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Und dann kam der Winter
Und dann kam der Winter.
Obwohl es ihr natürlich schon lange klar war, erschrak das Mädchen, als sie die Kälte verspürte.
Doch dann, bei näherer Betrachtung gab ihr dieser ewige Kreislauf ein Gefühl von Sicherheit, denn sie erkannte, dass es so etwas wie Bestimmung geben musste. Wenigstens diese eine Sache gab es, der sie sich sicher sein konnte. So war es schon immer. So würde es immer sein.
Auch wenn es nicht die Ehe ihrer Eltern war, wenn es auch nicht die Liebe ihres Freundes war, wenn es noch nicht einmal die Treue ihrer Freunde war, so war es wenigstens diese eine Sache.
Es war vielleicht nicht viel, doch ihr genügte es. Sie begann sogar sich daran zu erfreuen. Sie ließ sich in den ersten Schnee fallen. Was für ein wundervolles Gefühl! Er federte nicht, nein er war hart, vereist und es tat furchtbar weh, doch das bestätigte sie nur in der Offensichtlichkeit dieses Wunders der Jahreszeiten. Es war logisch. Natürlich tat es weh auf Eis zu fallen. Es war zu erfassen. Nicht wie alles andere in dieser Welt. Man konnte sagen, nach dem Winter folge der Frühling und Niemand konnte einen Lügner schimpfen. Welche Freiheit in der Sicherheit!
Sie begann sich immer mehr für diesen Gedanken zu begeistern und wollte sogleich mehr. Mehr Gewissheit. Mehr Sicherheit.
So ging sie also zu ihrem Professor an der Universität und fragte ihn, nach den unbestrittenen Wirklichkeiten dieser Welt. Erst verstand er ihr Anliegen nicht, doch als sie begann, Worte wie sicher, unbezweifelbar und unumstößliche Wahrheit zu gebrauchen, schien ihm ein Licht aufzugehen. So gab er ihr zig Bücher mit Formeln und wissenschaftlichen Errungenschaften und sie riss sie ihm nur so aus den Händen.
Von diesem Tage an verbarikadierte sie sich in ihrem Gemach und sprach zu keiner Menschenseele. Nicht zu ihrer Mutter, nicht zu ihrem Stiefvater und auch nicht zu Freunden, die sich nach einiger Zeit nach ihr erkundigten. Zwar kam ihr richtiger Vater in diesen Monaten nicht vorbei, doch hätte sie auch mit ihm kein einziges Wort gewechselt. Es lag nicht daran, dass sie die Menschheit verachtet hätte, obwohl sie allen Grund dazu gehabt hätte.
Nein, sie fühlte sich noch nicht stark genug für sie. Sie dachte, sie würde noch Einiges an Sicherheit und unbestreitbarer Wahrheit brauchen, womit sie ihren Geist festigen und sich Säulen der Logik für die monströse Last der unerklärlichen Fehlbarkeit und der unbestimmbaren Grausamkeit des Menschen bauen könnte.
Sie las so lange, dass der Winter verging und der Frühling über ihr hoch gelegenes Dorf hereinbrach. Sie bemerkte nicht einmal, wie der Schnee langsam schmolz und die ersten Grünflächen erschienen; wie die ersten Gänseblümchen wuchsen und die Bäume ihre empfangene Kargheit verloren. Doch da sie der Zeit bewusst war, wusste sie auch um die Veränderung der Außenwelt. Ja, sie war sich dieser Veränderung sogar gewiss.
Und so erschrak sie auch nicht, als sie sich eines Tages, es war im Mai, zur Tür begab, diese öffnete und in die Wärme des endenden Frühlings trat.
Der Wind war kaum zu spüren, doch in der Ferne hörte sie es donnern. Sie hatte keine Angst. Sie wusste, dass Donner durch die plötzliche Ausdehnung der Luft verursacht wird und durch den extremen Temperaturanstieg beim Durchgang eines Blitzes. Das war logisch und nachvollziehbar. Nichts wovor man Angst haben müsste.
Im Inneren des Hauses hörte sie, wie ihr Stiefvater zu schreien begann, als ihre Mutter einen Teller fallen lies. Seine Stimme war verzerrt und Wut erfüllt und sie hörte, wie ihre Mutter wimmernd um Vergebung sann.
Das Mädchen wendete sich ab von diesem trostlosen Stimmengewirr. Sie verstand es nicht. Sie konnte es sich nicht erklären. Schnell suchte sie in ihrer Umgebung nach einem Anhaltspunkt. Nach irgendetwas, dessen sie sich sicher sein konnte.
Sie sah das Gras, das grüne Gras und versuchte sich ins Gedächtnis zu rufen, wie es zu dieser Farbe kam. Erst als sie sich ins Gedächtnis rief, dass diese Lichtreflektion vom Chlorophyll, den Farbstoffträgern der Zellen des Grases ausging, beruhigte sie sich allmählich.
Es war, als hätte sie ihren Ausgleich gefunden.
Der Wind wurde stärker, doch sie wollte noch nicht ins Haus zurück gehen. Sie war sich noch nicht sicher genug, ob sie das schon überstehen konnte. Der Himmel wurde schwarz und die Gewitterwolken kamen immer näher. Die Temperatur sank ungewöhnlich schnell, doch ihr war bewusst, dass dies bei einem Gewitter häufig der Fall war.
Plötzlich kamen die Kinder der Stadt vorbei.
Das Mädchen war, zeitens ihrer Abwesenheit, zum Gespött der Leute geworden. Es hatte sich herumgesprochen, dass sie seit knapp einem halben Jahr nicht mehr gesprochen hatte und dass sie immer alleine sein wollte. Man erzählte sich, sie wäre psychisch labil. Geistig eingeschränkt. Nicht ganz richtig im Kopf.
Und so kam es, dass an jenem Morgen die Kinder der Stadt nicht umhin kamen, das Mädchen zu verspotten und zu beschimpfen. Sie riefen böse Worte, lachten über sie und das Mädchen begann zu weinen über diese Grausamkeit.
Schnell suchte sie erneut nach einem Anhaltspunkt um sich zu beruhigen. An einem Halt, an dem sie sich festhalten könnte, auf dass sie nicht stürze, in ihrer Trauer über die Unerklärbarkeit. Doch sie fand nichts. Ihre Atmung wurde schneller und sie begann schließlich zu hyperventilieren. Die Kinder lachten noch lauter und liefen schließlich weg.
Dann plötzlich wurde sich das Mädchen der Erklärbarkeit ihrer Hyperventilation bewusst. Die häufigste Ursache für Hyperventilation war psychisch bedingt. Sei es nun Stress, Trauer oder Angst und all dies verspürte sie in diesem Augenblick. Langsam beruhigte sie sich wieder und machte sich auf den Weg zurück ins Haus.
Als sie es schon fast erreicht hatte, stieß der Wind die Türe zu. Ein kalter Schauer lief ihr über den Rücken. Es war fast, als ob sich ihr alles auf einmal offenbarte und sie wusste, dass es so kommen würde.
Sie sah, wie ein Blitz einschlug, gerade einmal hundert Fuß von ihr entfernt. Dann, als ob er nur auf diesen Moment ihrer ungeteilten Aufmerksamkeit gewartet hätte schlug er, entgegen jedweder Logik, erneut auf genau der selben Stelle ein.
Sie war sich sicher, sie würde noch während der Blitz einschlug dieses tosende Grollen vernehmen, wie sie es vorhin bei den entfernten Blitzen gehört hatte, doch es blieb still.
Dann vernahm sie einen Schrei, wandte sich zum Haus um und sah, wie sich ihre Mutter aus dem Fenster stürzte.
Das Mädchen schrie und weinte. Es rannte auf ihren leblosen Körper zu und stolperte über einen Büschel roten Grases.
Als sie dort lag und weinte und begann zu hyperventilieren, senkte sich leise und mit unendlicher Bedächtigkeit inmitten des tosenden Sturmes eine einzelne Schneeflocke und landete auf ihrem aufgeschürften Arm.
Das Mädchen hörte auf zu weinen und betrachtete die Schneeflocke auf ihrem Handgelenk, wie sie verrann.
„Nichts ist sicher.“, flüsterte sie.
Von nun an würde sie probieren müssen, mit diesem neuen Grundsatz zu leben.