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Und dann kam Jonas
Mit gesenktem Kopf hastete Arno den Gehsteig entlang, den Griff des Kinderwagens so fest umklammert, dass die Fingerknöchel spitz und weiß hervortraten. Er starrte auf seinen schlafenden Sohn, flehte stumm, dieser möge nicht zu schreien beginnen, nicht jetzt, die letzten paar Meter, bevor er die Tür hinter sich verschließen konnte. Nach allem, was passiert war, wollte er nicht noch mehr Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Aber er hätte es sich denken können: Die Nachbarin stand in der Einfahrt zu ihrem Haus, so, als hätte sie schon immer dort gestanden, mit einem Besen in der Hand, der mechanisch den Asphalt entlangschrammte, obwohl sich darauf schon lange kein Körnchen Dreck mehr befand. Und alles nur, um Arno einen Blick zuzuwerfen, der so viel bedeuten sollte wie: Ich habe es ja schon immer gesagt. Ihr Kopf bewegte sich hin und her, schien etwas neben dem Kinderwagen zu suchen, und sie reckte ihre Nase zufrieden ein bisschen höher, als sie dort nichts erblickte. Ihre Lippen hatte sie fest zusammengepresst, damit ihr nicht aus Versehen ein Gruß herausrutschte.
Endlich erreichte er das Gartentor. Durch das Milchglas an der Haustür erblickte er einen vertrauten Schatten. Kaum hatte er die Tür einen Spalt geöffnet, erschien eine schwarze Schnauze, die energisch dagegen drückte, um den Weg so schnell wie möglich freizubekommen. Diego stupste Arnos Knie und blickte ihn mit seinen dunklen Augen an, während sein gesamtes Hinterteil sich vor Freude schüttelte. Arnos Hand fuhr automatisch zum Hundekopf, doch im letzten Moment zuckte er zurück. Sandra stand im Flur, die Arme vor der Brust verschränkt. Ein leises „Hallo“ kam von ihren Lippen.
„Er schläft noch im Kinderwagen“, sagte Arno. Er schaffte es nicht, ihr ein Lächeln zu schenken, ein zuversichtliches Lächeln, das sagen sollte: „Hey, es wird alles wieder gut.“ Vor fünf Tagen noch waren sie eine glückliche Familie. Sie kehrten von einem Spaziergang heim, Diego kam mit seinem dreckigen Tennisball angelaufen und Arno warf ihm diesen immer und immer wieder. Sandra saß auf der Steintreppe am Hauseingang, Jonas auf ihrem Schoß. Dieser quietschte jedes Mal vor Vergnügen, wenn Diego dem Ball hinterherhechelte und Sandra lachte, weil Jonas sich so amüsierte, und Arno lachte, weil sie gerade alle so glücklich waren.
„Meine Mutter ist da“, sagte Sandra und riss Arno aus seinen Gedanken. Es war nichts mehr so wie noch vor fünf Tagen.
Arno hatte gerade den Kinderwagen durch das Gartentor auf den Gehsteig geschoben, die Leine mit Diego am anderen Ende lag locker um sein Handgelenk. Er drehte sich um und schloss das Tor. Was dann passierte, lief auch Tage danach nur bruchstückhaft in seinem Kopf ab. Ein Knurren, ein Ruck an seiner Hand, ein Aufschrei, eisige Kälte, die sich auf Arnos Nacken ausbreitete. Er fuhr herum, sah den schreienden Jungen am Boden liegen, auf schaurige Weise hin und her gerüttelt, weil Diego an dessen Arm zerrte. Arno stürzte sich auf seinen Hund, rang ihn nieder, spürte Diegos Zähne in seinem Unterarm.
Der Junge lag am Boden, hielt seinen Arm mit der anderen Hand umklammert und wimmerte, Arno lag mit Diego daneben und Jonas begann im Kinderwagen zu brüllen. Die Nachbarin kam angelaufen, schlug die Hände vor den Mund und schrie: "Oh mein Gott, wie schrecklich! Lukas, ich hol deine Eltern." Und da lief sie schon wieder davon. „Ich habe es geahnt … verantwortungslos … Drecksvieh“, hörte Arno noch Fragmente ihrer Ausrufe.
"Wie wäre es mit helfen?", rief er ihr hinterher. Er registrierte erst jetzt, wer da am Boden lag. Lukas, der Sohn ihrer befreundeten Nachbarn.
"Lukas, es hilft dir gleich jemand, okay?", sagte er.
Ein Autofahrer war stehen geblieben, stürzte aus dem Wagen, doch kaum erblickte er Arno und Diego am Boden, hielt er in seiner Bewegung inne.
"Rufen Sie die Rettung", rief Arno ihm zu. Sichtlich froh, nicht zu nahe treten zu müssen, zückte der Autofahrer sein Handy. Lukas' Schluchzen wurde lauter, Jonas' Brüllen auch. Arno durchfuhr eine unglaubliche Erleichterung, als Sandra angerannt kam.
"Was ist passiert?"
Sie hatte das Gartentor erreicht.
"Oh mein Gott! Scheiße!" Wie schon die Nachbarin zuvor schlug sie die Hände vors Gesicht. "Lukas!" Sie eilte zu ihm. "Verbandskasten!", rief sie dem telefonierenden Mann zu.
Arno atmete tief durch, versuchte sich zu beruhigen. Langsam erhob er sich vom Gehsteig, während er Diegos Schnauze weiterhin zu Boden drückte. Behutsam zog er an der Leine, bedeutete seinem Hund damit, sich zu erheben und Schritt für Schritt, seine Finger nach wie vor fest um Diegos Maul geklammert, schlurften sie die Einfahrt entlang. Als die Tür hinter ihm ins Schloss fiel, ließ er Diego von der Leine, der sofort unter die Küchenbank flüchtete. Arno blieb stehen, unfähig sich zu bewegen, und starrte an die weiße Wand. Als diese sich kurze Zeit später immer wieder blau verfärbte, wusste er, dass nichts mehr so sein würde, wie es noch vor zehn Minuten war.
Am nächsten Tag hatte er den Tierarzt angerufen.
„Schläfern Sie Hunde ein?“
„Ist der Hund krank?“
„Nein.“
Schweigen.
„Er hat ein Kind gebissen“, fuhr Arno fort.
„Das tut mir natürlich leid. Aber so einfach ist das nicht. Zum Glück, möchte ich sagen. Ein Biss ist noch lange kein Grund, ein gesundes Tier zu töten. Dürfte ich gar nicht. Je nach Schweregrad der Verletzung und Anzeige des Opfers wird da vermutlich ein Wesenstest auf Sie und Ihren Hund zukommen.“
„Okay, danke.“ Arno legte schnell auf und sank zitternd zu Boden. Was war eigentlich in ihn gefahren, wie konnte er nur daran denken, seinen geliebten Diego umzubringen? Kurzschlussreaktion. Aber er konnte es nicht leugnen, hatte er es doch mit eigenen Augen gesehen. Diego, nicht mehr wiederzuerkennen, eine wildgewordene Bestie, ließ vom Arm des Jungen ab und wollte die riesigen, blutverschmierten Zähne in den Kopf des Jungen zu jagen. Keine Sekunde zu früh, genau in dem Moment, als Diegos Zähne den Scheitel streiften, bekam Arno ihn zu fassen. Später hörte er den Rettungssanitäter sagen: „Oh, da hast du ja eine ordentliche Beule am Kopf. Bist hier wohl aufgeschlagen?“ Und Lukas, der über der Brechschüssel hing, nickte.
Arno, Sandra und ihre Mutter saßen beim Abendessen. Arno wunderte sich, warum sie heute noch kein Wort zur Tragödie, so wie sie den Vorfall nannte, geäußert hatte. Ihre Freunde hatten Anzeige erstattet und Arno harrte der Dinge, die auf ihn zukommen würden. Er nahm es gefasst auf, es war nie seine Absicht, sich vor seiner Verantwortung zu drücken. Aber er spürte, dass etwas völlig anderes im Raum stand. Wortwörtlich lag es im Büroraum unter dem Schreibtisch. Es klingelte an der Tür. Arno schaute kurz auf und hielt es für das Beste, einfach sitzenzubleiben. Erfreulichen Besuch hatten sie seit Tagen nicht mehr bekommen.
Seine Schwiegermutter war allerdings schon aufgesprungen und hastete zur Tür. So, als würde sie jemanden erwarten.
"Ah, hallo Hubert."
"Grüß dich."
"Komm rein, wir sind in der Küche."
„Hubert?“, fragte Arno und sah zu Sandra, die nur mit den Schultern zuckte und schnell wieder auf das Rindsgulasch vor ihr am Tisch starrte. Schwere Schritte verschluckten die Trippelschritte seiner Schwiegermutter und da stand er in der Küche. Hubert. Arno musterte ihn. Sein Blick blieb am Hut hängen, den er unter seinen rechten Arm geklemmt hatte. Wie eine Bedrohung reckte sich Arno der Gamsbart entgegen.
"Arno, das ist Hubert. Er ist …“
"Habt ihr jetzt alle komplett den Verstand verloren?" Arno sprang auf, mit derartiger Wucht, dass der Sessel hinter ihm zu Boden donnerte. „Das ist jetzt nicht euer Ernst! Sagt, dass das nicht euer Ernst ist!“
"Arno, jetzt hör doch erst mal", versuchte die Schwiegermutter zu beschwichtigen, während sie nach dem umgefallenen Stuhl langte.
"Lass den beschissenen Stuhl liegen!", fauchte Arno.
„Hubert hat so etwas schon oft gemacht. Das ist quasi dasselbe wie einschläfern. Der spürt da nix“, fuhr sie unbeirrt fort und stellte den Stuhl auf.
„Ganz sicher nicht! Das ist Tierquälerei. Das ist Mord. Das ist … Ach, vergesst es. Ich lass das sicher nicht zu!“
„Du hast doch selber beim Tierarzt nachgefragt.“
„Ja, weil ich unter Schock stand. War eine blöde Idee.“ Arno bereute es, Sandra überhaupt davon erzählt zu haben.
„Aber wie soll das denn weitergehen? Du kannst dieses Vieh nicht behalten. Denk doch an Jonas.“
„Ich bringe meinen Hund nicht um!“
„Ach, aber deinen Sohn schon?“
„Das war ein Unfall! Diego wollte den Kleinen beschützen.“
„Dann fällt er eben andere an. Macht’s auch nicht gerade besser. Nächstes Mal bin dann vielleicht ich das Opfer, wie?“
Fast wäre Arno eine unbedachte Antwort herausgerutscht. Sandras Lippen formten ein stummes O. Huberts Mundwinkel zuckten.
„Ihr könnt mich mal“, murmelte Arno stattdessen, stürzte aus der Küche und verschwand im Büro.
Sandra kam ins Büro. Sie setzte sich ihm gegenüber, den Kleinen auf ihrem Schoß.
„Mutter ist wieder weg.“
Arno nickte. Dann saßen sie minutenlang da und sagten nichts.
„Wie geht’s dir?“, fragte Sandra schließlich.
„Scheiße.“
„Glaub ich dir.“
„Wie geht’s dir?“
„Scheiße.“ Ein kurzes Grinsen, dann senkte Sandra ihren Blick. „Wie soll es denn jetzt weitergehen?“
„Weiß nicht.“
„Wie wäre es denn mit einem Tierheim?“
„Können wir nicht mal fünf Minuten über was anderes reden?“
Sandra schwieg. Jonas fing an zu brabbeln.
„Diego ist zwölf Jahre alt. Er hat ein Kind angefallen. Glaubst du tatsächlich, die Leute stehen Schlange, um so einen Hund zu bekommen?“, fragte Arno.
„Und wenn er dann eben seine letzten Tage im Tierheim verbringt?“
„Hast du mir nicht mal gesagt, du möchtest nie in ein Altersheim? Weil du dir da so abgeschoben vorkommst?“
„Kann man das vergleichen?“
„Ich denke schon.“
Sandra sprach mehr zu Jonas, als sie die nächste Frage stellte. „Und Hubert?“
„Jetzt fang nicht du auch noch damit an!“ Arno war laut geworden.
„Er ist zwölf. Wer weiß, wie lange er überhaupt noch hätte“, sagte Sandra.
„Du magst ihn doch auch, er ist Teil unseres Lebens. Weißt du nicht mehr, wie viel Spaß wir zu dritt hatten? Wie kannst du so etwas sagen?“
Sandra ließ sich Zeit für ihre Antwort.
„Arno. Diego ist ein Hund. Ein Tier. Schau dir deinen Sohn an. Jonas ist jetzt da.“
Arno streifte Jonas mit einem kurzen Blick, schaffte es nicht, seine Augen auf ihm ruhen zu lassen.
„Verdammt noch mal! Schau ihn dir an!“, schrie Sandra und sprang auf. In diesem Moment stürzte Diego unter dem Tisch hervor, das Fell im Nacken gesträubt. Ein bedrohliches Knurren drang aus seiner Kehle.
„Diego!“ Arno griff nach seinem Halsband und hielt ihn fest.
Sandra starrte ihn schockiert an. Sie drückte Jonas fest an sich, ihre Augen wurden glasig.
„Wir sind bei meiner Mutter“, sagte sie.
Arno wartete, bis es dunkel wurde, dann legte er Diego Leine und Maulkorb an und gemeinsam streiften sie durch die Straßen. So, wie sie es früher oft gemacht hatten. Diego trottete gemächlich neben Arno her, die Unruhe seiner jungen Tage war längst Vergangenheit. Arno dachte an die letzten Jahre.
Wie er Diego am nahegelegenen Bauernhof abholt. Der mutigste aller Welpen, der erhobenen Hauptes, fast arrogant, sofort auf Arno zustolziert. Sandra, die sich vor Hunden fürchtete, als sie sich kennenlernten und die drei Wochen später mit Diego auf dem Teppich sitzt, die Arme um ihn geschlungen hat und ihm die lächerlichsten Kosenamen zuflüstert. Sie beide, im Winter mit dem Schlitten, Diego als Schlittenhund vorgespannt, der den Schlitten in den Graben lenkt. Diego, der wasserscheuste Hund auf Erden, wie er beim Angeln versehentlich in den Teich plumpst und sie beide danach stundenlang nicht mehr ansieht, als hätten sie Schuld an seinem Missgeschick. Jonas, der seine kleinen Finger nach Diego ausstreckt, die sich plötzlich in das Fell krallen. Sandra und Arno, wie sie lachend versuchen, die Finger vorsichtig zu lösen. Diego, wie er vor ihm sitzt, seinen schweren Kopf auf Arnos Schoß legt und seinen Schwanz am Fußboden hin und her streifen lässt. Diego mit blutverschmiertem Maul. Arno, wie er ihm liebevoll die braunen Flecken über den Augen streichelt. Diego mit gefletschten Zähnen. Diego, wie er mit seinem schwarzen Fell beinahe majestätisch durch den tiefen Schnee watet. Jonas mit seinem zahnlosen Lachen. Diego, wie er einfach nur da ist.
Arno spürte, wie ihm die Tränen die Wangen hinunterliefen. Schluchzend ließ er sich auf der Gehsteigkante nieder. Diego spürte die Traurigkeit, stieß ihn an, stimmte winselnd in das Geheule mit ein. Arno nahm ihm den Maulkorb ab, vergrub seine Finger im dichten Fell. So saßen sie minutenlang da, er und sein Diego. Dann richtete Arno sich auf, wischte sich mit dem Handrücken über die Augen und ließ Diego von der Leine. „Lauf“, rief Arno und gemeinsam jagten sie die Straße entlang. Zuerst ganz schnell, Diego bellend und Arno lachend, dann immer langsamer, Diego nur mehr im Laufschritt, die lange Zunge hing aus dem Maul und bewegte sich rhythmisch vor und zurück. Schließlich blieb Arno vor dem Haus stehen, legte seinem Hund Leine und Maulkorb wieder an.
Er presste seinen Daumen auf den silberfarbenen Klingelknopf und hielt drauf, bis sich die Tür öffnete und er endlich losließ, derartig ausgelaugt, als hätte ihn noch nie etwas so angestrengt.
"Hallo Hubert."