Unbekannt
Montag, 28. 1. 2002, ca. 8.30 Uhr. Ich laufe die Warschauer Straße entlang, wie jeden Morgen seit vier Monaten. Und wie jeden Morgen bin ich noch verschlafen und habe dieses sowohl angenehme als auch unangenehme Gefühl, für einen Studenten doch ganz schön schick angezogen zu sein: brauner Anzug, weißes Hemd, rote Krawatte.
Vor mir laufen Menschen, und hinter mir laufen Menschen. Ich sehe eine Frau aus dem Bäckerladen treten. Sie trägt einen olivgrünen Mantel und hat dunkle Haare. Ich denke, sie ist hübsch, aber man sieht ja so oft hübsche Frauen. Sie läuft ca. 10 Meter vor mir.
Sie kommt an dem Dönerladen vorbei, wo es den besten Döner in Friedrichshain gibt. Sie bleibt stehen und wechselt ein paar Worte mit dem Verkäufer, auf Türkisch, glaube ich. Es sieht nett aus, wie so eine klischeehafte Szene aus dem Kiez. Man kennt sich.
Ich gehe an ihr vorbei, in meiner gewohnten unbeteiligten Haltung. Aber ich kann nicht leugnen, dass ich sie sehr deutlich wahrnehme. Ich werfe zwei Briefe in den Briefkasten und gehe weiter. Ob sie mich sieht? Sicher sieht sie mich, wie man die Autos auf der Straße oder den Dreck auf dem Bürgersteig sieht. Aber sieht sie mich so, wie ich sie gesehen habe? An der roten Ampel bleibe ich stehen. Diese Ampel ist jeden Morgen rot. Da sieht man, wie regelmäßig das Leben so ist. Sie kommt auch an der roten Ampel an. Ich sehe aus den Augenwinkeln, dass sie neben mir steht, einen halben Schritt hinter mir.
Ich nehme Deine Nähe wahr wie die Wärme einer Heizung. „Entschuldigung?“, sagst Du. Ich drehe mich zu Dir und schaue Dich fragend an. Du hast schöne Augen, lächelst und fragst: „Hast Du vielleicht noch ´ne Zigarette?“ Ich sehe in Dein Gesicht, Du siehst erwartungsvoll, aufgeregt aus. Oder bist Du einfach nur schön? Meine Beine, meine Arme, mein ganzer Körper verwandelt sich schlagartig in eine weiche Masse. Gleichzeitig verspüre ich ein wunderbares Gefühl von Nähe, Du schaust mit Deinen Augen direkt in mich hinein. „Ja, sicher“, stammele ich, greife in meinen Mantel und reiche Dir meine geöffnete Schachtel Luckys. Es sind noch zwei drin. Ich warte auf diesen blöden Spruch, den alle immer sagen: „Oh, du hast ja nur noch so wenige, nee, dann nicht.“ Den Spruch mag ich nicht; dafür mag ich, dass Du ihn nicht sagst. Du nimmst eine Zigarette, ich frage: „Feuer?“ und warte doch tatsächlich auf eine Antwort, anstatt gleich mein Feuerzeug zu zücken. Wie gesagt, ich bin wie gelähmt.
„Naja, ich habe Streichhölzer, aber...“ Mann, denke ich mir, willst Du sie jetzt noch ihre Streichhölzer benutzen lassen? Ich gebe Dir also mein Feuerzeug, Du steckst Dir die Zigarette an, sagst „Danke“, und wir drehen uns weg.
Die Ampel wird wieder grün, und wir gehen beide los. Ich will gerne neben ihr laufen, irgendetwas sagen, vielleicht auch nur Wortbrocken stottern, Hauptsache, dieser Augenblick ließe sich verlängern. Ich laufe langsam, aber trotzdem noch zu schnell, als dass sie neben mir laufen könnte. Meine Beine erklären sich nur widerwillig dazu bereit, die letzten Meter bis zur S-Bahn zu bewältigen. Ich versuche, locker zu laufen, muss gleichzeitig lächeln und habe Angst. Überlege mir, was ich hätte sagen können, was ich noch sagen könnte. Mich umdrehen, stehenbleiben, auf sie warten? Sagen: „Warte mal! Es klingt vielleicht bescheuert, aber würdest Du mit mir mal einen Kaffee trinken gehen?“ Klingt zwar wirklich bescheuert, aber genau das sollte ich tun. Ich tue es nicht. Am Eingang des S-Bahnhofs stelle ich mir vor, dass Sie auch mit der S-Bahn fahren muss. Ich laufe weiterhin langsam. Auf dem Bahnsteig stelle ich fest: Sie fährt leider nicht mit der S-Bahn.
Noch immer habe ich weiche Knie, steige in die S-Bahn, ohne zusammenzubrechen, und setze mich. OK, neue Vorstellung: Ich überlege, wie kann ich diese Frau wiedersehen? Dieses Gefühl steckt noch immer in mir drin, ich bin überwältigt, mein Körper macht keine Anstalten, wieder einen festen Aggregatzustand einzunehmen. Mal rational überlegt: Es ist Montag, halb neun. Sie wird hier irgendwo wohnen und fährt gerade zur Arbeit. Wie könnte ich Kontakt zu ihr aufnehmen? Sie war beim Bäcker und sie kennt den Dönermann. Leider nicht der Dönermann, der sonst immer da ist. Ich stelle mir vor, wie ich beim Bäcker und beim Dönerladen nach ihr frage, um eine Nachricht von ihr bitte. Passiert das nicht immer in den ganzen Filmen, diesen neuen deutschen Filmen, in denen Christiane Paul, Benno Führmann oder Jasmin Tabatabai durch Mitte laufen, den Fernsehturm im Hintergrund? Diese Filme enden doch immer ganz gut, oder?
Noch in der S-Bahn, etwa zwischen Ostbahnhof und Jannowitzbrücke, fange ich an zu relativieren. Der Kampf zwischen Hirn und Herz beginnt; erfahrungsgemäß hat das Hirn den längeren Atem. Ich beginne, gegen mein Hirn zu kämpfen. Mein Herz braucht Verstärkung. Ja, sie hat mich nach der Zigarette gefragt, um mit mir sprechen zu können. Ja, sie hat mich erwartungsvoll angesehen und nicht die Zigarette. Die war nur ein Vorwand.
Kurz vor dem Bahnhof Friedrichstraße fängt ihr Bild an zu verblassen. Ich kann sie nicht mehr sehen vor meinem inneren Auge, doch das Gefühl bleibt. Ich betrete die Agentur, in der ich seit vier Monaten Praktikum mache. Ich bin völlig durcheinander, habe einen beseelten Gesichtsausdruck im Gehirn. Guten Morgen, hallo, na, schönes Wochenende gehabt? Ich setze mich an meinen Computer, checke meine Mails und kann nicht lesen. Keine Konzentration, immer noch diesen Brei im Kopf. Ich lese die Mails trotzdem, schaue im Internet nach interessanten Zeitungsmeldungen der letzten Tage und merke, wie die Maschine Praktikant langsam wieder arbeitsfähig wird. Das Herz wird hier nicht gebraucht, und ich drohe das Gefühl zu verlieren. Deshalb schreibe ich es jetzt auf. Das Ganze ist zwei Stunden her, und mein Körper ist noch immer weich wie Butter. Ich will sie wiedersehen.
[Beitrag editiert von: Eierbein am 05.03.2002 um 13:35]