bekam Angst. Meine Eltern und meine Schwester konnte ich nur noch schreien hören. Der Griff meiner Schwester um meine Hand war auf einmal viel zu fest und tat mir weh. Doch ich konnte ihn nicht lösen. Ich spürte, wie das Auto falsch herum mit einem Knall auf dem Boden landete und hatte auf einmal nur noch die Schreie meiner Familie, das Blut, das überall zu sehen und zu fühlen war und meine Angst, die mich zum Weinen brachte, im Kopf. Dann, wie ein unerwarteter Schlag, brach die Dunkelheit über mir herein.
Am nächsten Morgen war Heiligabend. Ich wachte in einem Krankenhaus auf und wusste erst nicht, was passiert war. Ich bekam panische Angst und wollte wissen, wo Mama und Papa waren. Meine Oma saß an meinem Bett und versuchte, mich zu beruhigen, während ihr unaufhörlich die Tränen das Gesicht hinunter liefen. Oma sollte doch nicht weinen. So begann auch ich, haltlos zu weinen und rief weiter nach Mama und Papa.
Ab dem Moment musste ich lernen, dass ich nun alleine war. Meine Familie hatte den Unfall nicht überlebt und ich lag nun in diesem kalten, fremden Bett, mit diesen fremden und traurigen Menschen und musste mit meinen sechs Jahren verstehen, warum ich meine Eltern und meine geliebte Schwester nie wieder sehen würde.
In diesen Tagen bekam ich viel Besuch, den ich gar nicht sehen wollte. Irgendwelche Verwandten von Verwandten, von denen ich noch nie gehört hatte und über die ich mir nur dachte:
„Wenn ich euch kennen sollte, dann hätten meine Eltern mir von euch erzählt.“
Auch unsere Nachbarin kam vorbei, mit ihrem kleinen Sohn Benny. Sie begrüßte mich, fragte, wie es mir ginge und unterhielt sich dann kurz mit meiner Oma. Währenddessen kam dieser kleine, hagere Junge mit den strohblonden Haaren und einem Pulli, der viel zu groß für ihn war, näher an mein Bett und sagte mir:
„Ich weiß, das bringt sie nicht zurück, aber vielleicht macht es dich weniger traurig.“
Dann drückte er mir eine abgegriffene Karte in die Hand und ging mit seiner Mama wieder nach Hause. Später las ich die Karte, auf der stand:
„Manchmal ist die Welt ganz gemein. Alles geht schief und du fühlst dich klein und verloren. Doch es leuchtet immer ein kleiner Stern für dich und er sagt dir leise ‚es wird alles wieder gut.' “
Diese Karte brachte mich zum ersten Mal wieder zum lächeln.
Da das Gefühl der Einsamkeit und der Traurigkeit nicht verschwand und ich irgendwo Trost suchte und meine Familie sehen wollte, setzte ich mich noch am selben Abend, an dem ich nach Hause kam, wo nun auch meine Oma wohnte, auf die Veranda und starrte so lange in den Himmel, bis es dunkel wurde. Ich suchte den dunkelblauen Himmel ungeduldig nach Sternen ab und wartete verzweifelt, dass der Himmel noch schwärzer wurde. Meine Oma versuchte, mich rein zu holen, doch da ich partout nicht hören wollte, legte sie nur eine Decke um mich und setzte sich drinnen an das Fenster. Meine Augen klebten weiter über dem ganzen Geschehen in der Dunkelheit und suchten, während ich die Karte ungeduldig in den Händen hielt.
Dann, mit einem Mal, sah ich ihn. Den ersten leuchtenden Punkt. Er strahlte mir hell entgegen und es fühlte sich so an, als würde er mich für einen ganz kurzen Augenblick, nur für eine winzige Sekunden, glücklich machen. Ich lächelte den winzigen Stern an und nun sah ich alle anderen Sterne auch aufleuchten. Es war, als hätte irgendjemand den Stecker einer Lichterkette eingesteckt und diese lichter leuchteten nun zu mir hinunter. So schön dieses Bild auch war, mein Blick wanderte immer zu dem einen Stern, der als aller erstes aufgeleuchtet war. Er leuchtete von allen am hellsten. Es war, als würde er zu mir reden und mir wurde zum ersten Mal seit dem Unfall wieder wohlig warm. Es fühlte sich an, als hielte mich mein Papa ganz fest in den Armen, als würde meine Schwester wieder sanft meine Hand drücken und meine Mama mir über das Haar streicheln. Ich blickte in diesen einen Stern und hatte auf einmal das Gefühl, die sanfte Stimme meiner Mama zu hören, die mir leise sagte:
„Es wird alles wieder gut.“
Anstatt zu weinen, lächelte ich und blickte weiter in den Himmel. Ich merkte gar nicht, dass sich mir jemand genähert hatte und erst, als er sich neben mich gesetzt hatte, riss ich meinen Blick vom Himmel und schaute erstaunt in das blasse Gesicht Bennys. Er lächelte vorsichtig und zeigte auf meine Hände.
„Hat es geholfen?“
Ich nickte unbeholfen.
„Gut“, meinte er und schwieg.
Ich wusste nicht, was ich ihm sagen sollte. Ich kannte ihn kaum und spielen wollte ich jetzt nicht. Es verging einige Zeit, in der ich weiter zu meinem Stern aufblickte, um ihn nicht aus den Augen zu verlieren, doch irgendwann ergriff ich Bennys Hand und zeigte mit dem Finger nach oben.
„Siehst du diesen hellen Stern, dort, direkt über uns?“, fragte ich.
„Welchen?“
Ich bemerkte, wie seine Augen angestrengt suchten und versuchte ihm zu helfen.
„Der, neben den vier, die aussehen, wie eine sieben“, er nickte langsam und ich musste lächeln, „Das sind meine Eltern und meine Schwester. Sie reden mit mir und gucken auf mich runter und sagen mir, dass alles wieder gut wird.“
Nun lächelte auch mein neuer Freund.
„Das ist schön“, flüsterte er.
„Ja.“
Dann schwiegen wir wieder. Doch wir waren beide versunken in den Anblick, der sich uns bot und vergaßen ganz die Zeit.
Seit diesem Abend setzte ich mich jede Nacht nach draußen, egal wie kalt es war und suchte den Himmel nach dem ersten Stern ab. Sobald ich ihn fand, verschwand dieser stechende Schmerz in meiner Brust und die eiskalte Einsamkeit in mir, die mich jeden Tag verfolgten und alles füllte sich mit Wärme und Zufriedenheit. Ich malte mir aus, dass dieser Stern der helle Weg zu dem Ort sei, an dem nun meine Familie lebte. Wo jeder lebte, der mir wichtig gewesen und gestorben war. Von meiner Familie, zu meinem Hund, bis hin zu dem Schmetterling, den ich als kleines Mädchen auf der Straße gefunden und nicht hatte retten können. Manchmal saß ich die ganze Nacht draußen auf der Veranda meiner Oma und blickte in den Himmel. Mein Stern leuchtete immer am hellsten. Ich sprach jeden Abend mit ihm, in dem Glauben, meine Lieben könnten mich hören und ließ alle anderen Sterne in Ruhe. Ich wusste, dass jeder einzelne Stern einem anderen verlorenen Menschen auf dieser Welt gehörte. Dieser kleine, helle Punkt war für jeden anderen Menschen unantastbar.
So ist es immer geblieben. Ich verbrachte jeden Sonnenuntergang draußen und nur der schwarze Himmel mit den hellen Punkten konnte mich glücklich machen und mir das Gefühl geben, richtig zu leben. Mein bester Freund Benny war immer bei mir. Jede Nacht saß er mit mir draußen, schwieg, wenn ich nicht reden wollte und hörte mir zu, wenn es mir schlecht ging. Er nahm mich in den Arm, wenn es eine bewölkte Nacht war und ich mich so einsam und verlassen fühlte, dass ich am liebsten geschrien hätte. Nicht mal meine Oma schaffte es, mich so zu beruhigen wie er.
Nun, acht Jahre später, blicke ich wieder in diesen schwarzen Himmel, suche den ersten leuchtenden Punkt am Himmel und alles in mir zerspringt und schreit. Denn zum ersten Mal seit acht Jahren stehe ich hier mutterseelenallein in der Nacht, mit dem Wissen, dass ich in allen kommenden Nächten auch alleine hier stehen werde. Ohne Benny, mit der Sicherheit, dass er nie wieder an meiner Seite stehen wird. Ich drehe fast durch. Erst vor wenigen Stunden erhielt ich die Nachricht. Er war am frühen Morgen in einen Überfall geraten und Opfer einer Schießerei geworden.
Er wurde erschossen.
Einfach so.
Der einzige Mensch auf Erden, der mir mehr als mein eigenes Leben bedeutete, ist nun nicht mehr da. Ich wollte ihm doch noch so viel sagen. So oft schon habe ich ihm erzählt, dass ich mich doch wenigstens von meiner Familie verabschieden wollte und nahm ihm das Versprechen ab, mir immer die Chance zu geben, ihm auf Wiedersehen sagen zu können, wenn er einen Grund hatte, mich zu verlassen. Nun ist er fort. Er ist fort und hat sein Versprechen gebrochen und mich hier allein und verlassen, mit all den Wörtern und Fragen in meinem Kopf zurückgelassen. Alles in mir schreit, schmerzt, brennt, tritt und zappelt. Ich versuche zu atmen, bekomme jedoch keine Luft und mein Magen zieht sich panisch zusammen, während ich das Gefühl habe, mein Herz zerspringt gerade in meiner Brust.
Ich stehe Tränen überströmt und schluchzend da, ringe nach Atem und warte verzweifelt darauf, ihn zu sehen. Meinen Stern, nun auch noch mit Benny, um ihm endlich alles sagen zu können, seine blauen Augen vor mir zu sehen und seine Stimme noch einmal zu hören. Um diese Erleichterung zu spüren und meinem Schmerz endlich ein Ende zu bereiten.
Nach einer gefühlten Ewigkeit erlischt der letzte Sonnenstrahl am Horizont und ein kleiner Punkt beginnt zu leuchten. Doch zum ersten Mal seit acht Jahren wird mein Herz bei diesem Anblick nicht leichter, füllt sich nicht mit Hoffnung und Glück. Verzweifelt nehme ich einen tiefen, zittrigen Atemzug und dann, wie in Trance, mache ich einen Schritt auf diesen Hoffnungsschimmer zu, bis ich keinen Boden mehr unter meinen Füßen spüre. Noch während ich falle und auf den Aufschlag warte, schließe ich die Augen und sehe endlich – endlich! - den hellen Tunnel direkt vor meinen Augen.