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Und die Schlinge zieht sich enger

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02.06.2001
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Und die Schlinge zieht sich enger

Totale einer Eisentür. Eine Hand bewegt sich an der Kamera vorbei, hält einen Schlüssel zwischen den Fingern, der in das Schloss gesteckt und nach rechts gedreht wird.
Die Hand stößt die Tür weit auf.
Die Kamera gleitet in einen weißen (überblendeten) Raum. Auf dem Boden hockt eine weibliche Person. Ihr Blick ist starr.
Sie beginnt zu sprechen: „Alle Ungerechtigkeiten müssen beseitigt werden. Hunger. Zerstörung. Gewalt.“
Ihre Stimme wird lauter: „Waffen für den Frieden. Gewalt. Brot für diejenigen, die Hunger leiden“
Die Tür wird langsam wieder geschlossen. Kamera gleitet Arm entlang, verharrt in Schulterhöhe
„Können Sie unsere Mutter retten?“, fragt eine Frauenstimme.
Ein tiefer Seufzer eines Mannes: „Ich fürchte, Ihre Mutter ist unheilbar schizophren"
„Das war sie schon immer“, sagt eine andere Männerstimme.
Kameraschwenk auf eine graue Wand. In großen, weißen Lettern erscheint folgender Satz: „Wie lange können wirichdu es uns noch leisten, schizophren zu sein?“
Ausblenden.

***

Er hat Mist gebaut. Ralph Gormick ist sich dieser Tatsache schmerzhaft bewusst. Um diese Feststellung zu treffen, bedarf es nicht Dawns offen zur Schau gestellten Unmuts. Der Abteilungsleiter pocht ungeduldig einen unrhythmischen Takt auf der Schreibtischplatte, stößt seinen Seufzer aus.
Fast befürchtet Ralph, Dawn würde diesen einen Satz sagen: „Ralph Gormick, ich bin sehr enttäuscht von dir.“
Aber natürlich sagt er stattdessen etwas Unpersönliches, nicht direkt Verletzendes, aber doch Niederschmetterndes.
"Ich habe heute morgen Ihr erstes Grobkonzept durchgelesen, Ralph, und ich kann leider nicht behaupten, davon sehr angetan gewesen zu sein. Um ehrlich zu sein, ich fand es ziemlich schlecht."
Ralph leckt mit der Zungenspitze über die spröden Lippen. Ein Wunsch beherrscht seine Gedanken: Raus hier. Er ist nervös und tänzelt von einem Fuß auf den anderen, als wäre er ein kleiner Junge, der ob eines schlimmen Vergehens getadelt wird. Langsam reicht er Dawn die Flügelmappe mit dem ersten Detailentwurf. Dawn sieht hoch, woraufhin Ralph seinerseits den Blick senkt. Nein, bitte, jetzt nur nicht die traurige Miene. Raus hier.
"Es tut mir Leid, dass es Ihnen nicht zusagte. Wenn Sie sich vielleicht eine modifizierte-"
"Nein", entgegnet Dawn, nicht scharf, aber auch nicht freundlich.
Ralph zieht verstört den Arm zurück und presst die Mappe wie ein Schutzschild gegen seine Brust.
"Ralph, wo sind Sie bloß mit Ihren Gedanken? Sicher nicht dort, wo Sie sein sollten, nämlich bei der Arbeit."
Ralph versucht, sich der Schamesröte zu erwehren, aber schon spürt er, wie unangenehme Hitze seine Wangen zum Glühen bringt. Besser als Tränen, tröstet er sich.
Und dann fährt Dawn mit seiner Litanei fort.
„Ralph, wir sollen doch nur einen hundsgewöhnlichen, ordinären Fernsehspot liefern! Ein paar hübsche Naturaufnahmen, Unterton: Wo die Welt noch heil ist. Und ein paar hässliche Schnappschüsse unserer bösen, dekadenten, westlichen Überflussgesellschaft. Vielleicht ein Statement eines Prominenten, der sich für die herzensgute Sache einsetzen will. Den ganzen Schwachsinn untermalt von Vivaldi oder Tschaikowsky, und damit hat sich's."
Dawn hielt kurz inne.
"Aber Ihr Konzept, Ralph, ist nicht im Entferntesten dafür geeignet, zwischen Mundwasser- und Jeanswerbung die verlangte Message zu liefern."
Dawn klingt nicht wütend, eher ein wenig konsterniert. "Verstehen Sie, worauf ich hinauswill? Wir machen Werbung, in diesem Falle Eigenwerbung. Wir wollen mit diesem Spot ein positives Corporate Identity erstellen auf der Grundlage des grünen Trends, also ‚Wir und die Natur’ und so prä-romantischer Mist. Was Sie offensichtlich im Sinne tragen, ist etwas außergewöhnliches, aber das ist nicht gefragt. Gefragt ist Normalität, etwas, das so gewöhnlich ist, dass der durchschnittliche Konsument die Werbebotschaft klar zu entschlüsseln vermag."
Dawn gönnt sich eine Atempause. Während dessen fühlt sich Ralph sterbenselend. Was hat er hier nur verloren?
"Ich verstehe, Mister Dawn", versichert er, doch Dawn scheint diese Worte zu ignorieren.
„’Waffen für den Frieden’. Was soll das heißen? Wen oder was wollen Sie damit an den Pranger stellen? 'Können Sie unsere Mutter retten'. Wie aufwühlend."
"In vielen Büchern“, beginnt Ralph, der sich nun einer Ohnmacht nahe fühlt, „liest man die Bezeichnung 'unsere große Mutter' oder Gaia, und da hielt ich es für angebracht, diese Phrase in eine Art körperliche Metapher zu kleiden. In Verbindung mit dem Schlusssatz-"
"Oh, der Schlusssatz!", sagt Dawn laut und Ralph zuckt erschrocken zusammen. "Ist das wieder eine Ihrer Metaphern, deren Aussage nur wahrhaft intelligenten Personen zugänglich werden?"
"Nein. Ich meine, das hat nichts mit ... Intelligenz zu tun. Ich dachte mir, die Wirkung des Satzes würde erst dann eintreten, wenn man darüber ein paar Sekunden nachdenkt, also, worum es mir ging ist-"
Ralph verstummt, denn Dawn macht nicht den Eindruck, als wäre er noch länger gewillt, Ralphs Ansichten über sich ergehen zu lassen. Er stemmt seine fast 200 Pfund aus dem Stuhl und macht einen Schritt auf Ralph zu.
"Ralph, dies soll kein französischer Experimentalfilm mit Untertiteln werden, sondern ein Werbespot, wie Tausende andere auch. Vielleicht unterschätze ich Ihre Fähigkeiten. Wenn dem so ist wäre es gut, wenn Sie sich an die Filmakademie einschrieben. Wenn nicht möchte ich Sie bitten, sich der üblichen Konventionen zu besinnen und Ihren Philosophiefimmel oder wie auch immer man es bezeichnen möchte in Zaum zu halten."
"Ich werde mich bemühen, Mister Dawn", meint Ralph unterwürfig, und ein Teil von ihm hasst ihn dafür.
"Gut", sagt Dawn mit gelassener Stimme, "Ralph, kann es sein, dass Sie Probleme haben? Gesundheitliche möglicherweise?"
Ralph schüttelt den Kopf. "Von gelegentlichen Migräneanfallen abgesehen, nein"
Dawn nickt und legt den Kopf ein wenig schief. "Private Probleme?"
Erneut schüttelt Ralph den Kopf. Und wieder hasst er sich dafür.

***

Die Welt verändert sich nicht.
Es heißt zwar, die Welt verändere sich ständig, aber Ralph kann beim besten Willen nicht feststellen, zu welchen Veränderungen die Welt, die große weite Welt fähig wäre, vor der Ralph zu kapitulieren beginnt. Er bleibt auf dem Trottoir stehen und blinzelt in die Sonne. Derweil eilen die Menschen dieser Welt an ihm vorbei, ohne ihn eines Blickes zu würdigen.
Als die Schmerzen, die das Welleninferno in seinen Augen auslöst, überhand nehmen, schließt er die Augen ein paar Sekunden lang. Wohin ist er eigentlich unterwegs? Nach Hause etwa?
Oh Welt, versinke, denkt er, und wäre ich der große Weltenzerstörer, würde ich dich, oh Welt, in deinen Grundfesten erschüttern, zermahlen, unter tönernen Säulen, um dich neu zu erschaffen und jegliche Liebe in die Hölle zu verbannen.
Stattdessen beschließt er, ins Kino zu gehen und später vielleicht noch eine Bar aufzusuchen.

Ein Tag ist nur ein Ausschnitt einer begrenzten Wirklichkeit. Er überquert die Straße, wobei ein gelbes Taxi ihn beinahe aufspießt. Wütend schlägt der Taxi-Lenker auf die Hupe ein und brüllt Obszönitäten aus dem geöffneten Fenster. Ralph nimmt das Geschehen um ihn herum kaum noch wahr.

Die Zeit verrinnt in einer gigantischen Glaskugel, die alle 24 Stunden neu geschüttelt wird. Zwei Stunden sind vergangen und er befindet sich auf dem Parkplatz, bar jeglicher Erinnerung, was in diesen zwei Stunden geschehen ist. In letzter Zeit passiert ihm dies häufiger.
Am Horizont zeichnet sich eine weitere, einsame Nacht ohne Hoffnung ab. Ralph wohnt in der Stadt, aber jeder Tag ist für ihn ein Tag in der Wüste, die ihn emotional austrocknet.
Die Bar liegt wie ein zeitloses Gespenst, das der mitternächtlichen Stunde harrt, in einer dunklen Seitengasse. Ralph tritt ein.

Die meisten Kinder, mit denen er die Schulbank gedrückt hatte, nannten ihn Ralph McStotter auf Grund seiner Angewohnheit, Worte und Silben wie Zaubersprüche zweimal, dreimal zu wiederholen, je nach Lust und Laune seines Verstandes. Nicht selten erweckte er den Eindruck der Geistesabwesenheit.
„Ihr Sohn ist in seinen sozialen Grundfähigkeiten eingeschränkt“, hatte es eine Lehrerin in Gegenwart seiner Eltern auf den Punkt gebracht und gütig gelächelt.
Sein Onkel hatte einmal die Sorge geäußert, Ralph würde sich zu einem Autisten entwickeln. Man kam darin überein, dass er eben introvertiert sei. Doch diese ausgesprochene Übereinkunft erlosch, als er im Alter von 16 Jahren das Nasenbein eines Mitschülers gebrochen hatte. Anfangs war er über sein eigenes Verhalten entsetzt gewesen, doch dann hatte er es genossen, den Jungen weinend auf dem Boden kauernd zu sehen und mitzuverfolgen, wie die Bluttropfen, einem chinesischen Wasserspiel gleich, zu Boden kullerten.
Nach dem Grund für seine Untat befragt, hatte er nur die Schultern gehoben, gesenkt, dann wieder gehoben und noch einmal gesenkt
„Ralph Gormick, ich bin sehr enttäuscht von dir“, hatte seine Mutter geflötet und sein Vater hatte ihm einen Monat Stubenarrest verordnet und das Taschengeld ersatzlos gestrichen.

Ralph war mittlerweile zu dem Schluss gekommen, dass es etwas im Wesen des Jungen gewesen war, das ihm zum Verhängnis wurde. Möglicherweise gibt es tatsächlich eine latente Wechselwirkung Täter-Opfer. Wie sonst könnte man das seltsame Phänomen erklären, dass manche Menschen andere nachgerade aufzufordern scheinen, ein Messer in ihren Leib zu rammen oder ersatzweise zumindest einen Arm zu brechen?

Die Türklinke ist kalt, beinahe abweisend.

Weiß das Opfer von seiner Rolle? Erfüllt der Täter nur eine in ihn gesetzte Erwartung und flehentliche Bitte? Ralph setzt sich an einen freien Tisch, auf welchem noch zwei leere Gläser stehen. Er riecht kurz daran. In einem hatte sich Whiskey befunden. Ralph hält es gegen das Licht und betrachtet die Fingerabdrücke, die sich wie Kainsmale darin eingebrannt hatten.
Die Beleuchtung ist abgesoftet. Auf keinem der Tische schmilzt eine Kerze im Feuer ihrer Bestimmung. Es ist kein Lokal für romantische Gemüter. Es ist ein Lokal geschaffen für Ralphs. Augenblicklich fühlt er sich wohl. Aggressive Musik liefert den akustischen Background des Ist-Zustands. Das Stimmengewirr der Nebentische ist von keinerlei Interesse für ihn.
Worte und Sätze gleichen einem abstrakten Gebilde, das keinen erkennbaren Sinn macht. Viel wichtiger erscheint ihm die Musik, da sie in rhythmische Formen gießt und solcherarts Sinn einflößt.
Sprechen ist Kunst. Kunst maßregelt, definiert, schließt aus, zweckentfremdet
Der Kellner stellt das Bier auf den Tisch. Ralph murmelt "Danke", wie eine Anweisung eines Stapelverarbeitungsprogramms.
Die Musik wechselt, die Unsinnigkeit der Gespräche, der Dialoge, der schnöden Prahlereien an den Nachbartischen ekelt ihn an. Und nicht nur an diesem Ort.
Mit wem könnte er, Ralph, ein Gespräch führen? Mit keinem lebender Menschen...
Der Bierschaum fällt in sich zusammen. Bläschen bilden sich und verwirken. Er beginnt, die Menschen zu beobachten, die durch die Pforte schreiten, die diese Welt von einer anderen wie eine unsichtbare Demarkationslinie trennt.
Er wendet sich einen Moment dem Bier zu. Er setzt das Glas vorsichtig ab, da bemerkt er plötzlich, dass etwas merkwürdiges vonstatten gegangen ist: Am Tische ihm gegenüber hat eine Frau Platz genommen. Er hat sie nicht hereinkommen sehen. Sie könnte sich zuvor in einem Nebenzimmer oder dem W.C. aufgehalten haben und erst jetzt zurück gekehrt sein.
Er blickt die Frau an, respektvoll, bedächtig, keineswegs lüstern-starrend, was ihm wie ein Eingeständnis seiner Gewöhnlichkeit vorkommen würde. Sie erwidert den Blick; unheimlich, es ist wie ein optisches Echo, sie scheint seinen Blick lediglich zu reflektieren.
Die Nacht mag kommen und ihn zu einem Einsiedler verdammen, es kann ihn lediglich mit Gleichgültigkeit erfüllen.
Er hat sie noch nie gesehen, dessen ist er sich absolut sicher, denn wäre dem so, würde er sie wiedererkennen. Und dennoch erscheint sie ihm vertraut. Ihr Gesicht wirkt ruhig, faltenlos. Er steht auf. Irgendwann ist es immer an der Zeit zu gehen. Ralphs Zeit ist gekommen und er verschließt sich dem Zwang dessen nicht. Er geht, nicht ohne ihr einen letzten, vielleicht sogar endgültigen Blick zuzuwerfen. Erst als er auf die Straße hinaustritt, die ihrer dunklen Bestimmung des Elends entgegen dämmert, wird er einer seltsamen und doch bemerkenswerten Beobachtung gewahr: Sie, das Echo seiner darbenden Sehnsucht, die sie ihm vertraut, aber nicht bekannt schien, hatte sich ob seines Blickes nicht abgewandt.

***

In seiner Wohnung ist es unerbittlich kalt. Er behilft sich mit einer großen Tasse heißen Kamillentee, den er mit ein paar zähen Tropfen Honig streckt und umhüllt seinen frierenden, nach Wärme dürstenden Körper mit einer Wolldecke, die von roboterhaft arbeitenden Insektenvölkern aus fernen Gestaden produziert worden war.
In die Decke gehüllt, denkt Ralph nach: Jedes Leben, jedes Leiden; jeder Schmerz ist eine private Hölle, womit kein Raum für Gemeinschaften des Leidens bleibt. Ralphs Wahn und seine innere Verzweiflung sind seiner Seele verhaftet. Was würde es ihm zum Vorteil gereichen, würde er sich eines lebenden Menschen ausliefern? Wem auch? Seinen Eltern? Hätte er ihnen mehr als dankbare Ignoranz erweisen sollen? Sie ehren etwa? Aus welchem Grunde? Weil sie seiner Seele Materie verliehen hatten? Und wenn einem die eigenen Eltern fremd wie das Gebot zur Sühne waren: Wer verblieb dann noch, Seelenpartner zu sein? Die Sühne ist raffiniert und vielschichtig: Es kann die Erbschuld sein, die einen verdammt, ein psychischer oder physischer Krüppel zu sein. Natürlich gibt und gab es Euphemismen, die einen als 'Behindert' oder 'Invalide' umschmeicheln, an den harten Tatsachen des Lebens aber nichts ändern, anders zu sein, als man zu sein wünschte. Es kann die Last heranwachsender Generationen sein, die nichtsahnend unsichtbare Partikel des Todes absorbieren; Es kann falsches Verhalten sein, dessen man zu bereuen angehalten wird. Oder, wie in Ralphs Fall, die Weigerung sich einer Norm anzupassen. Die Norm der Abnormalität.
Ralph entledigt sich der Wolldecke und wirft sich seine Jacke über, um in einem Café einen Hauch Wärme zu finden.
Um den Eisblock seines Verstandes durchdringen zu können bedürfte es einer Glut, die ihm bislang verwehrt blieben ist. Was könnte diese Glut entfachen? Es ist die leidenschaftslose Sinnlichkeit des Todes, die ihn fasziniert. Was hat es mit diesem schrecklichsten, und doch auch großartigsten Phänomen des Lebens auf sich? Was fühlt man im Moment der endgültigen Ohnmacht und des Erstickens, was geschieht, wenn die Gedanken verebben? Wenn man Nichts wird?
Er hält inne: Ein glanzloser Schemen in der Ferne zieht seine Aufmerksamkeit auf sich. Sie, die Frau aus der Bar. Er beeilt sich, sie nicht zwischen den tumb umherwuselnden Menschenmassen zu verlieren. Wie kann sie nur so schnell sein? Er keucht, und weiße Odemwölkchen zerfließen mit jedem Atemzug. Nur mit Mühe gelingt es ihm Anschluss zu wahren. Beiläufig registriert er, dass sie sich auf den Rand der Stadt zu bewegt, hin zu den spärlicher besiedelten Bezirken. Jene Menschenmauer, die Ralph von ihr trennte, bröckelt langsam ab, verschwindet, je näher er dem Hort der Ausgestoßenen kommt. Die Kälte füllt seine Lungen mit Feuer, jeder Atemzug ist eine Woge des Schmerzes, aber das Ziel vor Augen darf es kein Ende der Pein geben. Doch schließlich werden seine Schritte kürzer und er muss eine Pause einlegen. Kraftlos fällt er wie ein reuiger Sünder auf die Knie. Ein kurzer Blick in die Ferne bestätigt ihm, was er bereits befürchtet hat: Sie ist entschwunden.
Plötzlich jedoch glaubt er zu wissen, wohin ihr Weg sie führt und er lächelt. Rasselnden Atems erhebt er sich.

***

Er findet sie dort vor, wo er sie vermutet hat. Sie muss mehr als eine Stunde der eisigen Kälte getrotzt haben. Als er sich ihr nähert läuft sie nicht davon. Er stellt sich neben sie, doch sie schenkt ihm keinerlei Beachtung. Sie starrt auf das Kultobjekt bewegter Generationen.
Zwischen ihren leicht geschürzten Lippen entrinnen keine Odemwölkchen. Zum ersten Mal kann er sich ihres Teints vergewissern. Sie ist ungewöhnlich bleich.
"Sie sind eine Un-Tote", flüstert er.
Endlich gönnt sie ihm einen Blick und Ralph spürt instinktiv und mit der Erfahrung des Wahnsinns, dass der Bann gebrochen ist. Leblose, starre Pupillen mustern ihn mit würdevoller Arroganz.
"Ja. Du stehst vor meinem Grab", sagt sie bedächtig und mit ein wenig in ihrer Stimme.
"Es erreicht beinahe den Komfort meiner Wohnung", meint Ralph und ringt ihr mit dieser Bemerkung ein schwaches Lächeln ab.

***

Heute Abend würde sich sein Schicksal entscheiden. Er ist unsicher, weshalb er den Zuspruch des Alkohols benötigt. Offensichtlich bemerkt sie sein Zögern, sein Klammern an das weltliche, diesseitige, das jedem Lebewesen eigen ist.
"Was hält dich hier?“, beginnt sie, ein Messer in ihrer Hand haltend, "Die Mühsal unbelohnter Arbeit? Ein lausiges Leben inmitten dieses Abfalls? Wozu warten, wenn du es sofort haben kannst? Immerzu wartet ihr auf irgend etwas. Auf das Erwachsensein, auf die Arbeit, auf ein bisschen Spaß, auf Sonnenschein, auf den Tod. Willst du das? Willst du den Tod erwarten?“
„Ich weiß es nicht“, antwortet Ralph.
Sanft lächelt sie ihn an. „Ich bin deinetwegen hier, erkennst du das nicht? Ich weiß, wie einsam du bist, glaube mir, du wirst keine Einsamkeit, keine innere Leere mehr in deinem kalten Herzen tragen"
Sie drückt seine rechte Hand. Die eisige Kälte, die diesem Akt inne wohnt, überwältigt ihn.
"Du musst die Fesseln des Irdischen abstreifen, wenn du dich nach ewiger Geborgenheit sehnst."
"Wenn dem so ist: Was für einen Sinn hat das Ganze dann überhaupt? Wozu leben?"
"Das kann ich dir auch nicht sagen."
Er wirft ihr einen skeptischen Blick zu, als vermute er, sie würde sich über ihn lustig machen. „Vielleicht ist es nur eine Art Übung für das Leben im Jenseits. Vielleicht soll es uns qualvoll zeigen, wie wir wirklich sind. Vielleicht gibt es gar kein Leben und alles ist ein Trugbild deiner kranken Phantasie. Wie dem auch sei, du kannst nicht nach einem Sinn suchen, wo es keinen Sinn zu finden gibt. Das Leben bereitet auf den Tod vor. Der Tod ist die extremste Form der Selbsterkenntnis. Aus Blut geboren, in Blut erstorben."
Ralph schluckte. „Aber wenn es etwas gäbe, dessen sich zu leben lohnte, wäre mein Tod vergebens“, wirft er ein.
Diese mysteriösen, flackernden Augen mustern ihn. „Es ist dein Leben. Es ist deine Verantwortung."
Ralph lacht hysterisch. "Verantwortung ist die Hand, die das blutende Messer hält."
Ralph Gormick, ich bin sehr enttäuscht von dir.
Er will seine Sehnsucht, seine Agonie mit seinem eigenem Blute stillen. Sie reicht ihm das Messer. Könnte die lebende Wärme des Blutes seine innere Kälte zum Schmelzen bringen?

***

Wie sind Träume zu deuten? Etwa jener, ein Adler zu sein, einfach zu springen, die Schwingen wie mächtige Fächer auszubreiten und zu schlagen, bis der Wind den Körper trägt und hochzusteigen, ehe die Sonne einen verschlingt?

Ralph Gormick hätte es nicht für möglich gehalten, dass das Rauschen des Blutes das gewaltigste, bombastischste Geräusch der Welt sein könnte. Der Ozean ist eine Brandung, die an den Klippen zerschellt und sich in seinem Innersten wieder eint, um erneut zu zerfallen.
Die Welt ist ein Ghetto der Einsamkeit.
Sie, seine Hoffnung, seine Nemesis ohne Namen, verblasst. Sie hat erreicht was sie wollte. Noch regt sich leiser Widerstand in ihm, doch die Leere beginnt ihn zu füllen.
Wie sind Träume zu deuten? Etwa jener, eine Seele zu sein, einfach zu schweben, auf einer Woge des Lichtes dahinzugleiten, keinen Schmerz, nicht physisch, noch psychisch zu verspüren, nach keinem Verlangen zu dürsten, den Hunger nach Geborgenheit auszuspeien?
Wie sind Träume zu deuten? Etwa jener, ein Mensch zu sein, zu leben, ohne einander zu verletzen, ein Bewusstsein zu formen, es zu wagen, sich mitzuteilen, keinen Seelenkerker zu bewohnen.
In seinen Ohren tönte es seltsam hohl und sein Verstand schien wie paralysiert. Er hatte befürchtet, eine Stimme würde den schier unvermeidlichen Satz sprechen, doch was ihn umfing war die Stille. Und als es endgültig war, sah er eine Silhouette ...


 

Hallo Rainer,

ich finde diese Story ganz ausgezeichnet. Sehr gefühlvoll geschrieben, ausdrucksstark, eindringlich, einfach gut.

Auf stilistische Mängel bzw. Rechtschreibfehler bin ich nicht aufmerksam geworden, hab deine Story auf diese Weise auch nicht gelesen.

Kann ich nachholen - falls es überhaupt etwas zu bemängeln gibt, habe darauf - wie gesagt - nicht sonderlich geachtet.

War halt mein erster Eindruck.

Grüße!

 

Hallo Rainer!

Zunächst mal: Die Story ist interessant und spannend genug, dass ich sie schnell durchlesen konnte und auch nicht gelangweilt war. Aber so richtig surreal fand ich sie nicht...

Allerdings habe ich, im Gegensatz zu Liz, einige Rechtschreib- oder Tippfehler gefunden. Hier nur eine Auswahl:

In großem, weißen Leitern erscheint folgender Satz

Es sollte wohl heißen: In großen, weißen Lettern erscheint folgender Satz

"Ralph Gormick, ich bin sehr enttäuscht von dir".

Ich denke, besser wäre: "Ralph Gormick, ich bin sehr enttäuscht von dir." Deine Variante habe ich jedenfalls noch nirgends gesehen.

"Aber Ihr Konzept, Ralph, ist nicht im Entferntesten dafür geeignet, zwischen Mundwasser- und Jeanswerbung die verlangte Message zu liefern"

Hinter das "liefern" kommt ein Punkt. Da kommt nur dann kein Punkt hin, wenn da stehen würde: "...zu liefern", sagte er.

Es gab noch weitere kleine Unsauberkeiten. Ich würde mir wünschen, dass der Text noch einmal von dir gelesen wird und du diese Fehler korrigierst, denn sie haben mich beim Lesen schon etwas gestört, weil mir sowas immer gleich ins Auge sticht.

Gruß,

Mario

 

hey rainer,
stimme liz zu: ausgezeichnete story.

leider habe ich ein aber: ich finde sie nicht sehr surrealistisch. untote fallen für mich nicht unter diesen begriff. und wenn man von den untoten absieht bleibt nur realistisches.
ändert aber nichts an der qualität.
cu bigmica

 

Hi Rainer,

Klasse Geschichte. Allerdings im falschen Thread. Wie bigmica sagt: von den Untoten abgesehen, ist die Geschichte sehr realistisch. Und gut.
Gruß vom querkopp

 

An dieser Stelle möchte ich mich bei allen Lesern bedanken: Da waren wirklich noch einige Fehler drinnen - Danke für die betreffenden Anmerkungen!
Ob der Text per definitionem surreal ist oder nicht, vermag ich nicht zu sagen. Für mich bedeutet Surreal, die "realae Welt" durch einen traumverzerrten Filter zu beobachten und zu beschreiben.
In diesem Sinne ist für mich durchaus surreal. Allerdings bin ich in der schöngeistigen Literatur kein bisschen beschlagen, weshalb ich euren Kritikpunkt sehr ernst nehme.

@ Gerard
Es ist richtig, dass einige öst. Künstler (Stefan Zweig fällt mir noch spontan ein) durch eigene Hand starben. Allerdings handelt es sich nicht um ein "tpyisch österreichisches" Phänomen. Selbst ein Hemingway ergab sich dem Suizid.
Aber das führt jetzt zu weit.
In diesem Text ging es mir viel eher darum zu zeigen, wie ein "anders gearteter Geist" in tiefste Verwirrung auf unserer Welt gestürzt wird. Die "Untote" stellt für mich eine moderne Sirene dar, die den Verwirrten in andere Gefilde locken möchte. Und das Messer wäre nur ein Instrument, diese Gefilde zu erreichen. Doch möchte ich es jedem selber überlassen zu urteilen, ob er den Text symbolistisch auffassen möchte oder nicht.
Wenn ich damit nicht grenzenlos gelangweilt habe, bin ich schon zufrieden ... Wie immer. :)

 

Hallo Rainer!

Eine wirklich sehr flüssig geschriebene Geschichte, und wenn ich nicht irre sind es die Gedanken des schizophrenen Sohnes einer ebensolchen Mutter, oder täusche ich mich?

Der Übergang vom Realen zum Surrealen ist sehr fließend, fast unmerklich. Plötzlich ist man einfach drin in dieser Gedankenwelt.

Was ich inhaltlich nicht ganz passend finde: Erst schreibst Du...

Das Stimmengewirr der Nebentische ist von keinerlei Interesse für ihn.
Worte und Sätze gleichen einem abstrakten Gebilde, das keinen erkennbaren Sinn macht.
...dann
...die Unsinnigkeit der Gespräche, der Dialoge, der schnöden Prahlereien an den Nachbartischen ekelt ihn an.
- Das widerspricht sich irgendwie.

So, ein paar Restfehler hab ich noch gefunden - allerdings wären es um einige Beistriche mehr, wenn ich nicht in der Badewanne gesessen wäre und für Beistriche tu ich sie nicht aus der Klarsichthülle...:D

"Was Sie offensichtlich im Sinne tragen, ist etwas außergewöhnliches,..." - Außergewöhnliches

"wenn Sie sich an die Filmakademie einschrieben." - "an die"?

"Mit keinem lebender Menschen..." - lebenden

"dass etwas merkwürdiges vonstatten gegangen ist" - Merkwürdiges

"die ihm bislang verwehrt blieben ist" - geblieben

"bedächtig und mit ein wenig in ihrer Stimme" - mit ein wenig was in ihrer Stimme?

"Ralph Gormick, ich bin sehr enttäuscht von dir." - Wenn sie das sagt, gehört es unter Anführungszeichen - oder les ich das falsch?

Alles liebe
Susi

 

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