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Und alles wegen einer (nicht ganz) toten Katze
Wie jeden Morgen, verließ Willi gegen halb acht das Haus, in dem er zur Miete wohnte. Als er die hölzerne Eingangstür hinter sich ins Schloß zog und sich umdrehte, fiel sein Blick auf eine Katze. Sie saß friedlich auf dem Bürgersteig und schien das schöne Wetter zu genießen. Ihr getigertes Fell glänzte in der Sonne.
Tierlieb, wie Willi nun einmal war, bückte er sich, um der Katze einen guten Morgen zu wünschen.
Die Katze blickte auf und sah einen riesigen Mann, der sich zu ihr hinunter beugte. Sie erschrak, war für einen Moment wie gelähmt und rannte dann um ihr Leben.
Fast endete es unter einem Auto, dass im gleichen Moment, zwanzig Kilometer schneller als erlaubt, über die Straße bretterte. Der Fahrer des Wagens machte lediglich eine leicht verägerte Miene, als er ein dumpfes Geräusch vernahm und fuhr weiter, ohne sein Tempo zu verlangsamen.
Willi sah auf die Straße. Dort lag die Katze. Besser gesagt, dort lag das, was von ihr übrig war. Ihre Vorderbeine zuckten noch ein wenig und ihr Bauch schien aufgeplatzt oder aufgerissen zu sein. Blut lief auf die Straße. Dass arme Tier, dachte Willi und beobachtete entsetzt, dass sich ihre Beine immer noch bewegten. Sie muss schreckliche Schmerzen haben, dachte Willi. Hätte er sie doch nur nicht aus Versehen aufgescheucht. Die Katze tat ihm sehr leid.
Er kratzte sich ratlos im Nacken und überlegte, was er jetzt tun sollte. Eigentlich war es sehr wichtig, dass er pünktlich zur Arbeit kam. Sein Resozialisierungsprogramm lief seit zwei Monaten. Bisher war alles gut gegangen.
Andererseits konnte er das arme Ding doch nicht einfach seinem Schicksal überlassen.
Willi ging ins Haus und durch den Keller in den Garten, auf der anderen Seite. Er wusste, dass der Hausmeister in der kleinen Holzhütte einige Gartengeräte verwahrte. Zum Glück war die Tür nicht verschlossen. Willi ging in den dunklen Raum und suchte nach dem Lichtschalter. Schließlich fand er ihn in einer Ecke. Die nackte Glühbirne unter der Decke flackerte ein wenig, als er den Schalter betätigte. In der Ecke fand er einen Spaten. Er nahm ihn und suchte noch nach einer Plastiktüte. Er fand lediglich einen Leinensack und ging wieder zum Haus zurück.
Er bemerkte nicht, dass ihn dabei jemand beobachtet hatte.
Hannelore Müller hatte sich gerade einen Tasse frisch aufgebrühten Tee aus der Küche geholt und sich in ihren Lieblingssessel vor das Fenster gesetzt, als sie Willi sah. Aus dem Hintereingang kommend, trat er auf den frisch gemähten Rasen. Hastig stellte Frau Müller die Tasse auf den kleinen Beistelltisch und griff zu ihrer Brille, um besser sehen zu können.
Ha, hatte sie doch gleich gewusst, dass dieser Kerl irgendwann Ärger machen würde. Mit hervor geschobener Unterlippe, zog sie mit einiger Anstrengung, den Sessel näher zum Fenster. Sie beobachtete wie Willi in der Gärtnerhütte ihres Mannes verschwandt. Sie griff zum Telefonhörer, legte ihn dann aber wieder zur Seite.
In eine Hütte gehen, würde wohl kaum genügen um ihn aus dem Haus zu bekommen. Angestrengt sah sie weiter aus dem Fenster. Von dem intensiven Gucken begann ihr Kopf zu schmerzen. Die Brille hatte einfach nicht die richtige Stärke. Dass hatte sie ihrem Augenarzt schon mindestens hundertmal gesagt.
Willi kam aus der Hütte. In der linken Hand trug er eine Schaufel und in der rechten Hand den alten Leinensack. Ihr Mann schob ihn bei Gartenarbeiten immer unter seine arthrosegeplagten Knie.
Frau Müller stellte befriedigt fest, dass es sich hier eindeutig um einen Fall von Diebstahl handelte. Sie ergriff erneut zum Hörer und rief die Polizei an.
Willi stand wieder auf dem Bürgersteig und stellte bedauernd fest, dass kein Autofahrer die Güte besessen hatte, die Katze endgültig tot zu fahren. Ihm würde wohl keine Wahl bleiben. Mit einem Seufzer legte er den Sack, mit der Öffnung nach oben auf die Straße. Er hob das immer noch leicht zuckende Tier mit der Schaufel hoch und beförderte es in den Leinensack.
Blut tröpfelte auf den Asphalt. Kaum zu glauben, die Katze schien immer noch nicht endgültig tot zu sein. Willi nahm den Sack und ging zurück in den Garten, hinter dem Haus.
Polizeioberwachtmeister Steger legte entnervt den Hörer zurück auf die Gabel.
"Das war mal wieder die Müller", sagte er zu seinem Kollegen. Manfred Meyer, mit dem er seit geraumer Zeit das Büro teilte, sah ihn belustigt an.
"Was ist es denn diesmal? Haben Nachbarskinder vom Kirschbaum genascht?"
"Diesmal ist es Diebstahl."
"Ist nicht wahr."
"Doch. Kannst du dich noch an den Fall Willi Schneider erinnern?"
"Du meinst diesen Idioten, den wir am hellichten Tag erwischt haben, als er ein Auto knacken wollte?"
"Genau den. Er hat hinterher behauptet, dass er das Auto nur leihen wollte, weil er so gerne mal Jaguar fahren würde. Vor Gericht ist er dann als nicht schuldfähig, freigesprochen worden. Der arme Kerl ist dann einem Sozialarbeiter überlassen worden. Na ja. Auf jeden Fall wohnt der jetzt bei der Müller im Haus. Sie hat gerade gesehen, wie er eine Schaufel geklaut hat."
"Tja, dann lass uns besser mal hinfahren. Bei den Psychos weiß man ja nie."
Die Beamten beendeten gemächlich ihre Mittagspause und machten sich in aller Ruhe auf den Weg.
Hannelore Müller verschluckte sich fast an ihrem Tee, als sie Willi erneut in den Garten stiefeln sah. Mist, er wird die Schaufel doch wohl nicht zurück bringen wollen? Sie tastete nach ihrer Brille. Willi legte den Sack auf den Rasen. Frau Müller konnte erkennen, dass er sich an einer Seite rot färbte. Mein Gott, war das etwa Blut? Sie griff unter ihre linke Brust und rang nach Atem.
Mit leichtem Bedauern in seiner Miene, hob Willi die Schaufel und ließ sie auf den Sack hernieder sausen. Um wirklich sicher zu gehen, wiederholte er die Prozedur noch drei weiter Male. Mit einem angewiederten Schnaufen, ließ er die Schaufel schließlich ins Gras fallen und sah vorsichtig nach. Die Katze war zu eindeutig, totem Brei geworden.
Keuchend stand Frau Müller auf und stolperte über eine Teppichkante.
Willi sah sich um und entdeckte ein Stück unbepflanztes Beet. Er grub ein Loch. Er ließ die Katze hineingleiten und sie landete mit einem glitschigen Plopp auf der schwarzen Erde. Den Gedanken ein Gebet zu sprechen verwarf Willi wieder. Er war nie ein sonderlich religiöser Mensch gewesen.
Mit gerunzelter Stirn betrachtete er den Rasen und den blutverschmierten Sack. Er beschloss zu Frau Müller herüber zu gehen und ihr die ganze Geschichte zu erzählen. Nicht das die arme, alte Dame einen Schreck bekam, wenn sie in den Garten ging und die Blutspur entdeckte.
Willi klopfte ein paar Mal an die gläserne Tür des Wintergartens. Sie war nur angelehnt. Willi konnte erkennen, dass die Tür die ins Haus führte, ebenfalls offen stand. Er ging hinein. Wiederholt rief er Frau Müllers Namen, erhielt aber keine Antwort.
Im Wohnzimmer entdeckte er sie. Ihre Brille war ihr von der Nase gerutscht. Aus dem Gesicht war jegliche Farbe gewichen. Der Kopf war in einem seltsamen Winkel nach hinten gekippt. Der Mund stand offen und ein Speichelfaden lief an ihrem spitzen Kinn herunter. Sie lag auf dem Boden und das Kabel einer Lampe, hatte sich einmal um ihren Hals gewickelt.
Willi eilte zu ihr. Er befreite ihren Hals von dem Kabel und versuchte es mit Mund zu Mund Beatmung. Immer wieder presste er seinen Mund auf den ihrigen und versuchte ihr Leben einzuhauchen.
Willi hörte nicht, dass die Eingangstür der Wohnung aufgeschlossen wurde. Erst als er bemerkte, dass die Beatmung keinen Sinn mehr machte, sah er auf und entdeckte Herrn Müller im Türrahmen.
Herr Müller stand kreidebleich da und hielt krampfhaft seinen Hut fest. Die Knöchel seiner dünnen Finger traten weiß hervor.
"Was haben sie getan" presste er hervor. Willi war in seinem Leben schon oft in Schwierigkeiten geraten. Er erkannte, dass er mal wieder kurz davor war, in eine dumme Sache hinein zu geraten. Das Blut an seinen Hosenbeinen machte die Sache auch nicht gerade besser. Wahrscheinlich würde ihm mal wieder kein Mensch glauben. Er sah keinen anderen Ausweg, als sich aus dem Staub zu machen. Der alte Herr stand immer noch wie erstarrt da, als Willi durch die Hintertür in den Garten rannte.
Die Polizei traf fünf Minuten später ein. Die Beamten Steger und Meyer sollten sich noch lange Vorwürfe machen, dass sie nicht schneller reagiert hatten. Der Sozialarbeiter, der sich um Willi gekümmert und bei Gericht für ihn ausgesagt hatte, wurde mit den Folgen seiner offensichtlichen Fehleinschätzung von Willi nicht fertig und kündigte seinen Job.
Willi hatte in den darauffolgenden Tagen immer wieder darüber nachgedacht, sich zu stellen. Schließlich hatte er nichts verbrochen. Gerade als er sich auf dem Weg zur Polizeistation machen wollte, fiel ihm eine Zeitung in die Hand. "Sadistischer Psychopath tötet auf grausame Weise Katze und Rentnerin". Willi las den Artikel nicht. Er machte kehrt, verschwandt in der Hektik der Großstadt und wart nie mehr gesehen.