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Und dann...

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25.01.2004
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Und dann...

„Lauf!“, hatte er mich angeschrieen. Ich lief doch schon! Ein ledernes Band um den Hals geknotet, war ich an einem kurzen Strick an seine Hand gebunden. Er trat in die Pedale und fuhr sein Fahrrad immer schneller den Berg hinab. Und ich musste hinterher. Der waldige Weg war noch matschig vom Regen des Vortages und immer wieder musste ich sumpfige Pfützen passieren, um im Rahmen der mir angelegten Leine bleiben zu können. Meine Beine fühlten sich taub an. Ich wollte nicht mehr laufen. Ich wusste doch nicht einmal wohin es gehen sollte. Doch er hatte die Gewalt über mich. Er war stärker. Ich hatte zu tun was er mir befiehlt. Also lief ich immer weiter. Das Tal war nun endlich in Sicht und alle Gliedmaßen schmerzten mir. Bald würde ich nicht mehr hinter dem schnellen Rad hinterher rennen müssen. Wenn es erst bergauf ginge müsste er selbst sein Tempo verringern und ich könnte in ein Gehen wechseln. Bald. Das Tal war endlich erreicht und ich sah, dass er Anstalten machte anzuhalten. Vielleicht würde er eine Pause machen wollen? Das wäre schön, endlich ausruhen. Eine Pause. Bitte, eine Pause! Ich war durchnässt und unterkühlt. Klamm und matschig bis auf die Haut. Ich wollte nach Hause.
Er hielt und stieg ab. Die Leine hatte er noch fest in der Hand. Das Fahrrad ließ er fallen und zurrte mich in Richtung des Dickichts. Eine Angst schwoll in mir, die langsam mein einfaches Unwohlsein übertraf. Ein Ruck am Hals ließ mir zukommen, dass ich zwischen die Bäume zu folgen hatte. Das Laub war noch frisch und durchweicht. Wir wateten darüber. Schlängelten uns um Bäume. Ich hatte das Halsgefängnis etwas gelockert indem ich näher an ihm ging. Ich ekelte mich zwar vor ihm, aber es war noch besser als der zugeschnürte Hals. Plötzlich blieb er stehen und blickte sich um. Er wandte sich leicht nach links.
Nicht ein Mal hatte er mich angesehen, seitdem er mich aus seinem Auto herausgelassen hatte. Er legte mir nur das Halsband und die Schnur an, riss sein Fahrrad aus dem Kofferraum und fuhr los. Einen braunen Regenmantel trug er. Die Kapuze seit dem Einsetzen des Regens über den Kopf mit den fettigen schwarzen Haaren geschlagen. Seine Hände hatten breite Nägel und waren verschmutzt. Eine beige-braune Cordhose und matschige Gummistiefel bekleideten seine Beine.
Dann zog er wieder und ich folgte. Mittlerweile war die Angst in mir so hoch gequollen, dass ich nicht mehr wusste, ob ich aufgrund der Kälte, der Nässe oder der Furcht zitterte. Er ging schneller. Ich hatte Probleme mit meinen weitaus kürzeren Beinen Schritt zu halten, schließlich war er etwa vierzig Jahre älter. Zwischen dem herbstlichen Waldbild tauchte eine Art großer hölzerner Block auf. Eine Hütte. Gezimmert aus Baumstämmen. Robust. Ein eingeschlagenes Fenster neben der nun vor uns erkennbaren Tür. Das Gefühl in mir ließ mir Tränen aus den Augen rollen. Die wässrigen Rinnen brannten mir auf den Wangen. Ich wollte schluchzen, doch er verbot es mir. Die Tür öffnete sich mit einem lauten Knarren. Ich fühlte meinen Körper nicht mehr wirklich. Meine Gedanken wollten ihn von hier fort reißen. Doch ich erlangte keine Kontrolle über mich. Die Tränen tropften unaufhörlich an mir hinab. Mein restliches Bewusstsein versuchte die Hütte im Innern zu mustern, doch außer einem alten Schrank und einigen Dingen an der Wand war alles verfallen und von mir nicht wirklich wahrzunehmen. In der Hütte war es noch dunkler als im verregneten Wald. Die Scheiben waren matt und ließen neben einigen Regentropfen so gut wie nichts hindurch. Die einzelnen Tropfen fielen wie meine Tränen auf den staubig-hölzernen Boden.
Eine Welle aus Angst überkam mich, als er sein Gesicht in meine Richtung wand. Ein dreckiges, vernarbtes und altes Gesicht. Kaum erkennbare Augen in der Dunkelheit. Glanzlos. Der Mund formte ein abgrundtief widerliches Lächeln auf sein Antlitz. Er schob seine Kapuze hinter den rund geformten Kopf. „So!“, sagte er, „Da wären wir. Herzlich willkommen!“. Das Wimmern war nun unaufhaltsam in meinen tauben Körper gekrochen. Ich konnte es nicht mehr unterdrücken. Kaum noch Tränen hatte ich in mir, um meinem angstgetriebenen Gefühl Ausdruck verleihen zu können. Meine Leine wurde an einen Haken in der Wand geknotet. Ich war taub, hörte nur noch meinen Atem, unterbrochen von seinem rasselnden Luftholen. Er stellte sich vor mich und knöpfte seine Hose auf. Ich versuchte an zu Hause zu denken.

 

Anmerkung:

Es hat schon eine Art aufrüttelnden Sinn, dass die Geschichte in die Rubrik "Alltag" gestellt ist, war dieses Mal kein Versehen. Vielleicht kommt es bei euch an.

 

Hallo Quelle

Du hast Recht, die Geschichte rüttelt auf - oder besser: Der Leser identifiziert sich mit dem Jungen, spürt seine Angst und ist wütend, weil er ziemlich schnell merkt, worauf es hinausläuft. Soweit, so gut. Aber wie geht das Leben weiter? Was passiert mit dem Jungen, was mit dem Mann? Eine Kurzgeschichte soll zwar kurz sein, aber hier fehlt mir noch etwas. So etwas wie ein Clou, eine Moral, eine Erkenntnis. Es wäre ein guter Beginn für einen Roman. So für sich bleibt der Leser etwas verloren zurück. Das kann man auch als Stilmittel einsetzen, aber mir persönlich ist es zuwenig.

Ansonsten noch ein paar Kinkerlitzchen:

war ich an einem kurzen Strick an seine Hand gekettet
Da es sich um einen Strick handelt, würde ich nicht "gekettet" sagen, sondern z.B. "gebunden".

Ich habe mich gefragt, wie alt der Junge ist.

Die einzelnen Tropfen fielen wie meine Tränen auf den staubigen, versifften Boden.
"Versifft" ist ein Wort, dass nicht zum Rest des Textes passt.

Insgesamt ließ sich die Geschichte gut lesen und, wie gesagt, konnte man mit dem Jungen mitleiden.

 

Hallo Frank,
erstens finde ich es interessant, dass Du die Person für einen Jungen hälst, obwohl ich davon nichts schrieb. ;) Deshalb habe ich diesen eigentlichen Anfang einer Geschichte auch nicht weiter geschrieben. Gerade weil sich der Leser seine Gedanken selbst machen soll, darüber was alltäglich passiert, mit wem es passiert, und was eigentlich passiert.

Du hast mit den beiden "Kinkerlitzchen" Recht, ist sozusagen schon geändert.

Danke für die konstruktive Kritik.

Quelle

 

hi quelle,

ich weiss nicht ob das wesen an der leine ein junge ist. ich finde auch nicht, dass in deiner geschichte eine alltaegliche situation beschrieben ist. viel haeufiger als ein missbrauch in einem weit entfernten wald ist ein missbrauch zuhause.

die geschichte stimmt mich nicht wirklich nachdenklich. missbrauch gehoert zur realität, und dagegen kann man nichts machen, außer geschichten zu schreiben, die leute aufrütteln sollen, außer den leuten, die selber geschichten schreiben, und...

aber beruehrt hat sie mich
wirklich

vita

 

Hmm, ich meine mich zu erinnern, dass es gegen Ende "So, Kleiner" hieß. Deswegen habe ich dann an einen Jungen gedacht.

 

Hallöchen Frank,
Du hast Recht, ich hatte zuerst ein "So,Kleiner" eingebaut, aber schon gleich Sekunden nach dem eröffentlichen wieder geändert. Sorry, dachte das hätte keiner so schnell gelesen, hast wohl doch die Version mit "Kleiner" erwischt. Tschuldigung. Dann weisst Du jetzt mehr als die andern Leser ;)

 

Hi Quelle!

Wieder eine Geschichte, die mir gefallen hat! Trotz kleiner Holpersteine liest sie sich kurzweilig - fast kurzatmig, wenn man bedenkt, welche Situation du dem Leser zumutest. Du baust den Bogen systematisch auf, spannst ihn und lässt ihn ein paar Mal schnalzen - wenn du verstehst, was ich meine.

Erst dachte ich bei dem Ich-Erzähler an einen Hund, der für einen Wettkampf vorbereitet wird - hart, aber eben hartes Training.
Dann erkannte ich, dass "der Hund" Hass und Abneigung empfindet und etwas Widerwärtiges oder sogar Schreckliches erwartet.
Bis ich schließlich erkannte, dass es sich um einen Menschen handelte, war ich schon am erschütternden Schluss angekommen und wurde, wie du so schön gesagt hast, aufgerüttelt. So ein Schwein!

Zu den Holpersteinen:

-"Nicht einmal hatte er mich angesehen, seitdem er..."
Ich hab lange überlegt, warum ich hier gestolpert bin. Jetzt weiß ich es: Ich habe die Betonung nicht auf "einmal" gesetzt. War vielleicht mein Fehler. Zum besseren Verständnis vielleicht: Nicht ein einziges Mal...

- "Eine beige Cordhose und olivgrüne Gummistiefel schmückten seine unteren Extremitäten."

'schmückten' find ich hier einfach schlecht gewählt und auch die 'unteren Extremitäten' stören mich. Wenn es sich um ein Kind oder einen Jugendlichen, egal ob Bursche oder Mädel, handelt - das nehme ich jedenfalls an, wegen der kürzeren Beine - dann ist das als Gedanken schlecht nachzuvollziehen. Klingt viel zu geschwollen. Die beige Cordhose kann ja z.B. einfach in verdreckten Gummistiefeln stecken, oder?

Was mich auch ein wenig irritiert hat: Das Opfer scheint die Gegend zu kennen, wenn es weiß, wo es bergauf und wo es bergab geht, die Hütte aber kennt es nicht. Das Kennen der Gegend hat mir auch bei dem Satz Schwierigkeiten bereitet: "Ich wusste doch nicht einmal wohin es gehen sollte."

Wenn du auch wenig über den Ich-Erzähler verraten hast, war ich sehr berührt und habe mit ihm gelitten. Zum Glück hast du mit den Gedanken an zuhause aufgehört...

Dass du hier keine alltägliche Situation beschrieben hast, kann man nur hoffen und dass Missbrauch in den eigenen vier Wänden erwiesener Maßen öfter vorkommt als in der von dir beschriebenen Umgebung, ist klar. Dein Text geht aber verdammt unter die Haut. Könnte genauso gut in andere Rubriken passen.

Liebe Grüße
Barbara

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Quelle!

Deine bedrückend realistische Geschichte beschäftigt mich. Solche Missbrauchs- und Vergewaltigungsgeschichten bekomme ich hier und auch im Literaturcafe immer wieder zu lesen und auch mich beschäftigt das Thema literarisch, so dass ich einen Autor, also jetzt dich, schon lange einmal Folgendes fragen möchte:

In deinem Text geht es ohne Zweifel um sexuellen Missbrauch. Könntest du dir aber vorstellen, das dein Text nicht nur als eine Missbrauchsgeschichte, sondern zugleich auch als eine Parabel dafür gelesen werden kann, dass ein Mensch, hmm, sagen wir mal, ins Leben hineintreten und sich bewähren soll, aber unter unfaire, ihn überfordernde Bedingungen gerät? Zum Beispiel: Ein kleiner Junge wird von seiner Mutter auf die Straße geschickt, weil sie nicht will, dass aus ihm ein Stubenhocker und später ein gehemmter Mensch wird. Und draußen wird er imer wieder von einer Bande Gassenjungen verprügelt. Oder jemand fängt in einem Betrieb zu arbeiten an und wird durch Mobben seelisch zermürbt und zum Aufgeben gezwungen.

Dein Text wirkt auf mich wie so eine Parabel für eine unfaire, überfordernde Konkurrenz- oder Wettbewerbssituation.

Anfangs der Befehl "Lauf!", hat etwas sportliches, Sportwettbewerb, unfair, weil der Kontrahent Rad fährt.
Das Opfer hat keine Kleidung an, die es gegen den Regen schützt und ist durchfroren und durchnässt, der Kontrahent ist durch Gummistiefel, Kapuze und Regenmantel dagegen geschützt.
Dann die Hoffnung des Unterlegenen auf Umkehr der unfairen Situation: Wenn es bergauf geht, hat es der auf dem Rad schwerer.

Vielleicht sollte ich meine Frage so formulieren: Ohne Zweifel spricht dein beeindruckender Text einen Leser an, der Opfer von sexuellem Missbrauch war. Könntest du dir aber auch vorstellen, dass er einen Leser anspricht, nicht weil er Opfer von sexuellem Missbrauch war, aber in einer unfairen Bewährungssituation war: Z.B. von stärkeren Kindern verprügelt oder im Beruf gemobbt wurede?

Die Frage wendet sich auch an Kommentatoren.

Grüße gerthans

 

Salut gerthans,
also ich muss zugeben, dass die Geschichte von Beginn an nicht in diese Richtung weisen sollte. Als ich sie mir jedoch nach Deinem Kommentar nochmals durchgelesen habe, sind mir diese von Dir beschriebenen Dinge durchaus aufgefallen.
Ich werde noch ein wenig darüber nachdenken, ob das vielleicht die sogar passendste (<falls es dieses Wort gibt) Interpretation ist. Weil sie noch mehr den Alltag beschreibt.
Ich habe noch eine Geschichte, die eine ähnliche Situation aus der Sicht des Täters schildert, war mir nur ehrlich gesagt zu hart diese zu veröffentlichen. Vielleicht werde ich sie etwas entschärfen und dann freigeben.
Melde mich später nochmal.

In regard to Barbaras comment: Werde mir die Stellen nochmal ansehen und wohl wirklich was ändern. Schön, dass Du schon zwei meiner Geschichten mochtest.:kuss:

 

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