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Und dann...
„Lauf!“, hatte er mich angeschrieen. Ich lief doch schon! Ein ledernes Band um den Hals geknotet, war ich an einem kurzen Strick an seine Hand gebunden. Er trat in die Pedale und fuhr sein Fahrrad immer schneller den Berg hinab. Und ich musste hinterher. Der waldige Weg war noch matschig vom Regen des Vortages und immer wieder musste ich sumpfige Pfützen passieren, um im Rahmen der mir angelegten Leine bleiben zu können. Meine Beine fühlten sich taub an. Ich wollte nicht mehr laufen. Ich wusste doch nicht einmal wohin es gehen sollte. Doch er hatte die Gewalt über mich. Er war stärker. Ich hatte zu tun was er mir befiehlt. Also lief ich immer weiter. Das Tal war nun endlich in Sicht und alle Gliedmaßen schmerzten mir. Bald würde ich nicht mehr hinter dem schnellen Rad hinterher rennen müssen. Wenn es erst bergauf ginge müsste er selbst sein Tempo verringern und ich könnte in ein Gehen wechseln. Bald. Das Tal war endlich erreicht und ich sah, dass er Anstalten machte anzuhalten. Vielleicht würde er eine Pause machen wollen? Das wäre schön, endlich ausruhen. Eine Pause. Bitte, eine Pause! Ich war durchnässt und unterkühlt. Klamm und matschig bis auf die Haut. Ich wollte nach Hause.
Er hielt und stieg ab. Die Leine hatte er noch fest in der Hand. Das Fahrrad ließ er fallen und zurrte mich in Richtung des Dickichts. Eine Angst schwoll in mir, die langsam mein einfaches Unwohlsein übertraf. Ein Ruck am Hals ließ mir zukommen, dass ich zwischen die Bäume zu folgen hatte. Das Laub war noch frisch und durchweicht. Wir wateten darüber. Schlängelten uns um Bäume. Ich hatte das Halsgefängnis etwas gelockert indem ich näher an ihm ging. Ich ekelte mich zwar vor ihm, aber es war noch besser als der zugeschnürte Hals. Plötzlich blieb er stehen und blickte sich um. Er wandte sich leicht nach links.
Nicht ein Mal hatte er mich angesehen, seitdem er mich aus seinem Auto herausgelassen hatte. Er legte mir nur das Halsband und die Schnur an, riss sein Fahrrad aus dem Kofferraum und fuhr los. Einen braunen Regenmantel trug er. Die Kapuze seit dem Einsetzen des Regens über den Kopf mit den fettigen schwarzen Haaren geschlagen. Seine Hände hatten breite Nägel und waren verschmutzt. Eine beige-braune Cordhose und matschige Gummistiefel bekleideten seine Beine.
Dann zog er wieder und ich folgte. Mittlerweile war die Angst in mir so hoch gequollen, dass ich nicht mehr wusste, ob ich aufgrund der Kälte, der Nässe oder der Furcht zitterte. Er ging schneller. Ich hatte Probleme mit meinen weitaus kürzeren Beinen Schritt zu halten, schließlich war er etwa vierzig Jahre älter. Zwischen dem herbstlichen Waldbild tauchte eine Art großer hölzerner Block auf. Eine Hütte. Gezimmert aus Baumstämmen. Robust. Ein eingeschlagenes Fenster neben der nun vor uns erkennbaren Tür. Das Gefühl in mir ließ mir Tränen aus den Augen rollen. Die wässrigen Rinnen brannten mir auf den Wangen. Ich wollte schluchzen, doch er verbot es mir. Die Tür öffnete sich mit einem lauten Knarren. Ich fühlte meinen Körper nicht mehr wirklich. Meine Gedanken wollten ihn von hier fort reißen. Doch ich erlangte keine Kontrolle über mich. Die Tränen tropften unaufhörlich an mir hinab. Mein restliches Bewusstsein versuchte die Hütte im Innern zu mustern, doch außer einem alten Schrank und einigen Dingen an der Wand war alles verfallen und von mir nicht wirklich wahrzunehmen. In der Hütte war es noch dunkler als im verregneten Wald. Die Scheiben waren matt und ließen neben einigen Regentropfen so gut wie nichts hindurch. Die einzelnen Tropfen fielen wie meine Tränen auf den staubig-hölzernen Boden.
Eine Welle aus Angst überkam mich, als er sein Gesicht in meine Richtung wand. Ein dreckiges, vernarbtes und altes Gesicht. Kaum erkennbare Augen in der Dunkelheit. Glanzlos. Der Mund formte ein abgrundtief widerliches Lächeln auf sein Antlitz. Er schob seine Kapuze hinter den rund geformten Kopf. „So!“, sagte er, „Da wären wir. Herzlich willkommen!“. Das Wimmern war nun unaufhaltsam in meinen tauben Körper gekrochen. Ich konnte es nicht mehr unterdrücken. Kaum noch Tränen hatte ich in mir, um meinem angstgetriebenen Gefühl Ausdruck verleihen zu können. Meine Leine wurde an einen Haken in der Wand geknotet. Ich war taub, hörte nur noch meinen Atem, unterbrochen von seinem rasselnden Luftholen. Er stellte sich vor mich und knöpfte seine Hose auf. Ich versuchte an zu Hause zu denken.