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Und die Moral des Spiels

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26.05.2001
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Und die Moral des Spiels

Wilhelm Naumann schnaufte. Die vier Stockwerke, die er jeden Tag herauf- und herunterlaufen musste, waren für einen Mann seines Alters eben sehr anstrengend. Es war ganz normal, dass man da außer Atem kam. Das lag nicht etwa an dem dicken Bauch oder daran, dass er keinen Sport trieb. Das lag einfach nur daran, dass er alt war.
Ja ja, dachte Naumann, und er wusste, dass er sich damit wie so oft selbst belog, es liegt wirklich nur an meinem Alter. Ich bin eben nicht mehr der Jüngste. Aber für mein Alter - für mein Alter bin ich eigentlich richtig fit. Ich bin 36, was will man da anderes von mir erwarten?
Er stand vor seiner Haustür und kramte nach der Identitätskarte. Er war durchgeschwitzt, seine dunkelblonden, halblangen Haare klebten ihm auf der Stirn.
"Wo habe ich sie nur?", sprach er zu sich selbst, "wo ist diese verdammte Karte?"
Er kramte weiter, durchwühlte seine gesamte Ledertasche, fischte hier herum, fischte in dem untersten Teil der Tasche.
Das schreckliche Kind, das eine Etage über ihm wohnte, sprintete die Stufen herunter und rannte mit einem Affenzahn durch das verdreckte Treppenhaus.
"Na Willie", neckte ihn der Pubertierende, "wieder mal verschwitzt? Wie immer, oder?"
"Mach lieber deine Elektromusik leiser! Ich habe dir schon tausendmal gesagt, wie sehr mich das stört. Die hört man nämlich bis zum Hauseingang. Ich habe in deinem Alter wenigstens noch richtige Musik ge- "
"Halts Maul, alter Sack", frotzelte das Blag und lief währenddessen einfach weiter, der Straße und seinen drogenverseuchten Freunden entgegen.
Endlich fand Naumann die Identitätskarte und steckte sie in den Schlitz neben der Tür. Ein Piepsen ertönte, eine grüne Leuchtdiode neben dem Schlitz blinkte und die Tür öffnete sich.
Verdammtes Kind! Ich bin nicht alt.
Doch dann fiel Naumann ein, dass er genauso gewesen sein musste. In seiner Jugend hatte er ganz bestimmt auch so nervig auf die Erwachsenen gewirkt. Es fiel ihm ein, dass die Nachbarn sich ständig bei seinen Eltern beschwert hatten; die Musik sei zu laut gewesen, und er hätte immer nur Krach gemacht.
Aber trotzdem: Das Kind stört mich einfach! Hoffentlich stirbt es irgendwann an seinem Drogenkonsum, dann muß ich das ewige Bumm-Bumm aus seinem Hi-Fi-Surround-Verstärker nicht mehr ertragen.
Naumann betrat seine Wohnung, die wie eine stinknormale Single-Wohnung wirkte. Hier lagen gebrauchte Unterhosen herum, da konnte man Zeitschriften vom letzten Monat ausmachen, dort fand man einen einzelnen Socken, dessen zugehörigen man nirgendwo entdecken konnte.
Ja ja ja, irgendwann räume ich hier auf. Irgendwann. Wenn ich mehr Geld verdienen würde, könnte ich mir eine Putzfrau leisten, aber warum? Es besucht mich doch sowieso kein Schwein. Das liegt bestimmt an meiner symphatischen Art.
Sarkastisch fügte er einen Gedanken hinzu, der ein böses Grinsen auf sein Gesicht huschen ließ: Das liegt an meinem Alter, an was sollte es sonst liegen, dass mich niemand besucht?
"Sind Nachrichten vorhanden?", fragte er den Hauscomputer gelangweilt.
Wenn ich welche bekomme, sind das sowieso nur Werbenachrichten oder die Zeitung. Oder Nachrichten von meinen Eltern.
"Eine Nachricht vorhanden", hauchte eine erotisch klingende Frauenstimme aus den versteckten Raumlautsprechern. Die Stimme hatte er sich aus vorgefertigten Schemata ausgesucht, damit er sich nicht so alleine fühlte.
Solch eine angenehme Stimme lässt einen den langweiligen Alltag vergessen, aber sie nutzt sich auch schnell ab. Nächste Woche tausche ich die Stimme aus und kaufe eine neue.
"Von wem?"
"Gerd Seifert", antwortete die Frauenstimme des Computers.
Es war Naumanns Chef - mit solch einem Anrufer hatte er nicht gerechnet, irgend etwas schien passiert zu sein. Ein leichter Schauder huschte ihm über den Rücken, und er machte sich auf schlechte Neuigkeiten gefasst.
"Abspielen", stöhnte er mit einer leisen Vorahnung.
Seifert sagte, dass Wilhelm Naumann zur TWK-Zentrale fahren sollte. Er sagte, dass es ein Problem gebe und dass Naumann in nächster Zeit viele bezahlte Überstunden bekommen würde.
Und Seifert blieb währenddessen vollkommen gelassen. Er blieb genauer ausgedrückt immer gelassen, und das machte Wilhelm Naumann unruhig. Je gelassener sein Chef war, desto nervöser wurde er selbst.
Ich hätte gar nicht glauben sollen, dass ich mich für ein paar Stunden aufs Ohr legen kann. Kaum ist man in seiner Wohnung, muss man auch schon wieder gehen. Ich liebe mein schönes Luxusleben. Nur nicht zuviel entspannen, das macht träge, lächelte Naumann zynisch.

Er betrat den Bürokomplex, in dem sich auch die TWK-Zentrale befand. Ein stechender Schmerz machte sich in Naumanns Magengegend breit, der diesmal ausnahmsweise nicht von seiner schwächlichen Kondition hervorgerufen wurde.
Habe ich etwas falsch gemacht, fragte er sich. Oder was war es sonst? Man kann ja nie wissen, was man für Fehler gemacht hat.
Immerhin bekomme ich bezahlte Überstunden.
Und deswegen kombinierte er, dass man ihn nicht feuern würde und dass er, wenn überhaupt, nur einen ganz kleinen Fehler gemacht hatte. Das Stechen in der Magengegend ließ ein wenig nach.
"Guten Tag", schnaufte er der Sekräterin mit den langen Beinen entgegen, "Herr Seifert wollte mich sprechen"
"Ihr Name?", erwiderte diese unterkühlt und starrte ihn mit einem durchdringenden Blick an.
Nachdem Naumann sich vorgestellt hatte, teilte sie ihrem Chef den Besucher mit: "Ein kleiner untersetzter Herr mit Akneproblemen steht hier. Ich glaube, es ist der Techniker, den Sie erwarten"
"Ist es Naumann?", hörte er seinen Vorgesetzten durch die Sprechanlage.
"Ja", sagte die Sekräterin, "ja, ich glaube, so heißt er"
"Dann lassen Sie ihn bitte zu mir in das Zimmer", redete Gerd Seifert in einem unpersönlichen und gleichzeitig ruhigen Tonfall.
Wilhelm Naumanns Gedanken begannen zu rasen.
Immer redet er so entspannt. So locker. So, als wenn ihn nichts aus der Fassung bringen könnte. Es wird irgendwas passiert sein. Ich habe Mist gebaut. Ich weiß, dass ich etwas falsch gemacht habe.
Der Schmerz in der Magengegend verstärkte sich erneut.
"Los", fauchte die Sekretärin mit den ellenlangen Beinen, "gehen Sie schon ins Büro vom Chef!"

Sein Vorgesetzter streckte ihm die Hand zur Begrüßung entgegen. "Guten Tag, Herr Naumann", sagte er in einer monotonen Sprechweise, in der er auch die Lottozahlen vorlesen könnte, "ich freue mich, dass Sie kommen konnten. Setzen Sie sich"
"Hallo", antwortete Naumann verschüchtert, folgte dessen Anweisung und versank in dem riesigen Lederstuhl, den ihm sein Chef angeboten hatte.
"Sie wissen höchstwahrscheinlich noch nicht, weswegen ich Sie hergebeten habe", blubberte sein Chef ohne Betonung auf irgend welche Worte heraus, "und ich hoffe, dass Sie nach diesem Gespräch niemandem erzählen, weswegen Sie hier waren"
Ha! Wem sollte ich das schon erzählen? Mir hört doch sowieso niemand zu. Bei mir ist jedes Geheimnis gut gehütet, weil ich einfach keine Gelegenheit zum Weitererzählen habe.
"Ich werde schweigen wie ein Grab", antwortete Naumann wahrheitsgemäß.
"Gut", begann der stinkreiche und in einem teuren Anzug steckende Chef seinen Monolog, "Sie sind der Cheftechniker der deutschen TWK-Zentren. Sie haben bisher immer gute Arbeit geleistet. Sie waren immer pünktlich, und Sie waren während Ihrer neunjährigen Dienstzeit nur vier Mal krank. Um es zusammenfassend auszudrücken: Ich bin zufrieden mit Ihnen"
Naumann wunderte sich, was Seifert von ihm wollte, denn nur um ihn zu loben, hatte er ihn sicher nicht hierher geordert.
Wie seelenruhig er das alles vortrug. Und hör auf zu zittern, oder verbirg es wenigstens unauffällig.
"Ihnen sind in letzter Zeit sicher kleinere technische Defekte an den Traum-Wirklichkeits-Kabinen aufgefallen, die Sie wahrscheinlich reparieren konnten", setzte der Rolexträger seine Rede fort, "leider konnten Sie diese kleinen Mankos nicht völlig reduzieren, und leider ist das unser minimales Problem. Wir müssen kleinere Kundendienste durchführen, die wir Ihnen natürlich mit dem doppelten Stundenlohn anrechnen werden."
Wilhelm Naumann wusste nicht, worauf sein Chef hinauswollte. Er wusste nur, dass es in der Tat hier und da Macken im System gegeben hatte, die aber zur Normalität der TWK gehörten.
Nur deswegen musste der Chef doch keine Kundendienste veranlassen!
"Herr Naumann", sagte Seifert, "die Fehler, die ich meine, sind sehr gravierend. Wir mussten einen Teil des TWK-Netzwerks ausschalten, und dabei ist es zu nicht gerade leichten Verlusten gekommen.
Mehrere Kunden hingen im Programm fest und erlebten immer wieder die selbe Szenarie. Sie waren, um es bildlich auszudrücken, eingesperrt. Das Schlimme daran war, dass die Spieler nichts davon wussten. Denn Sie wissen ja, wie das ist, wenn man ein TWK-Modul spielt, Herr Naumann."
Wilhelm Naumann hatte schon viele TWK-Module in seiner Freizeit gespielt, und immer wieder war er davon beeindruckt gewesen, dass er während des Spiels wirklich gedacht hatte, dass alles real war und zum wahren Leben gehörte. Erst wenn ihn jemand vom TWK-Servicepersonal abgekoppelt hatte, wusste er, dass alles nur ein Spiel gewesen war.
"Bei anderen Kunden wiederum wurde das Programm unterbrochen, und die Spieler sollten sich ein anderes Modul aussuchen. Natürlich haben sie ebenfalls nicht gewusst, was mit ihnen geschah, denn auch sie wussten natürlich nicht, dass sie sich in einem Spiel befanden. Sie können sich doch sicher vorstellen, wie verwirrt die Spieler sein mussten, als ihre persönliche Realität aus den Angeln gehoben wurde", sagte Gerd Seifert, "wir haben den Hauptcomputer ohne Sie zu informieren ausgestellt, in der Hoffnung, dass wir damit den größten Teil der Computerdaten retten konnten. Ansonsten wäre mit Sicherheit alles kaputtgegangen. Das gesamte System war völlig überhitzt, und dann ist es einfach passiert.
Siebenundzwanzig Kunden sind gestorben, weil sich ihr Gehirn nicht so schnell darauf einstellen konnte, so unerwartet von einer virtuellen Wahrnehmung in die Realität überzugehen. Aber es musste sein, dass wir einen Neustart vornahmen."
Naumann erschrak. Dann hatten die Traum-Wirklichkeits-Gegner doch recht gehabt. Er konnte sich noch genau an die Slogans erinnern, die auf riesigen Transparenten prangerten: "TWK - Kein Hirn mehr da", stand zum Beispiel auf einem, "Tod Wird Kommen", auf einem anderen.
Drei Wochen hatte es angedauert, bis er unbeschadet und ohne Probleme zu seiner Arbeit gelangte, ohne faule Eier, die ihm an den Kopf geworfen wurden; dann nämlich hatten die Miesmacher aufgegeben, weil sie das Desinteresse der TWK-Chefs nicht mehr ausgehalten hatten und aufgaben. Sie waren eben nicht besonders standhaft gewesen. Drei Wochen? Drei Jahre hätten sie stehen müssen, um etwas zu erreichen. Aber doch nicht läppische drei Wochen!
"Und jetzt?", fragte Wilhelm Naumann leise und schüchtern.
"Jetzt", sein Chef machte eine kurze Pause, "jetzt fahren Sie zu den Hinterbliebenen der Ex-Spieler und teilen Ihnen mit, dass ihr Ehemann, Freund, Vater - was auch immer - nicht mehr ist und zahlen ihnen eine nette Abfindung, die die Trauergemeinde natürlich nur bekommt, wenn sie einen Vertrag unterzeichnet. In dem wird dann ungefähr stehen, dass die Presse nicht darüber informiert werden soll, keine Polizei, kein Getratsche mit Freunden, bla, bla, bla. Das Übliche eben. Wir können uns einen Medienrummel einfach nicht erlauben. Sie wissen, wieviel Macht unsere Gegner schon jetzt haben. Wenn dieser Fehler publik würde, könnten wir beide unseren Job an den Nagel hängen."

Toller Plan, dachte Wilhelm Naumann und sah sich sein Gesicht im Spiegel an. Mit Leuten sprechen! Das konntest du doch schon immer.
Er hatte seinen besten Anzug angezogen - mit Krawatte - und betrachtete sich im Spiegel.
Akneprobleme hat sie gesagt. Akneprobleme! Aber dafür ist sie nur eine dumme, dumme Sekretärin, und ich bin Cheftechniker! Da kann ich mir ruhig ein paar Pickel hier und ein paar Mitesser da erlauben. Und als Cheftechniker hat man nun einmal unangenehme Pflichten. Und mit Leuten sprechen gehört dazu.
Also verließ Naumann seine Wohnung und watschelte unsicher zur Untergrundmagnetbahn, die ihn zu seinem ersten Auftrag fahren würde.
Er fühlte sich nicht wohl unter all den fetttriefenden Menschen, die er in der UMB beobachtete. Die meisten schienen genauso oberflächlich zu sein wie er selbst - das störte ihn nicht weiter. Sie waren auch nicht unbedingt anders als er, es war einfach nur dieser Blick in ihren Augen, der ihn störte. Dieses schiefe Grinsen, dieses Gehässige in ihrem Ausdruck. Aber wahrscheinlich hatte er genau den selben Blick. Wahrscheinlich sahen alle Menschen genauso niederträchtig aus.
Ein wichtigeres Problem schob Naumanns Grübeln in den Hintergrund, und ihm wurde klar, wie schwierig seine neue Aufgabe sein würde.
Wie würden sie darauf reagieren? Wenn ich es ihnen sage? Und wie sollte ich es ihnen am besten klarmachen? Sollte ich einfach sagen: "Ja, hallo. Schönen guten Tag. Ich komme im Auftrag der TWK-Zentrale. Ach übrigens: Ihr Mann ist tot. Unterschreiben Sie einfach nur diesen Vertrag hier, und Sie bekommen Geld als Ersatz. Ist doch schön, nicht wahr, meine Dame?".
Nein, so einfach war das alles natürlich nicht, und weil das alles nicht ganz so einfach war, hatte Naumann Angst. Schon so brachte er wegen seiner Schüchternheit kaum ein Wort heraus, wenn er mit fremden Menschen reden mußte.
Nur bei Kleinvieh traue ich mich, grinste er, nur bei kleinen, widerlichen, stinkenden Kindern, die viel zu laut Musik hören.
Die Magnetbahn hielt an, und die anonyme Computerstimme tönte die Station aus, bei der Naumann aussteigen mußte. Und Naumann stieg aus.

Er drückte auf den roten Summer und wartete. Er wartete eine Minute. Er wartete noch eine halbe Minute länger. Er wollte sich gerade abwenden, doch dann öffnete sich die Tür des Reihenhauses.
"Was wolllen Sie von mir?", fragte eine zierliche Gestalt, die im Gegensatz dazu relativ viel Bartwuchs ihr Eigen nennen konnte, "ich habe gerade geschlafen!"
"Sie... ähh" - stotterte Wilhelm Naumann - "hallo. Warum haben Sie" - Naumann rang nach Worten - "haben Sie denn geschlafen?"
Der Mann kam auf ihn zu, und er sah gereizt aus.
"Warum ich geschlafen habe?", fragte er, "warum ich geschlafen habe, will er wissen! Jeder Mensch schläft! Sollten Sie auch mal ausprobieren!"
Verschüchtert stand Naumann da und spuckte nach ein paar Sekunden Stille - versüßt mit mehreren "Ähs" und einigen Unterbrechungen - seine Antwort heraus. "Aber es ist ein Uhr? Ist das Ihr Mittagsschlaf?"
"Ob das mein Mittagsschlaf ist, fragt er! Natürlich nicht! Ziehe ich mir zum Mittagsschlaf meinen Pyjama an? Nein! Und er hat immer noch nicht gesagt, was er von mir will!"
"Ich" - das erste "Äh" in diesem Satz - "komme von der TWK- Zentrale, und" - das zweite "Äh" - "ich weiß nicht, wie ich es Ihnen schmerzlos beibringen soll, aber" - drittes "Äh" - "Ihre Frau ist in einer TWK gestorben"
"Oh wie schön", lächelte der Bärtige, und zum ersten Mal in diesem Gespräch freute er sich, "ich konnte sie sowieso nicht ausstehen. Eine gute Nachricht zum Frühstück, und der Tag ist gerettet!"
"Und es wird noch besser", erwiderte Naumann, "als Abfindung zahlt Ihnen die TWK-Zentrale sechzigtausend Euro. Wenn Sie sich diesen Vertrag hier ansehen würden"
Der Mann überflog das Papier, das Naumann ihm gegeben hatte, doch die sechzigtausend Euro hatten ihn längst überzeugt.
"Wo muss ich unterschreiben?", fragte er den Cheftechniker.

Nach jedem Auftrag sollte sich Naumann bei seinem Chef melden, und weil er positive Nachrichten mit sich brachte, ging er gerne zum Chef.
"Guten Tag", lächelte er die Sekretärin an, "ich würde gerne zu Herrn Seifert"
"Und?", gab diese pampig von sich, und sofort fiel Blässe in Naumanns Gesicht.
"Und was?", flüsterte er fast unhörbar, und er starrte in ihre wunderschönen, wasserblauen Augen.
"Und weswegen wollen Sie den Chef sprechen?", erklärte sie genervt, "Sie sind doch ganz bestimmt nicht grundlos hier hergekommen"
Wilhelm Naumann atmete auf.
"Wegen dem ersten Auftrag", sagte er, und die Sekretärin mit den langen Beinen pampte zurück: "Das heißt ‚wegen des ersten Auftrags', hirnloser Techniker", sagte die Blondine, dann gab sie Herrn Seifert bescheid.
"Der Chef erwartet Sie", sagte die Sekretärin.
Wilhelm Naumann wankte zur Bürotür und betrat Seiferts Zimmer.

"Sehr gut", lobte der Chef, "das haben Sie wirklich sehr gut hinbekommen. Machen Sie weiter so."
Wilhelm Naumann war stolz. Endlich hatte er etwas hinbekommen, wovor er viel Angst gehabt hatte.
Mit Leuten reden! Das ist gar nicht so schwierig, wie ich gedacht habe. Aber vielleicht ist das nur Anfängerglück. Immerhin muss ich noch sechsundzwanzig Menschen besuchen.
Sechsundzwanzig Mal mit wildfremden Leuten reden! Kann ich nicht lieber wieder ganz normale Arbeit machen?

Er saß in der Untergrundmagnetbahn und fühlte sich unwohl. Warum konnte er nicht einfach wieder ganz normaler Techniker sein? Er wollte mit Maschinen arbeiten und nicht mit Menschen. Menschen reden zu viel. Menschen machen Probleme. Menschen starren einen ständig mit hinterlistigen Augen an.
Und er wunderte sich, warum Seifert ihm diese Aufgabe anzuvertraut hatte.
Ich kann das doch überhaupt nicht. Ich bin doch nur Cheftechniker. Und ist dieser Vertrag überhaupt rechtskräftig? Was passiert, wenn doch jemand zur Polizei oder zu irgend einer Zeitung rennt?
Es wird schon alles in Ordnung sein. Der Chef hat es mir ja befohlen.

Naumann betrat den Vorraum zu Seiferts Büro. Die Sekretärin mit den langen Beinen und den bezaubernden Augen hob ihren Kopf und sah ihn an.
Er nahm all seinen Mut zusammen. "Hallo", sagte Naumann, "ich komme jetzt schon fast einen Monat hier her. Und ich kenne immer noch nicht Ihren Namen"
Sie verzog keine Miene, als sie antwortete. Und wenigstens antwortete sie! Sie hätte ihn ja auch auslachen können.
"Ich heiße Karin Boll", antwortete die Sekräterin, und dann fügte sie nach einer ganz kurzen Atempause hinzu, dass Gerd Seifert schon auf ihn warte.
Und sie hat nicht über mich gelacht!

"Herr Naumann! Sie haben Ihre Aufgabe gut gemeistert. Nur noch drei weitere Ex-Spieler, und Sie haben es geschafft. Ich bin stolz auf Sie. Sie sind einer meiner besten Mitarbeiter. Ich habe allen Grund, Sie zu loben."

Wilhelm Naumann stand vor einem riesigen Hochhaus und drückte auf einen Summer.
"Ja, bitte?", hörte er eine verunsicherte Stimme aus der Sprechanlage, und Naumann antwortete nun schon viel selbstsicherer als bei den ersten Aufträgen.
"Frau Storm", sagte er, "ich komme von der TWK-Zentrale. Entschuldigen Sie bitte, dass wir uns erst jetzt mit Ihnen in Verbindung setzen konnten, aber das Problem betrifft nicht nur Sie. Es geht um ihren Sohn. Er-"
"Was ist mit meinem Sohn", schrie Frau Storm völlig aufgelöst durch die Sprechanlage, "was ist mit ihm? Wo ist er? Was ist mit ihm passiert?"
Wilhelm Naumann hörte sie aufschluchzen.
"Sagen Sie es mir", rief sie, "los! Sagen Sie mir, was mit Daniel los ist!"
Wilhelm Naumann riss sich zusammen.
Jetzt nur keinen Rückzieher machen, dachte er. Sag es ihr einfach. Unverblümt und direkt. Das ist dann ein Schock, aber dafür ist die Sache schnell aus dem Weg geräumt.
"Er ist tot", antwortete Naumann kühl und wartete eine Reaktion ab.
Das war ein Fehler! So macht man das nicht. So hätte ich das nicht machen dürfen!
"Das ist ein Witz", hörte er sie durch die Sprechanlage, "das ist doch nur ein Witz?"
Naumann versuchte locker, sachlich und diskret zu bleiben. "Mit dem Tod macht man keine Scherze, Frau Storm", erwiderte er und wusste dabei selbst, wie unangebracht dieser Satz war - er hätte etwas Tröstendes sagen müssen.
"Was ist mit ihm passiert?", flüsterte sie.
Nicht hier. Nicht mitten auf der Straße. Das wäre genauso wenig nicht angebracht.
"Können wir das nicht in Ihrer Wohnung besprechen?"
Das war nichts anderes als Routine im Überbringen von Hiobsbotschaften, und mit der Zeit hatte sich Naumann daran gewöhnt.

Eine Frau mit dunkelbraunen Haaren begrüßte ihn, als er an der Wohnungstür im Treppenhaus ankam.
Sie hatte irgendwie etwas Bäuerliches im Gesichtsausdruck. Und sie sieht so aus, als hätte sie geweint. Ihre blaue Jeans muss mal gewaschen werden. Und ihr T-Shirt ist auch nicht mehr das neueste. Etwas gammlig, das gute Stück.
Sie hat das Geld wirklich nötig. Geld ist ja auch pflegeleichter als ein vierzehnjähriger, traumwirklichkeits-abhängiger Sohn.
Sie saßen in einem Wohnzimmer, das Wilhelm Naumann mehr an eine Rumpelkammer erinnerte als an einen anheimelnden Raum, in dem man sich gerne aufhielt. Das Sofa zeigte grobe Verschleißerscheinungen, und die Wände waren vom Schimmel schon gelb-blau angefärbt.
"Und hier wohnen Sie?", fragte er Frau Storm naserümpfend.
"Ja, ich wohne hier", antwortete sie, "haben Sie irgend etwas dagegen?"
"Ich", begann Naumann, verhedderte sich in einigen "Ähs" und mehreren "Nun-Jas" und lenkte schließlich ganz vom Thema ab, weil er nicht wusste, was er antworten sollte. Er wusste nur, dass er der Frau unhöflich, arrogant und schroff vorkommen musste.
Nur meinen Job erledigen, dachte er immer wieder. Nur meine Arbeit machen. Und dann gehen!
"Ihr Sohn ist in einer Traum-Wirklichkeits-Kabine gestorben", sagte er trocken, "es gab einen technischen Defekt in unserem Hauptcomputer. Diesen mussten wir folglich abschalten, und einige unserer Kunden haben den abrupten Eintritt in die Realwelt nicht überstanden. Ihr Sohn war einer dieser unglücklichen Menschen. Mein Beileid, Frau Storm. Als Abfindung bekommen Sie von uns eine angemessene Summe Geld überwiesen. Sie müssen nur diesen Vertrag hier unterschreiben"
Er versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, dass er stolz war. Diesen Stil hatte er sich bei seinem Chef abgeguckt.
Kurz, knapp. Emotionslos. Zack. So geht das. Und vor allen Dingen kein Mitgefühl! Das hast du gut hingekriegt!
Für einen kurzen Moment wusste Eva Storm nicht, ob sie hysterisch loskeifen, weinen, wild um sich schlagen oder einfach nur zusammenbrechen sollte. Sie entschied sich für eine Mischung aus allem.
Und als der TWK-Spinner trotz dieser eindeutigen Reaktion die Frechheit besaß, zu fragen, ob Eva Storm den Vertrag unterschreiben würde, platzte ihr der Geduldsfaden: Sie schrie und brüllte und spuckte ihn an.
"Verschwinden Sie aus meiner Wohnung. Sie können meinen Sohn nicht mit Geld auswechseln. Meinen Sohn kann nichts ersetzen. Hauen Sie endlich ab, und zwar schnell!"
Bevor er den ersten Fuß in das Treppenhaus gesetzt hatte, kam Naumann der Gedanke, ihr zu sagen, dass sie das Geld doch gut gebrauchen könnte.
Er verwarf diese Idee schnell wieder, denn ihm kam in den Sinn, dass es auch schon reichte, wenn er nur einmal am Tag angespuckt wurde.
Naumann verließ das Hochhaus, und ein erfrischender Wind wehte ihm um sein errötetes und bespucktes Gesicht.

Er zog sich aus, und er war müde und ausgelaugt. Fast schon leer. Er musste sich ausruhen.
"Computer", hatte er vor ein paar Minuten in die leere Wohnung geflüstert, "warmes Wasser in die Badewanne einlaufen lassen"
Endlich wusste das billige Mistding, was sich Naumann unter warmem Wasser vorstellte. Er hatte lange herumexperimentieren müssen, bis das Gerät verstand, dass das Wasser eine Temperatur von zweiunddreißig Grad haben musste, um als warmes Wasser durchgehen zu können.
Endlich hatte der Computer das verstanden!
Doch in Wirklichkeit hatte Naumann verstehen müssen, dass ihm zwanzig Grad zu kalt und vierzig Grad zu warm waren - nicht das Gerät musste lernen, sondern er hatte etwas herausfinden müssen.
Er hasste Dinge, die nicht perfekt waren, und deswegen hasste er diesen Computer.
Immer musste er herumdoktern, neue Begriffe definieren und manchmal sogar ernsthafte Fehler reparieren. Aber wenn er ehrlich war, machte ihm genau das viel Spaß. Er liebte es, hier herumzuschrauben, da einen kaputten Chip auszutauschen und dort etwas zu verbessern. Und wahrscheinlich liebte er genau deswegen seinen Beruf.
Das Wasser schmiegte sich angenehm um seinen Körper. Naumann mochte dieses Gefühl, von etwas Warmem umgeben zu sein. Er plätscherte ein wenig mit seinen Händen im Wasser, und auch dieser Klang beruhigte ihn für einen kurzen Augenblick, doch kurze Zeit später drängten sich seine Probleme erneut in den Vordergrund.
Im Moment störte Naumann einfach alles, und sein neuer Job störte ihn ganz besonders.
Mit Menschen reden muss ich jetzt! Ich hasse das. Warum muss gerade ich diese Drecksarbeit machen? Weil ich dafür verantwortlich bin, dass die Technik versagt hat? Ist das eine Strafe von meinem Chef, die er mir aufhalsen wollte?
Er war für den Umgang mit Menschen ungeeignet, sonst wäre er ein Berater in einem Betrieb geworden und nicht Techniker.
Berater kriegen nämlich viel mehr Geld als Techniker! Ist ja auch schwieriger, mit Menschen zu arbeiten als mit Maschinen.
Wenn die mal alle wüssten! Ich will für meine normale Arbeit genauso viel Geld bekommen, wie ich jetzt kriege. Oder noch mehr.
Er war nach dem Termin mit Eva Storm nicht wie vereinbart zu seinem Chef gegangen, um ihm vom Gesprächsablauf zu berichten. Naumann hatte Angst, weil er wusste, dass er nicht richtig auf die Frau reagiert hatte. Er wusste, dass sein Chef wütend wird.
Lieber etwas verschweigen als sich der Lage stellen! Vielleicht kam er gut mit dieser Taktik weg. Vielleicht hatte Seifert vergessen, dass Naumann heute zu Frau Storm gegangen war.
Das Badewasser hatte sich zu einer dreckigen Brühe verwandelt, und warm konnte man es nun auch nicht mehr nennen.
So lange liege ich jetzt schon hier, grübelte er, und richtig entspannt fühle ich mich auch nicht.
Seine Haut war verschrumpelt, und seine Hände waren zu Hausfrauenhänden verkommen. Er betrachtete seinen Körper und ekelte sich.
Diesen schwabbelig-verschrumpelten Ballon mit Rettungsringen konnte er ja auch nicht anders ansehen als frustriert und mit einem hochroten Kopf. Zum Glück muss mich niemand nackt sehen!
Ja, erkannte Naumann, ich bin wirklich ein alter Sack. Da hat dieses schreckliche Gör schon recht. Ich bin alt, und dick bin ich auch! Kein Wunder, dass mich niemand mag. Das liegt nicht nur daran, dass ich alt bin.
Naumann spitzte die Ohren. Wenn er genau hinhörte, konnte er einen Bass hören, der rhythmisch zu irgendeinem Elektrogeziepe klappterte! Wie oft hatte er ihm schon gesagt, dass ihn diese laute Musik nervte? Wie oft musste er das Kind noch anschnauzen, bis es das begriff.
Das mache ich nicht mehr mit, fluchte Naumann, das mache ich nicht mehr mit!
Er schäumte vor Wut fast über und schnappte sich das Handtuch, das neben der Badewanne lag. Jetzt schnell anziehen und bei den Eltern des Giftzwergs beschweren!
Mit einem Fuß hatte er den Holzfußboden seines Badezimmers schon berührt, als sich die Frauenstimme des Computers zu Wort meldete.
"Ein Anruf für Sie."
Naumann ließ sich zurück in die Badewanne gleiten.
"Wer ist es?", fragte er in einer genervten Stimmlage. Die Frauenstimme antwortete, und sie hauchte den Namen von Naumanns Chefs aus.
Damit hatte er gerechnet. Natürlich hatte Seifert nicht vergessen, dass sein untergebener Techniker heute eine weitere Unterschrift einzutreiben hatte.


Gerd Seifert hatte ihm gesagt, dass er sich beeilen sollte und dass er sich auf Kosten der Firma ein Taxi rufen wird und zurück zu Eva Storm fährt. Dass er sie bedrängt, den Vertrag zu unterschreiben. Dass er nachfragen wird, ob sie schon etwas ausgeplaudert hat. Ob sie schon mit einem Journalisten geredet hat oder mit irgend einer Gruppierung, die gegen die TWK arbeitet. Und dass er sich danach wieder bei ihm melden würde.
Und wie immer war der Chef ruhig geblieben. Er wirkte nicht einmal sauer, obwohl ihm Naumann seinen Misserfolg bewusst verschwiegen hatte.
Wenn Seifert ihn doch nur angeschrien hätte! Er hätte den Cheftechniker mit was auch immer foltern können - alles hätte der Cheftechniker besser gefunden als diese Ruhe, die der Chef ausstrahlte.
Wilhelm Naumann hasste das alles, und das mulmige Gefühl in seinem Magen wurde immer stärker je näher er an die Wohnung von Eva Storm heranschwebte.

"Das macht dann hundert Euro", sagte der Fahrer, als das Taxi zum Stillstand gekommen war.
Wilhelm Naumanns Kopf errötete ein wenig, und seine Fistelstimme brachte genau die Worte heraus, die die Wirkung eines Faustschlags gehabt hätten, wenn Naumann sie selbstsicher vorgetragen hätte. "Ich bezahle nicht. Die TWK-Gesellschaft sponsort mir diese Fahrt!"
"So so!", lachte der Taxifahrer, "und das soll ich Ihnen abnehmen?"
Naumanns Kopf wirkte, als würde er gleich explodieren. Er hasste es, so schüchtern zu sein. Warum konnte er nicht einfach ruhig bleiben, wenn er mit fremden Menschen sprach? Warum brauchte es so lange, bis er seine Schüchternheit überwunden hatte?
Kommentarlos holte Naumann sein Handy heraus und drückte auf den Bildübertragungsknopf. Nach einer kaum merklichen Ladezeit wurde das Gesicht von Gerd Seifert in die Luft projeziert.
Das Handy hatte er sich von seinem stark erhöhten Gehalt gegönnt, und er war sehr stolz darauf.
Alle anderen haben nur Handys mit einem winzigen Farbdisplay. Und ich habe eins mit Projektor! Gut, dass ich so reich bin. Jetzt kann ich mir endlich viele Sachen leisten, die ich mir schon immer gewünscht habe. Geld macht eben doch glücklich!
"Guten Tag", hatte Seifert vor etwa einer halben Stunde auf Naumanns Handy aufgezeichnet, "bitte stellen Sie eine Rechnung auf die TWK-Gesellschaft aus, ihr Fahrgast muss nichts bezahlen - ich werde Ihre Dienstleistung bezahlen. Vielen Dank für die Zusammenarbeit und noch einen angenehmen Arbeitstag"
Dann verschwand der Kopf des Chefs wieder, und Naumann hatte es genossen, wie das Grinsen des Taxifahrers immer kleiner wurde, bis die Mundwinkel richtig schön herunterhingen, und der Herumkutschierer verschüchtert in Naumanns Gesicht starrte. Gerd Seifert war nun einmal oft in der Presse und landesweit bekannt.
Ich hätte wahrscheinlich auch so komisch geguckt. Und diesmal sehe ich, wie peinlich so ein verklemmter Gesichtsausdruck ist. Diese Taxifahrer halten doch überhaupt nichts aus.
Naumann stieg aus dem Wagen und betrachtete das Taxi noch einmal. Taxis hatten viel größere Schwebeballone als andere Autos.
Ist ja auch kein Wunder! Je praller der Ballon ist, desto geschützer sind die Insassen im Wagen. Taxifahrer brauchen halt einen stärkeren Schutz, weil sie alle wie die Irren fahren. Taxifahrer bauen doch sowieso ständig Unfälle!
Mit solch einem riesigen Schwebeballon passiert den Fahrgästen wenigstens nicht mehr so viel. Da hat das Taxiunternehmen wirklich gut mitgedacht.

Naumann drückte auf den Summer und wartete ab. Es dauerte nicht lange, bis ihn die versteckte Überwachungskamera geortet hatte.
"Hauen Sie ab", ertönte die aggressive und schäbige Stimme Eva Storms.
Wenigstens hat dieses Hochhaus ein halbwegs vernünftiges Sicherheitssystem - aber so etwas braucht man in solch einer heruntergekommenen Gegend natürlich auch.
"Frau Storm", sprach er besänftigend, "lassen Sie mich mit Ihnen über Geld sprechen"
"Hauen Sie sofort ab!"
"Ich weiß ganz genau, dass Ihnen nicht sehr viel Geld zu Verfügung steht. Das habe ich gesehen, als ich bei Ihnen in der Wohnung war"
Gut machst du das. Jetzt nur nicht wieder in deine Schüchternheit zurückfallen! Diese Frau Storm ist ein Auftrag wie die ganzen anderen Aufträge davor auch. Und daran hattest du dich ja auch schon gewöhnt: Standardtext runterbeten und den Vertrag unterschreiben lassen.
Und hier machst du das genauso. Also sag schon irgend einen Blabla-Satz, und überzeuge diese ungebildete Bäuerin.
"Geld kann Ihnen zwar Ihren Sohn nicht wiederbringen, aber Sie könnten in eine bessere Gegend ziehen oder sich Dinge leisten, von denen Sie bisher nur geträumt haben. Also", fragte Naumann ins Leere und auf die Sprechanlage gerichtet, "unterschreiben Sie den Vertrag jetzt?"
Der quäkige Lautsprecher wurde stark überfordert, als Eva Storm erneut brüllte.
"Abhauen habe ich gesagt", sagte Eva Storm, "Sie sollen gefälligst von hier verschwinden!"
Das hatte gesessen. Wilhelm Naumann wurde vor Scham rot und danach kreideweiß vor Angst. Er fragte, ob sie denn nun vorhabe, sich an die Medien zu richten und die TWK´s in den Dreck zu ziehen.
"Was glauben Sie denn?", schrie Storm.
Dem Techniker lief ein kalter Schauer über den Rücken. Er fürchtete sich vor dem, was sein Chef diesmal mit ihm machen würde, wenn er wieder versagen würde.
Bisher hat er mich noch nicht einmal angebrüllt, beruhigte er sich, er wird mich auch diesmal ganz bestimmt nicht in den Boden stampfen.
Naumann nahm einen zweiten Anlauf: "Warum tun Sie sich nicht selbst den Gefallen und bringen etwas mehr Luxus in Ihr Leben, Frau Storm?"
"Meinen Sohn kann kein Geld ersetzen", sagte sie noch einmal, diesmal jedoch noch gereizter als zuvor, "und jetzt will ich, dass Sie abhauen. Und zwar sofort!"
Naumann hakte nach, ob sie sich denn nun schon an die Medien gerichtet habe, aber der Lautsprecher blieb stumm.
"Hallo?", fragte Naumann, "sind Sie noch da, Frau Storm?"
Niemand antwortete.
"Hallo? Bitte melden Sie sich!"
Er konnte nur den Autoverkehr hören, der mit seinen Hubgeräuschen und seinem Sirenengeheul unüberhörbar durch jedes geöffnete Fenster schallen musste.
Bestimmt hatte das Biest die Kamera und das Mikrophon ausgestellt. Aber eine letzte Chance gebe ich ihr noch.
"Hallo", brüllte Wilhelm Naumann wie besessen in Richtung Hauseingang des Wolkenkratzers, und der langgezogene Ausruf hallte in seinem Kopf noch lange weiter - diese Schreckenssekunde wollte einfach nicht enden, und das Scheusal wollte einfach nicht mehr mit ihm reden. Er hatte wieder einmal verloren.

"So so", sagte Gerd Seifert, "Sie haben also wieder einmal verloren."
Naumanns Chef thronte in seinem Sessel und durchlöcherte den Cheftechniker mit funkelnden Blicken. Der Verlierer saß ganz so auf dem Stuhl, wie Verlierer immer auf Stühlen saßen - mit herunterhängenden Schultern, blassem Gesicht und schwitzigen Händen nämlich.
Gut, dass ich nicht mehr stehe, dachte Naumann, sonst wäre ich nämlich bestimmt schon umgekippt.
Er wollte sich rechtfertigen, aber Seifert hob den Arm.
"Sagen Sie nichts, Herr Naumann. Ich weiß, dass Sie sich sonst mit anderen Dingen beschäftigen und dass Sie sich sonst nur um die Technik kümmern."
Innerlich atmete Naumann auf.
Jetzt wird er sagen, dass ich wieder meinen normalen Tätigkeiten nachgehen kann. Er wird mir sagen, dass jemand anders versuchen wird, die Opfer zur Verschwiegenheit zu überzeugen.
"Doch", so fuhr Seifert fort, "Sie haben bewiesen, dass Sie das Zeug für Ihr neues Aufgabenfeld haben"
Nein! Das konnte nicht wahr sein.
Er wollte etwas sagen, doch sein Arbeitgeber ließ ihn nicht zu Wort kommen.
"Sie sind wirklich gut", säuselte dieser, "Sie haben die Courage, diese schwierige Aufgabe zu beenden, und ich werden Ihnen ein paar Tipps für die erfolgreiche Bewältigung geben."
Naumann wollte keine Tipps. Er wollte seinen alten Job wiederhaben, aber anscheinend interessierte das hier niemanden.
"Tipp Nummer Eins: Lauern Sie Eva Storm auf. Belästigen Sie sie. Lassen Sie die Frau nicht in Ruhe, bis sie den Vertrag unterschrieben hat"
Das Zimmer um Wilhelm Naumann schien immer kleiner zu werden. Die glänzend-schwarz polierten Protzwände fielen ihm entgegen, genauso die Bilderrahmen mit den merkwürdigen Malereien. Und er fühlte sich bedrängt, sein Hals war wie zugeschnürt.
Gerd Seifert belehrte ihn weiter: "Tipp Nummer Zwei: Bleiben Sie locker. Sie sind ja ganz verspannt"
Ein toller Witz. Wie soll ich denn in solch einer Situation locker bleiben?
"Und mein dritter Tipp ist, dass Sie morgen erst einmal ausschlafen und dann erholt ans Werk gehen."

Naumann stürzte aus dem Zimmer seines Chefs. Er war niedergeschlagen, aber mindestens auch genauso sauer. Er war davon ausgegangen, dass er von dieser anspruchsvollen Aufgabe befreit würde, weil er sich so ungeschickt anstellte.
Ihm fiel Karin Boll in den Blick.
Sie ist nur eine Sekretärin, dachte Naumann.
Na und? Ich bin ja auch nur ein Techniker. Außerdem bin ich der Mann, und sie ist die Frau. Sie muss zu mir aufsehen.
"Ist irgend etwas?", fragte die Blondine.
"Es", sagte Naumann, "nein, es ist nichts."
"Und warum starren Sie mich dann so komisch an?"
"Es ist wirklich nichts"
Natürlich ist etwas! Sag es ihr schon. Sag ihr, was du denkst. Tu endlich, was du tun musst.
Karin Boll musterte den Technikfreak, und sie war gereizt. "Sind Sie sich ganz sicher, Herr Naumann?"
"Ja. Es ist nichts."
Deprimiert verließ er den Bürokomplex. Nichts klappte, wie er es sich vorstellte. Und immer fehlte ihm der Mut.

Wilhelm Naumann ging nicht gerne einkaufen. Er hasste es, sich um Lebensmittel zu kümmern. Lebensmittel müssten sich von selbst einkaufen. Lebensmittel haben da zu sein.
Aber er liebte es, Dinge zu kaufen, die er gerne mochte und die ihm sein Leben versüßten. Sein Handy zum Beispiel liebte er.
Naumann hatte Eva Storm verfolgt. Zuerst hatte er sie das Hochhaus verlassen sehen, und dann hatte er sich in den gleichen Waggon der Untergrund-Magnetbahn geschlichen.
Und nun kauft sie ein. Ihre Augen sind noch immer rot, weil sie so viel weint. Sie lacht nicht. Und sie kauft nur das Nötigste zum Leben ein: Das billigste Brot, die billigste Milch und die billigste Marmelade.
Was interessiert mich das, fragte sich Naumann. Sie ist nur ein weiterer Auftrag. Bring es über die Runden. Lass sie den Vertrag unterschreiben. Und das wars dann.
"Computer", fragte er das Terminal am Einkaufswagen, "wo finde ich Yums?"
Der Computer des Einkaufswagens zeigte auf dem Display an, wo er hinzugehen hatte. Er schob sich durch die Gänge und krallte den gesuchten Schokoladenriegel aus dem Regal.
"49 Cent addiert", verkündete der Computer, "insgesamter Wert der Ware: Sechs Euro und dreizehn Cent"
Da geht das liebe Geld hin. Aber ich habe es ja.
Naumann sah Eva Storm zum Zahltor gehen.
Ob sie das alles überhaupt bezahlen kann? Sie ist doch arm.
Ich muss mich beeilen, um sie abzufangen. Und dann zwinge ich sie dazu, den Vertrag zu unterzeichnen!

Er tippte Eva Storm auf die Schulter, und seine Hand zitterte. Es ist ein Auftrag wie jeder andere auch. Wie jeder andere!
Eva Storm zuckte zusammen und drehte sich ruckartig herum. "Was machen Sie hier?", fauchte sie Wilhelm Naumann an, "haben Sie mich verfolgt?"
"Ich", begann er den Satz und suchte nach einer Ausrede. Sag, dass du zufällig auch hier einkaufst! Sag, dass du sonst auch immer in diesem Supermarkt deine Lebensmittel besorgst. Sag irgend etwas, das sich einleuchtend anhört.
Er merkte, dass alle Ideen, die er sich in Gedanken ausmalte, unglaubwürdig klangen und gab kleinlaut bei. "Ja, ich habe Sie verfolgt"
"Und warum?", fragte sie weiter, doch Naumann entwich nun nur noch ein kaum hörbares Raunen. "Weil Sie den Vertrag unterschreiben sollen", sagte er.
"Was sollte das bringen?"
"Mein Chef will, dass Sie den Vertrag unterschreiben."
"Und was bitteschön", wiederholte Eva Storm ihre Frage, "sollte das ihrem Chef bringen?"
"Als rechtliche Absicherung", sprach Naumann schüchtern und fast völlig in sich gekehrt.
"Ich werde nichts unterschreiben, "da können Sie mich noch so lange nerven"
"Denken Sie an das Geld, das Sie bekommen, wenn Sie unterschreiben! Sie haben doch fast nichts. Stellen Sie sich doch nur mal vor, was Sie sich mit dem vielen Geld leisten könnten"
Jetzt habe ich sie! Jetzt kann sie nichts anderes tun als mir Recht zu geben und den Vertrag zu unterschreiben. Denn sie hat wirklich ganz wenig hier in dem Supermarkt eingekauft. Sie kann sich überhaupt nichts leisten.
Doch Eva Storm schlug ohne lange nachzudenken zurück: "Ich habe genug Geld", schrie sie, "ich überlebe, und das schaffe ich auch mit dem Bisschen, das ich habe. Und das dreckige Geld, das ich von Ihnen bekommen würde, kann ich nicht annehmen. Meinen Sohn kann kein Geld ersetzen! Sind Sie so ein Unmensch, dass Sie das nicht verstehen?"
"Dann unterschreiben Sie doch trotzdem den Vertrag und geben mir das Geld", entfuhr es Naumann.
Falsch! Das war wieder falsch. Das hätte ich wirklich nicht sagen dürfen.
Eva Storm schob den Einkaufswagen in einem Höllentempo weiter und ließ Naumann alleine am Zahltor zurück.
Falsch, falsch, falsch! Immer mache ich Fehler, ärgerte er sich, und nie mache ich etwas richtig. Ich bin wirklich zu nichts zu gebrauchen.

Nichts klappt. Und ich bin doch nur ein Cheftechniker. Ich kenne mich nicht mit Menschen aus. Nur mit Maschinen. Mit Computerprogrammen. Ich konnte noch nie richtig mit Menschen reden. Ich bin unfähig.
Aber mein Chef hat mir gesagt, dass ich am Ball bleiben soll. Ha! Am Ball bleiben. Ich rede bei Eva Storm gegen eine Wand.
Wilhelm Naumann wälzte sich noch stundenlang in seinem weichen Bett hin und her und machte sich Vorwürfe, dass er für seinen Chef und die gesamte Firma nur eine Belastung war. Als die Sonne aufging, fand er schließlich doch noch die Flucht in den Schlaf.

Er wartete knapp drei Stunden vor dem Hochhaus, in dem Eva Storm wohnte. Etliche Menschen verließen das Gebäude, in dem nur der Abschaum lebte, der sich keine bessere Wohnung leisten konnte. Abscheuliche Gestalten!
Die meisten Menschen, die aus dem Haus krochen, sahen so aus, als seien sie arbeitslos, und wahrscheinlich waren sie es auch.
Wilhelm Naumann betrachtete jeden Mann und jede Frau mit Spott.
Diese Nichtsnutze verschandeln unsere schöne Stadt.
Selbst die Kinder, die aus diesem vergammelten Hochhaus schlichen, sahen arbeitslos aus - und das würde auch ganz bestimmt ihr Schicksal sein.
Wie der Vater, so der Sohn.
Dann öffnete Eva Storm die Eingangstür des verfallenen Sozialbaus, und sie sah genauso verbraucht und arbeitslos aus. Die roten, verheulten Augen hat sie, weil ihr Sohn gestorben ist. Aber sie sah sicher schon vorher so traurig aus. Es hat sich ganz bestimmt nicht viel an ihrem Aussehen verändert. Arme Menschen sehen immer so traurig aus, weil sie keine Zukunft haben.
Naumann stürzte auf sie zu.
"Frau Storm", schrie er ihr entgegen, "Frau Storm! Ich muss mit Ihnen reden!"
Sie stand am Hauseingang, und ließ alles geschehen, es hatte sowieso keinen Zweck mehr.
"Frau Storm", stöhnte Naumann, und er schnappte nach Luft, weil ihn der Sprint zur anderen Straßenseite sehr angestrengt hatte, "Sie müssen den Vertrag unterschreiben!"
"Lassen Sie mich in Ruhe", sagte sie gereizt, "merken Sie nicht, was Sie tun?"
"Ich mache nur meinen Job"
"Ihren Job?", Eva Storm lachte leise auf, "denken Sie doch mal nach! Ihr Job ist es, dreckiges Geld zu verteilen und Menschen zu sagen, dass ein Verwandter gestorben ist. Und sie versuchen, ihnen klarzumachen, dass Menschen mit Geld zu ersetzen sind. Ich hätte nie gedacht, dass jemand so herzlos sein kann. Glauben Sie das denn selbst, was Sie mir weismachen wollen?"
Nicht darüber nachdenken. Nicht darauf eingehen. Einfach weiter im Text.
"Frau Storm", sprach er nun eindringlicher und überzeugter, "ich fordere Sie noch einmal auf, den Vertrag zu unterschreiben"
Stille. Eva Storm sagte nichts. Sie stand regungslos vor dem Hochhaus. Dachte sie nach? Würde sie nun doch ihren Namen unter die Vereinbarung setzen?
Sie soll verdammt noch mal nicht so widerspenstig sein. Sie soll sich dem Stärkeren fügen und gefälligst aufgeben. Chancen hat sie doch sowieso keine in ihrem jämmerlichen Leben.
Eva Storm unterbrach das Schweigen: "Muss ich dazu noch irgend etwas sagen?", fragte sie resignierend.
"Nein, natürlich nicht" - Naumannn wurde siegessicher - "Sie müssen nur unterschreiben"
Falsch! Falsch! Falsch! Hör auf, Fehler zu machen!
Und nun platzte ihr der Geduldsfaden. "Warum sollte ich das tun", schrie sie auf, "nur damit Ihr Boss die Sicherheit hat, dass ich nichts ausplaudere? Wenn das alles ist! Überlegen Sie doch mal, wenn Sie das können! Was würde passieren, wenn ich mit der Wahrheit rausrücken würde? Na? Und schließen Sie jetzt bitte nicht von sich auf andere!"

Karin Boll feilte an ihren Fingernägeln. Der Sekretärin der TWK-Zentrale war zwar bewusst, dass sie damit dem Klischeebild einer Sekretärin entsprach, doch sie machte sich nichts daraus.
Ich gehe in meinem Job voll auf, grinste sie in Gedanken. Ich kann Texte schnell und zuverlässig in den Computer eintippen. Ich mache kaum Rechtschreibfehler. Ich lasse meinen Frust an den Arbeitern ab, die hier her geschickt werden.
Und ich feile meine Fingernägel. Ich bin halt wirklich eine gute Sekretärin.
Auf einmal wurde die Tür aufgerissen, und ein dicker, verschwitzter Techniker stürzte in den Raum.
Kundschaft! Wie schön.
"Ich muss zum Chef", schrie dieser ihr entgegen.
Noch schnell den letzten Nagel zuende feilen. Die Feile aus der Hand legen. Ganz langsam und ruhig antworten.
"Einen wunderschönen guten Tag, Herr Naumann", sprach sie langsam und mit einer beruhigenden Stimme, "was gibt es denn?"
Techniker waren mitunter die schlimmsten Menschen, die es gab.
"Ich habe den Auftrag erfüllt", antwortete Naumann überdreht.
"Das ist ja schön. Da sind Sie jetzt sicherlich sehr stolz auf sich?"
Kurzes Schweigen. Dann die Antwort.
Dieser Naumann war wirklich sehr merkwürdig.
"Ja, das bin ich! Wollen Sie mit mir feiern? Ich lade Sie zum Essen ein?"
Was sollte das schon wieder? Was bildet sich dieser Techniker ein? Obwohl ein Abendessen natürlich verlockend klingt.
Sie hatte sich seit längerem nur noch von Fertigessen und Schnellimbissfraß ernährt.
"Gerne", antwortete sie in der selben beruhigenden Stimme.
Sie hat ja gesagt, freute sich Naumann. Ja! Ja! Ja! Sie geht mit mir essen. Sie hat es wirklich gesagt.

"Das soll Eva Storm also erzählt haben?", sagte Gerd Seifert so ruhig und gelassen wie immer.
Wilhelm Naumann sah ängstlich auf den grünen Teppichfußboden, dann wieder in die Augen des Chefs. "Ist das schlecht?"
"Ob es schlecht ist, dass sie den Vertrag noch nicht unterschrieben hat?"
Wilhelm Naumann mochte es nicht, dass sein Chef niemals aus der Haut fuhr. Konnte Seifert ihn nicht einfach anschreien? Diese Ruhe! Diese Ruhe machte ihm Angst.
"Aber sie hat doch gesagt, dass sie sich nicht an die Polizei oder die Presse wenden wird", flüsterte er verängstigt, "und dass sie das nicht machen will, weil sie damit die TWK ruiniert und viele Menschen arbeitslos macht"
Der Chef sah Wilhelm Naumann finster an: "Was bringt mir denn das Wort einer arbeitslosen Frau? Ich will es schriftlich haben. Und das Geld möchte die werte Dame nicht annehmen, weil sie meint, dass ein Batzen Geld ihren Sohn nicht ersetzen kann. Sehr lobenswert, diese Einstellung", ein zynischer Lacher flog durch das Chefzimmer, "kein Wunder, dass unsere liebe Frau Storm so verarmt ist. Mit dieser Einstellung!"
Gerd Seifert betrachtete den Cheftechniker argwöhnisch.
Wenn Blicke töten könnten! Auf jeden Fall wünschte sich Naumann, in diesem Moment tot zu sein. Diese ganze verzwickte Lage war so unangenehm. So schrecklich.
Noch vor wenigen Augenblicken war er überglücklich zur TWK-Zentrale gerannt, weil er gedacht hatte, dass alles vorbei war. Endlich hatte er diese verzwickte Lage erledigt. Ende. Schluss. Aus. Vorbei.
Doch natürlich verlief alles ganz anders, als er es sich vorgestellt hatte. Er war halt kein Gewinner.
Der Chef hatte sich in seinen Sessel zurückgelehnt und sah nun wieder völlig entspannt und beruhigt aus.
"Probieren Sie es noch einmal, Herr Naumann", sagte er erneut in seiner enervierend-freundlichen Stimmlage, "halten Sie der lieben Frau Storm den Vertrag wieder und wieder und wieder unter die Nase, bis sie unterschreibt. So schwierig wird das doch nicht sein"
Nicht schwierig? Diese Aufgabe sollte nicht schwierig sein? Diese Aufgabe war unlösbar. Und Seifert spricht davon, dass die Aufgabe nicht schwierig sein kann!
"Sie wird nie und nimmer unterschreiben", widersprach Wilhelm Naumann kleinlaut.
"Wird sie nicht, Herr Naumann? Dann bleibt Ihnen wohl leider nur noch ein letzter Lösungsansatz"

Niedergeschlagen torkelte der Techniker in das Vorzimmer und schloß die Tür leise hinter sich zu.
"Alles in Ordnung?", fragte Karin Boll unbeeindruckt, "Sie sehen so blass aus, Herr Naumann"
"Es ist nichts", flüsterte er.
Die Sekretärin hakte nach. "Wirklich nicht, Herr Naumann?"
Und dann schrie Wilhelm Naumann auf.
Wie lange war es her, dass er so aus sich herausgetreten und nicht mehr Herr über seine Gefühle gewesen war?
"Es ist nichts!", schrie er, "überhaupt nichts ist, verdammt noch mal! Kümmern Sie sich gefälligst um Ihren eigenen Dreck"
Mit langen Schritten verließ er die TWK-Zentrale.
Techniker, dachte Karin Boll. So sind sie eben, diese Techniker. Und dieser Naumann war einer der schlimmsten.
Aber sie würde ihn knappe zwei Stunden über sich ergehen lassen. Sie würde ihm zuhören. Würde so tun, als interessierte sie das ganze Technikergefasel über Gott, die Welt und hochfaszinierende Datenverarbeitungsprogramme, TWK-Software und die Reparaturen der letzten Monate.
Hauptsache war, dass sie wieder in einem Restaurant sitzen und teures Essen in sich hineinstopfen konnte.
Ja! Ein Essen in einem edlen Restaurant würde die verlorene Zeit mit solch einem Versager entschädigen.
Nächsten Donnerstag würde sie endlich wieder den Luxus eines schönen Essens genießen können, und darauf freute sich Karin Boll schon jetzt.
Wenn nur dieser dämliche Techniker mit diesen langweiligen Gesprächsthemen nicht wäre. Könnte er mir nicht einfach einen Gutschein für ein Essen schenken? Nur ich. Ich ganz alleine, und niemand, der mich mit Blabla zutextet? Das wäre noch viel, viel schöner.
Dann müsste ich mich auch nicht schämen, wenn mich jemand zufälligerweise sehen würde. Ich und dieser Naumann! An einem Tisch! Ich kann mir schon jetzt ausmalen, was die Leute sagen würden: Ist das nicht Frau Boll? Und mit wem gibt die sich denn ab? Oh Gott, werden die Leute denken, das hätte ich ja nicht für möglich gehalten! Also nein. Also nein.
Aber für ein gutes Essen mache ich eben fast alles mit.

"Nächste Stimme", krächzte Naumann gereizt.
"Stimmenschema Nr. 3412", antwortete der Hauscomputer, "wenn Ihnen diese Stimme gefällt, bestätigen Sie das bitte mit einem Fingerdruck. Der Preis dieses Stimmenschemas beträgt drei Euro."
"Zu sanft", schrie Naumann in die leere Wohnung, "zu sanft. Zu sanft. Zu sanft!"
Die Stimme muss sich aggressiver anhören. Keine Frauenstimme! Und auch kein Schwuchtelgesabber. Militaristisch muss sie sein. Aggressiv. Und anstachelnd. Die neue Computerstimme muss mich aggressiver und angestachelter machen.
Für den letzter Lösungsansatz! Aber eine Lösung wofür? Eva Storm ist doch nicht mein Problem! Sie ist ein Problem für die TWK-Zentren. Und sie ist ein Problem für den Chef. Aber für mich ist sie eine arme Frau, die mich eigentlich nichts angeht.
Oder doch? Immerhin werde ich gut für diesen Auftrag bezahlt.
Wilhelm Naumann grübelte weiter.
Er hatte das alles nicht gewollt. Er hatte nie mit Menschen reden wollen. Er hatte nie zu Menschen gehen wollen, die einen Verwandten verloren hatten. Er hatte ihnen nie Geld für die Toten anbieten wollen. Und vor allen Dingen wollte er es nicht wahrhaben, dass es nur noch diesen letzten Lösungsansatz gab.
Er hatte sich nun schon mehrere Stunden diverse Stimmenschemata angehört, doch keines stachelte ihn so sehr an, wie er es für die nächsten Tag brauchen würde.
Ein Stockwerk über ihm hatte dieser nervige, kleine Tyrann die Musik wieder einmal aufgedreht, das konnte Naumann genau hören.
Wieder dieser Elektrobass! Diese schreckliche, laute Musik von dem Blag!
Jetzt reicht es, dachte er gereizt, jetzt werde ich mich bei den Eltern von diesem Krachmacher beschweren. Was zuviel ist, ist einfach zuviel.
Wütend raste er ins Treppenhaus und sprintete die Treppenstufen hoch. Ja, dachte er noch einmal, was zuviel ist, ist ganz einfach viel zuviel.

Wilhelm Naumann drückte den Summer. Gestern der Krachmacher und heute dieser nervige Problemfall. Heute Eva Storm, und dann ist Schluss mit dieser schrecklichen Arbeit. Zurück zu den Maschinen! Endlich wieder zurück.
Auch das hier werde ich hinbekommen. Es ist alles ganz, ganz einfach. Und es wird noch eine andere Lösung geben.
Er schaute auf seine stark ausgefüllte Hosentasche. Nur für den Notfall! Falls es wirklich keine andere Lösung gibt.
Naumann betastete die Umrisse seiner Waffe durch den Stoff der Jeanshose.
"Wer ist da?", hörte er Eva Storms Stimme durch die Sprechanlage.
"Ich bin es wieder", sprach er in Richtung Lautsprecher, "würden Sie mich bitte in ihre Wohnung lassen?"
Er holte die Waffe aus der Hosentasche heraus und betrachtete sie.
Eine 477/B3. Eine Schnellfeuerwaffe mit integriertem Schalldämpfer. Mit Infrarotstrahler zum Zielen. Mit allem Drum und Dran.
Das jedenfalls hatte ihm gestern der Verkäufer gesagt: Mit allem Drum und Dran, hatte er erklärt, und kurz darauf hatte der Verkäufer gefragt, was Naumann denn eigentlich mit solch einer riesigen Kanone anstellen wolle. "Sie wollen damit bestimmt auf Hasenjagd gehen", sagte der Verkäufer und zwinkerte seinem Kunden zu.
Ja ja, hatte Naumann geantwortet, auf Hasenjagd. Und dann war er panisch aus dem Waffenladen gestürzt.
Weshalb mussten Waffen immer so verharmlosende Namen haben? 477/B3 - eine nichtssagende Nummer für etwas so Schreckliches wie eine Waffe? Computer und technische Anlagen hatten wenigstens verniedlichende Namen.
Der Cheftechniker steckte die 477/B3 zurück in die Hosentasche, als Eva Storm gereizt antwortete.
"Ich haben ihnen doch schon gesagt, dass ich mich nicht an die Medien, die Polizei oder sonst irgend jemanden wenden werde. Was wollen Sie denn jetzt noch von mir?"
"Alles wie gehabt, Frau Storm. Sie müssen nur unterschreiben, und dann verschwinde ich aus ihrem Leben."
"Vergessen Sie´s", schrie sie durch die Sprechanlage.
"Frau Storm?", fragte Naumann, "hallo? Hören Sie mich noch? Antworten Sie bitte!"
Naumann drückte noch einmal auf den Summer. Er ließ ihn knapp eine halbe Minute gedrückt, und dann wartete er. Doch Eva Storm antwortete nicht.
Er sah sich die Namensliste des Hochhauses an, dann schloss er die Augen und drückte auf irgend einen Knopf.
"Wer ist da?", hörte er eine Männerstimme aus dem Lautsprecher.
"Ich, ähh, habe meinen Schlüssel vergessen. Könnten Sie mir bitte die Tür bitte öffnen, damit ich wenigstens ins Haus komme und nicht hier draußen in der Kälte stehen muss?"
Nur ein paar Augenblicke später öffnete sich die Tür wie von Geisterhand.
Simsalabim! So einfach war es, ein fremdes Hochhaus zu stürmen.

"Machen Sie auf, Frau Storm", schrie er, "sonst bleibe ich die ganze Nacht hier stehen"
Naumann klopfte mit der Faust an die Wohnungstür. Irgend wann wird sie schon aufmachen. Er haute noch einmal mit der ganzen Hand gegen die Tür.
"Aufmachen, habe ich gesagt!"
Jemand stand hinter der Tür, das konnte er hören. Ein leises Atmen!
"Frau Storm?"
Dann antwortete sie. Naumann konnte ihre Antwort durch die Tür hören.
"Ich habe doch schon gesagt, dass ich niemals unterschreiben werde. Was bemühen Sie sich überhaupt noch?"
Wilhelm Naumann nahm die 477/B3 aus der Hosentasche. Ja, ja, nur für den Notfall! War das jetzt schon ein Notfall? Jetzt schon?
"Lassen Sie mich in die Wohnung!" - Naumann klopfte noch einmal - "Kommen Sie schon" - das Klopfen wurde lauter - "das ist Ihre letzte Chance, Frau Storm!"
"Ach ja?", schrie sie. "Und was passiert, wenn ich nicht aufmache? Was wollen Sie schon machen?"
"Wenn Sie bitte von der Tür wegtreten würden, Frau Storm."

Der Schalldämpfer erfüllte zwar seinen Zweck, doch das Türschloss zersplitterte dermaßen laut, dass man es im gesamten Hochhaus hören konnte.
Fehler, Fehler, Fehler! Ich wollte die Waffe doch nur zur Sicherheit mitnehmen. Und jetzt zerschieße ich ein Türschloss!
"Frau Storm?"
Naumann ließ seine Blicke durch den Flur der Sozialwohnung gleiten.
Es hat sich nichts geändert. Arm bleibt arm. Nur ich werde durch diesen Auftrag reicher.
Und dann sah er sie. Eva Storm hockte verstört auf dem verschlissenen Holzfußboden und sah Naumann wütend an.
"Da sind Sie ja, Frau Storm. Wollen Sie den Vertrag wirklich nicht unterschreiben?"
Habe ich das gesagt, fragte sich der Cheftechniker. Oder ist das alles nur ein Spiel?
Er blickte noch einmal auf die 477/B3.
Ja, dachte er, es ist nur ein Spiel. Ein TWK-Modul.
"Haben Sie jetzt völlig den Verstand verloren?", schrie Eva Storm, "wissen Sie überhaupt was Sie da machen?"
"Nur meinen Job, Frau Storm, nur meinen Job"
"Ihren Job?", und ihre Stimme überschlug sich vor Aufregung, "Ihren Job? Sie haben grade meine Wohnungstür aufgeschossen! Ist das Ihr verdammter Job?"
"Ich verschwinde, wenn Sie den Vertrag unterschreiben", erklärte Naumann noch einmal.
Eva Storm hatte sich aufgerappelt und stand nun wieder auf ihren Beinen. Sie sah diesen Techniker, diesen schwitzenden, hirnverbrannten Spinner, in ihrem Flur stehen und glaubte noch immer nicht, was gerade geschehen war.
"Ich habe Ihnen doch schon tausend Mal gesagt, dass ich das nicht machen werde", schrie sie, "ich verkaufe meinen Sohn nicht an die TWK. Haben Sie das immer noch nicht verstanden?"
Naumann zitterte. Er war nervös und wusste nicht weiter. Was hatte er sich überhaupt dabei gedacht? Ihm wurde klar, dass er wirklich nicht wusste, was er tat. Er sah noch einmal auf die Waffe in seiner zitternden Hand.
Jetzt ist sowieso alles zu spät, dachte er und zielte mit der Waffe auf Eva Storms Kopf.
Es ist nur ein Job. Es ist nur ein harmloser, einfacher Job.
"Was machen Sie da?", fauchte Eva Storm hysterisch auf, "was zum Teufel machen Sie da?"
Der Cheftechniker wiederholte seine Aufforderung.
"Ich verschwinde, wenn Sie den Vertrag unterschreiben", sagte er noch einmal.
Ruhig bleiben. Ruhig bleiben. Immer ganz ruhig bleiben.
"Das können Sie nicht machen!", schrie sie weiter, "Sie können mich nicht umbringen. Das können Sie gar nicht."
"Unterschreiben Sie den Vertrag, Frau Storm?"
"Niemals!", und dabei starrte sie auf die Waffe in Naumanns zitternden Händen.
"Ich gebe Ihnen zehn Sekunden, um sich eine neue Antwort zu überlegen"
Die 477/B3 zitterte hin und her.
"Zehn"
Der letzte Lösungsansatz!
"Neun"
Sein Chef hatte Recht gehabt. Seifert hatte immer Recht.
"Acht"
Es gibt nur noch diese Lösung. Keine Zeit mehr für endlose Diskussionen.
"Sieben"
Ich werde das alles abblasen. Ich kann nicht einfach diese Frau umbringen. Sie hat mir nichts getan. Ich werde meinen Job hinschmeißen und mir etwas anderes suchen.
"Sechs"
Denk an das Geld, rechtfertigte er sich, Seifert hat dir viel Geld für diesen Auftrag versprochen. Du musst das jetzt beenden.
Während Naumann versuchte, sich die Situation schön zu reden, lief Eva Storm der Schweiß über die Stirn, und ihr war heiß, dann wieder kalt. Ihr war schwindlig, und sie starrte immer wieder auf die Waffe. Starrte in die Augen des Cheftechnikers. Hörte ihn herunterzählen.
"Fünf"
Sie war wie versteinert. Sie wollte aufschreien, doch sie konnte nicht und stand wie festgewachsen im Flur.
Direkt neben dem Cheftechniker und direkt neben der Waffe.
"Niemals", schrie sie noch einmal, "niemals werde ich diesen widerlichen Drecksvertrag unterschreiben!"
Doch Wilhelm Naumann ließ sich nicht beeindrucken und zählte weiter herunter.
"Vier", sagte er ruhig, doch innerlich war er aufgekratzt und überdreht.
Ruhig bleiben! Gleich habe ich den Job geschafft. Bleib ruhig, dachte er, bleib gefälligst ruhig!
"Drei", sagte Naumann und hakte noch einmal nach: "Wollen Sie den Vertrag wirklich nicht unterschreiben, Frau Storm?"
"Nein, verdammt noch mal, das will ich nicht!"
"Dann eben nicht", lächelte er verkrampft, "Sie haben noch zwei Sekunden, um sich umzuentscheiden."
Ich werde doch nicht wirklich abdrücken? Ich bin kein Mörder! Ich kann das nicht. Ich kann diese Frau nicht einfach wegschießen wie das Türschloss. Das geht doch nicht.
"Eine Sekunde"
Alles verlief für Eva Storm wie in Zeitlupe, und sie war von sich selbst überrascht. Sie griff nach der Waffe des Cheftechnikers und umklammerte sie, dann riss sie ihm die 477/B3 aus den Händen und bedrohte den Eindringling.
"Was ist jetzt?", schrie sie. "Jetzt sind Sie nicht mehr so großkotzig. Los! Machen Sie weiter mit Ihrem Programm. Fragen Sie mich noch mal."
Der Cheftechniker blickte Eva Storm verstört an.
"Fragen Sie mich, ob ich den Vertrag unterschreiben werde. Los! Kommen Sie schon. Nicht so schüchtern", sie fuchtelte wild mit der Waffe herum, "los! Fragen Sie mich! So schwer ist das doch nicht. Fragen Sie, ob ich den Vertrag unterschreiben werde!"
Der Techniker war blass und zitterte, dann antworterte er.
"Es ist doch nur ein Job", flüsterte er, "das wollte ich gar nicht. Mein Chef wollte das."
"Ihr Chef? Ihr Chef wollte das? Können Sie nicht selbst nachdenken? Sind Sie wirklich so hirnlos?"
Der Techniker senkte den Kopf.
Er hatte so viel falsch gemacht. Ja, dachte Naumann, er hatte alles falsch gemacht, was er nur falsch machen konnte.
Er sah Frau Storm traurig an.
"Ich hätte viel Geld für diesen Auftrag bekommen", sagte er.
Das reichte Eva Storm. Das war zuviel für sie, soviel Frechheit ertrug sie nicht.
Sie drückte einmal ab. Sie drückte noch einmal ab. Und noch einmal. Und dann ein weiteres Mal.
"Das ist ja wohl nur gerecht", hörte Wilhelm Naumann die Mörderin schreien. Aber was war schon gerecht?
Er lag zusammengekauert auf dem Holzfußboden einer Sozialwohnung, blutete stark und hörte die Schüsse der Waffe.
Ein letzter Gedanke schoss ihm in den Sinn. Nächsten Donnerstag werde ich mit einer Sekretärin essen gehen, dachte er sich.
Und dann starb der Cheftechniker.

 

Wenn ich ehrlich bin verspüre ich keinerlei Lust mich durch diesen unendlich dünnen Scrollbalken die ganze Geschichte hinunterzuquälen.
Ich habe deshalb einfach viel, viel weiter unten angefangen ohne das Gefühl zu haben irgendetwas verpasst zu haben.
Es ist die uralte Regel an die sich so wenige Autoren dieser Seite halten:
Geschichten sind bessere Geschichten, wenn sie gleich zur Sache kommen.

 

<STRONG>Wenn ich ehrlich bin verspüre ich keinerlei Lust mich durch diesen unendlich dünnen Scrollbalken die ganze Geschichte hinunterzuquälen.</STRONG>

Das geht mir bei Romanen auch manchmal so. Ich fange dann auch erst ab Seite 253 an zu lesen.

<STRONG>Ich habe deshalb einfach viel, viel weiter unten angefangen ohne das Gefühl zu haben irgendetwas verpasst zu haben.</STRONG>

Das geht mir bei diversen Romanen auch so. Was interessiert mich der Charakter des Helden! Was interessiert mich die Vorgeschichte! Was interessiert mich der Spannungsaufbau! Wirklich spannend werden Romane auch erst ab Seite 253. Weshalb sollte es bei Kurzgeschichten nicht ähnlich sein?

<STRONG>Es ist die uralte Regel an die sich so wenige Autoren dieser Seite halten:
Geschichten sind bessere Geschichten, wenn sie gleich zur Sache kommen.</STRONG>

Ja, Du hast vollkommen Recht: Hoffentlich halten sich von nun an ganz, ganz viele Autoren dieser Seite daran: Kurz, knapp, am Besten in Stichworten. Denn die Geschichten sind die besseren Geschichten, die wirklich gleich zur Sache kommen.

http://www.ombas.de

 

Tut mir Leid wenn ich dich mit meiner Meinung über deine Geschichte verletzt oder beleidigt habe- deine Überreaktion lässt ja darauf schließen.
Ich denke du stellst die unantastbare Genialität deiner Geschichte und die lange Arbeit die du wahrscheinlich darin investiert hast über ein offenes Ohr für gutgemeinte Ratschläge.
Deswegen halte ich es für unnötig diese Diskussion fortzuführen und dich damit womöglich noch schwerer zu verletzen.

 

Original erstellt von Elias B.:
<STRONG>Ich denke du stellst die unantastbare Genialität deiner Geschichte und die lange Arbeit die du wahrscheinlich darin investiert hast über ein offenes Ohr für gutgemeinte Ratschläge.
</STRONG>

Ich hielt das nicht für einen gutgemeinten Ratschlag, sondern für ein wenig merkwürdig. Und ist es nicht etwas merkwürdig, wenn man eine Geschichte als zu lang ansieht und deswegen einfach in der Mitte oder kurz vor Schluss anfängt zu lesen?

Das ist doch wirklich so, als wenn man sagt, dass einem ein Roman zu lang war und man deswegen erst in der Mitte angefangen hat zu lesen. Außerdem gibt es keine "unantastbare Genialität" meiner Geschichte, aber ich finde, dass deine Kritik kein "Ratschlag" war, sondern einfach nur ein Mäkeln, dass meine Geschichte zu lang war.

Bis dann,

Till

 

Also so was komisches hab ich noch nie gehört?!
Eine Geschichte ist ein Kunstwerk! Du betrachtest ja auch nicht nur die untere Hälfte eines gemalten Bildes, oder?
Und ein Kunstwerk entfaltet seine Wirkung im gemeinen nur dann, wenn man es GANZ betrachtet und nicht nur halb.
Und sei es noch so schlecht, bevor man nicht das GANZE Werk gelesen hat, KANN man sich gar keine Kritik erlauben.
Meine Meinung.

 

Wenn ich ehrlich bin verspüre ich keinerlei Lust mich durch diesen unendlich dünnen Scrollbalken die ganze Geschichte hinunterzuquälen.
Wenn mich eine Geschichte interessiert, drucke ich sie aus. Dann lese ich konzentrierter.

Ich habe deshalb einfach viel, viel weiter unten angefangen ohne das Gefühl zu haben irgendetwas verpasst zu haben.
Ist zwar kein Kompliment, aber eine wichtige Rückmeldung für den Autor, wenn auch die Leute sich melden, welche die Geschichte nicht ganz gelesen haben, weil sie der Anfang langweilte. Der muss so spannend sein, dass das nicht passiert

Auch ich hatte das Gefühl, dass du diese Geschichte straffen solltest. Mir wurde nicht klar, welches die zentrale Motivation Naumanns war. Mir gelang es nicht, mich in ihn hineinzuversetzen. Dies hatte folgende Gründe:
1. Die Rahmenhandlung scheint nicht glaubwürdig. Die Existenz einer riesigen Firma steht auf dem Spiel - es geht um Millionenbeträge! Und nun beauftragt der Chef nicht einen Vollprofi, sondern einen pickligen Techniker mit Minderwertigkeitskomplexen.

2. Die Charaktere sind keine lebenden Menschen, sondern Kopfgeburten. Sie handeln schematisch. Vor allem die Dialoge sind fade. Frau Storm sagt im Prinzip immer den gleichen Satz: "Mein Sohn lässt sich nicht mit Geld bezahlen."
Zum Beispiel gab es eine Stelle am Schluss, in der Naumann das Türschloss wegschießt, und sie davon überhaupt nicht beeindruckt ist. Ich denke, in einer solchen Situation würde eine Frau anders reagieren, zumindest Angst zeigen.

Sehr deutlich aufgefallen ist mir das Verhalten der Sekretärin. Sie mag ihn nicht, schämt sich sogar für ihn, lässt sich aber dennoch zum Essen einladen. Ihrer Gedanken sind für mich unglaubwürdig (sie will teueres Essen).

Ebensowenig nachvollziehen kann ich den Schluss: Warum greift ein harmloser Techniker zur Pistole und denkt an Mord - noch dazu wenn er schüchtern ist?

Das Problem für mich war die Entscheidung, ob dies jetzt ein humorvoller oder ein ernster (spannender) Text sein sollte.

Von der Sprache und dem Stil her war dein Text leicht zu lesen; es passierte auch ununterbrochen etwas, so dass immer eine Spannung vorhanden war. Straffen würde ich ihn dennoch. Auf viele Details wird ausführlich eingegangen, z.B. der Wechsel seiner Stimme im Haus und die Begründung, warum er die Stimme wechselte; ich fände es angenehmer, den Wechsel nur in einem Satz zu erwähnen und den Rest der Fantasie zu überlassen; schließlich ist es eine SF-Geschichte, da muss das nicht begründet werden.

Ganz gelesen habe ich sie, weil mich die Traum-Wirklichkeits-Maschinen faszinierten - über die hätte ich gerne mehr erfahren. Die Jagd von Naumann auf Frau Storm fand ich nach ungefähr der Hälfte ermüdend, passiert ja auch nicht mehr viel bis zum Schluss (der sich ja keineswegs logisch aus der Handlung ergibt).
Eine SF-Geschichte braucht ein SF-Thema; dein Text könnte auch in der Gegenwart spielen, wenn man die Traum-Maschinen durch etwas anderes ersetzt - genau genommen ist es also keine SF-Geschichte, sondern eine normale Geschichte in einem SF-Setting.

Fazit: Du solltest dir genau überlegen, worüber du schreiben willst, bzw. was du ausdrücken willst. Die Hauptperson Naumann muss klarer gezeichnet werden. Klischeehafte (stereotype? - mir fällt kein Wort ein) Gedanken machen die Personen unglaubwürdig oder ziehen sie ins Lächerliche.

Karin Boll feilte an ihren Fingernägeln. Der Sekretärin der TWK-Zentrale war zwar bewusst, dass sie damit dem Klischeebild einer Sekretärin entsprach, doch sie machte sich nichts daraus.
Ich gehe in meinem Job voll auf, grinste sie in Gedanken. Ich kann Texte schnell und zuverlässig in den Computer eintippen. Ich mache kaum Rechtschreibfehler. Ich lasse meinen Frust an den Arbeitern ab, die hier her geschickt werden.
Und ich feile meine Fingernägel. Ich bin halt wirklich eine gute Sekretärin.
Hier irritierte mich außerdem der Perspektivenwechsel.

Das Folgende fand ich übertrieben geschildert; und die Art und Weise, wie du die Situation in Lächerliche ziehst, passt nicht zur Handlung.

Dann öffnete Eva Storm die Eingangstür des verfallenen Sozialbaus, und sie sah genauso verbraucht und arbeitslos aus. Die roten, verheulten Augen hat sie, weil ihr Sohn gestorben ist. Aber sie sah sicher schon vorher so traurig aus. Es hat sich ganz bestimmt nicht viel an ihrem Aussehen verändert. Arme Menschen sehen immer so traurig aus, weil sie keine Zukunft haben.

Der Anfang scheint mir zu langweilig. Wahrscheinlich könnte man die ersten zwei Seiten streichen. Du beginnst mit den Alterungserscheinungen und ich dachte, nun kommt etwas über Gentechnik.
Wie die Maschine genau funktionieren, wird aus dem Text nicht klar.
Bei anderen Kunden wiederum wurde das Programm unterbrochen, und die Spieler sollten sich ein anderes Modul aussuchen. Natürlich haben sie ebenfalls nicht gewusst, was mit ihnen geschah, denn auch sie wussten natürlich nicht, dass sie sich in einem Spiel befanden.
Wer sagt den Spielern, dass sie sich ein neues Programm aussuchen sollen? Und selbst wenn die Maschine keinen Defekt hat, muss das programm doch auch irgendwann unterbrochen werden; wie verkraften die Menschen das?

Vielleicht ist es für dich schwierig, einige Kritikpunkte nachzuvollziehen. Wenn ich eine Geschichte fertig habe, denke ich auch immer, die Personen wären perfekt motiviert. Lasse ich den Text drei Monate liegen, sieht das anders aus. Ich würde noch mehr Kritiken sammeln und die Geschichte in einer guten Stunde noch einmal schreiben.

 

Vielen Dank erst einmal für diese ausführliche und gute Kritik an meiner Geschichte.


Ist zwar kein Kompliment, aber eine wichtige Rückmeldung für den Autor, wenn auch die Leute sich melden, welche die Geschichte nicht ganz gelesen haben, weil sie der Anfang langweilte. Der muss so spannend sein, dass das nicht passiert. Auch ich hatte das Gefühl, dass du diese Geschichte straffen solltest.

Kommt mir jetzt im Nachhinein auch so vor. Ich wollte halt zunächst den Charakter genau beschreiben und dem Leser vorstellen, um einen realistischen Menschen und keine "Kopfgeburt" zu fabrizieren. Ist anscheinend wohl daneben gegangen. :)


Die Rahmenhandlung scheint nicht glaubwürdig. Die Existenz einer riesigen Firma steht auf dem Spiel - es geht um Millionenbeträge! Und nun beauftragt der Chef nicht einen Vollprofi, sondern einen pickligen Techniker mit Minderwertigkeitskomplexen.

Vielleicht geht es dem Chef ja nur ums Abstrafen des Cheftechnikers, der schließlich für den ganzen Schlamassel verantwortlich ist, aber ein bisschen unrealistisch ist das schon, stimmt.

Das Problem für mich war die Entscheidung, ob dies jetzt ein humorvoller oder ein ernster (spannender) Text sein sollte.

Bestenfalls beides. :)

Auf viele Details wird ausführlich eingegangen, z.B. der Wechsel seiner Stimme im Haus und die Begründung, warum er die Stimme wechselte; ich fände es angenehmer, den Wechsel nur in einem Satz zu erwähnen und den Rest der Fantasie zu überlassen; schließlich ist es eine SF-Geschichte, da muss das nicht begründet werden.

Der Wechsel der Stimme zeigt doch aber auch den Stimmungswechel von Naumann. Bei der Geschichte habe ich versucht, möglichst viel vom Innenleben der Hauptperson zu beschreiben, und wahrscheinlich ist sie deswegen auch so lang geworden.

Ganz gelesen habe ich sie, weil mich die Traum-Wirklichkeits-Maschinen faszinierten - über die hätte ich gerne mehr erfahren.

Eigentlich hatte ich das Konzept im Kopf, mehrere Geschichten über die TWK zu schreiben und diese immer wieder als Motiv auftauchen zu lassen. Mehrere Geschichten habe ich schon über sie geschrieben ("Falsch verbunden" beispielsweise), und vielleicht schreibe ich auch noch ein paar TWK-Geschichten mehr, wenn ich wieder neue Ideen dafür finde.


Eine SF-Geschichte braucht ein SF-Thema; dein Text könnte auch in der Gegenwart spielen, wenn man die Traum-Maschinen durch etwas anderes ersetzt - genau genommen ist es also keine SF-Geschichte, sondern eine normale Geschichte in einem SF-Setting.

Stimmt, ist keine Science-Fiction-Geschichte, aber das muss doch auch nicht immer sein, oder?

Vielen Dank noch einmal für deine Kritik. Ich glaube, ich sollte die Geschichte wirklich noch einmal ein wenig überarbeiten, einige klischeehaftere Gedanken rausnehmen und auch den Nebendarstellern mehr Leben einhauchen.

Bis dann,

Till

[Beitrag editiert von: Ombas am 06.02.2002 um 17:44]

 

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