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Unbegrenzte Toleranz: Eine Nacht in New Angeliz
Eine Nacht in New Angeliz
1 - David
"Was denkst du, hätten die Leute vor vor 100 Jahren dazu gesagt?", fragte Carsten.
Unsicher, worauf er hinauswollte, folgte ich seinem Blick. Meinte er die Wolkenkratzer, die dreißig Stockwerke tief unter den Meeresspiegel reichten? Die Clubs, aus denen trotz der späten Stunde laute Musik dröhnte? Oder die ganze Straße?
"Zum Saint-Marzo-Boulevard?", war meine Gegenfrage.
Carsten schüttelte grinsend den Kopf.
"Zu den Calagon."
Seufzend folgte ich erneut seinem Blick. Auf dem Boulevard waren auch mitten in der Nacht mehr als hundert Menschen unterwegs, dicht an dicht, so, wie vor wenigen Jahren noch am New Yorker Times Square, vor den Anschlägen. Doch es waren nicht nur Menschen, die auf dem Boulevard schlenderten. Zwischen ihnen waren auch viele, deren Haut von grünen, braunen, schwarzen oder roten Schuppen bedeckt war; deren Schwanz aus dem Steiß herausstand, deren Echsenaugen in verschiedenen Gelb- bis Rottönen zu leuchten schienen, denen keine Haare, sondern dutzende, kleine Hörner auf dem Kopf wuchsen. Von ihnen waren dort ebensoviele wie von den Menschen unterwegs, mehr als selbst damals in New York.
Die Calagon.
Vor hundert Jahren hätte man sie vermutlich getötet, Krieg gegen sie geführt. Das wollte ich aber nicht zu Carsten sagen. Er war erst siebzehn und noch immer viel zu naiv für diese Welt der angeblich 'unbegrenzten Toleranz'; und er glaubte stets an das Gute in den Menschen. Und den Calagon. Lächelnd dachte ich mir, wie sehr er mich doch an meine Jugend erinnerte. An meine Naivität. Unbeschwerte Zeiten, vor den Anschlägen, als ich noch in New York wohnte. Bei meinen Eltern. Ich musste mal wieder ihr Grab besuchen.
Carstens Frage beantwortete ich schließlich mit einem knappen Schulterzucken, bevor wir vom Fenster zurücktraten und uns auf den Weg machten, zu Jareds Loft.
"Komm schon, David. Keine Idee, wie die Leute damals reagiert hätten, wenn sie gesehen hätten, wie wir mit den Calagon zusammenleben?"
Ideen hatte ich durchaus. Die meisten Menschen hätten es wohl für verrückt gehalten. Vor hundert Jahren. Vor sechzig Jahren dagegen, als die Calagon aus dem Untergrund an die Oberfläche kamen... waren die Umstände eben anders, so kurz nach dem zweiten Weltkrieg.
Auf dem Weg von unserer Mietwohnung zur Straße wollte Carsten noch immer eine Antwort, aber ich wimmelte ihn ab. Meine Meinung von der Natur des Menschen war zu negativ für sein naives, aber gutes Gemüt. Und solange ich sein Erziehungsberechtigter war, wollte ich ihn schonen.
Zugegeben, das war egoistisch von mir; doch munterte mich seine positive Weltsicht immer auf.
Auf der Straße blieben wir dicht beieinander, um uns nicht im dichten Gedränge von Menschen und Calagon zu verlieren, drängten uns durch die Massen. Wobei Erinnerungen an New York hochkamen... und die Anschläge.
Doch ich ignorierte jede aufkommende Erinnerung, wollte mich nicht erinnern.
Schließlich bogen wir in die Seitengasse neben dem Singularity Club, eine bewährte Abkürzung, die außerdem fast niemand benutzte. Vor allem, weil der Singularity Club einen derart schlechten Ruf hatte, dass sich fast ausschließlich Anthros hinein wagten.
Doch bislang hatten wir nie Probleme in jener Gasse gehabt. Bis zu dieser Nacht.
Zwei blasse Gestalten kamen uns entgegen, einer wirkte verängstigt und ein wenig kränklich. Den Anderen rempelte Carsten versehentlich an. Dieser drehte sich blitzschnell zu uns herum und stieß Carsten mit der flachen Hand in den Rücken, er fiel neben mir unsanft zu Boden, und mein Beschützerinstinkt meldete sich. Noch bevor ich mich so bedrohlich, wie ich nur konnte, vor Carsten aufgebaut hatte, hielt ich bereits mein Taschenmesser in der Hand.
"Es war nur ein Versehen", flüsterte ich mit bedrohlicher Stimme.
Der Mann sah mich abschätzend an, dann blickte er hinter mich und musterte den zurückhaltend am Boden liegenden Carsten.
"Dachte, es wäre Absicht.", knurrte er.
Ich hatte eine Scheißangst, vor allem, weil der Mann ein Loch in der Jacke hatte, etwa beim Herzen. Auch seine Haut dahinter hatte ein Loch. Genauso sein Fleisch, sodass man selbst in der düsteren Gasse die Bewegungen seines Herzens sehen konnte. Schließlich drehte er sich um und ging mit seinem Begleiter weg.
Ich wagte es wieder, den angehaltenen Atem auszublasen, und steckte erleichtert mein Messer weg, bevor ich Carsten aufhalf. Sein Gesicht war noch immer von der Angst gezeichnet.
"War das ein...?", fragte er stotternd.
"Ein Wiedergänger, ja.", flüsterte ich ernst.
Carsten sah einen Moment lang die Gasse entlang, dahin, wo die Beiden verschwunden waren. Dann sah er wieder mich an.
"Ein verdammter Zombie!", brüllte er.
Ich legte beruhigend meine Hand auf seine Schulter, und musste trotz allem lächeln, hatten Wiedergänger ja gar nichts mit den Zombies aus Film und Fernsehen gemein.
Bis auf die Sache mit dem 'Untot-sein'.
Weder war es ansteckend noch fraßen sie Gehirne, zumindest nicht, wenn sie es nicht schon zu Lebzeiten taten.
Nachdem die Calagon an die Oberfläche gekommen und sich mit der Menschheit angefreundet hatten, sahen... andere... die, anders als die Calagon, bislang unerkannt unter den Menschen gelebt hatten, ihre Chance. Und traten zaghaft an die Öffentlichkeit. Die Wiedergänger waren die ersten; sie versicherten, dass sie weder Zombies noch Vampire seien. Ihnen folgten die Anthros und wenig später die Schattenläufer; wobei Letztere sich auch knapp sechzig Jahre nach ihrem Gang an die Öffentlichkeit noch in der Dunkelheit versteckten.
Aber es war weder Zeit noch der richtige Ort dafür, solchen Gedanken nachzuhängen.
2 - David
Nachdem ich es geschafft hatte, Carsten wieder zu beruhigen, machten wir uns wieder auf den Weg zu Jared.
Wir verließen die Gasse an einem Wohnblock, überquerten die Straße und betraten das Wohnhaus, in dem Jareds Loft war. Mit dem Lift fuhren wir nach oben, gemeinsam mit einem etwas älteren Calagon. Wir stiegen aus, gingen den kargen Gang entlang zur Tür von Jareds Loft. Carsten klopfte an.
"Du kannst ruhig heimgehen.", schlug er vor.
Ich musste grinsen.
"Keine Chance. Ich lasse dich nicht mitten in der Nacht alleine durch New Angeliz streifen, auch nicht die paar Meter zu unserer Wohnung.", antwortete ich ihm.
"Keine Sorge, wenn du nicht da bist, schlafe ich einfach hier.", grinste Carsten zurück.
Ich konnte nicht umhin, ihn erstaunt, aber grinsend anzusehen. Schließlich wandte ich mich wieder der Tür zu.
"Kein Problem... wenn Jared ein Gästezimmer hätte.", antwortete ich mit einem fast schon fiesen Grinsen.
Schließlich öffnete sich die Tür und ein perfekt gestylter Jared grinste uns an.
"Hey.", flüsterte er. Carsten grinste zurück.
"Hey. Sorry, aber David hat darauf bestanden, mitzukommen.", erklärte er. Ich lächelte schief. Carsten ließ wirklich keine Gelegenheit aus, mich als Spießer zu präsentieren. Hatte ich mir auch selbst zuzuschreiben. Jared zuckte nur mit den Schultern, ehe er uns mit einer Handbewegung hereinbat.
"Kein Problem. Früher bin ich auch immer mitgegangen, wenn mein kleiner Bruder unterwegs war."
Zwar waren Carsten und ich keine Brüder und auch sonst nicht verwandt, aber die Meisten sahen uns trotzdem als Brüder an; auch die, die es besser wussten. Und wir waren ja auch wie Brüder, so wurde uns zumindest gesagt. Ich konnte es nicht beurteilen, ich hatte nie einen Bruder.
Nur Carsten, und selbst ihn erst seit vier Jahren.
Seit den Anschlägen.
Jareds 'Loft' war auch nicht anders als andere Wohnungen, er sah sich selbst nur gern als Künstler... wovon sein unordentliches Wohnzimmer deutlich Zeugnis ablegte. Leere Bilderrahmen und Leinwände lehnten und lagen durcheinander in einer Ecke, Farbkleckse zierten den Boden, die Wände und sogar eines der Fenster.
Der stets perfekt gestylte Jared passte also etwa so gut in seine eigene Wohnung wie ich selbst in eine Gruppe Calagon.
Carsten warf sich wie selbstverständlich auf Jareds Couch, mir bot dieser einen gemütlichen Sessel an, auf den ich mich auch setzte.
"Was zu trinken?", fragte er lächelnd.
"Ein Bier.", bestellte Carsten mit einem schiefen Lächeln. Ich war kurz versucht, zu protestieren. Aber ich hatte in Carstens Alter auch Bier getrunken. Und war auch sonst kein Unschuldsengel gewesen. Genauer gesagt ging die Website 'keinemachtdendrogengegnern.org' auf meine Kappe.
Dachte ich an meine eigene Vergangenheit zurück, war ich geradezu erleichtert, dass sich Carsten auf Alkohol beschränkte.
Ich bestellte eine Cola, die mir Jared dann auch grinsend brachte, während er in der anderen Hand Carstens Bier hielt.
Einige Zeit plauderten wir auch ein wenig, hauptsächlich Carsten und Jared, die nebeneinander auf der Couch saßen und sich auch häufig mit Insidergags zum Lachen brachten, während ich stillschweigend daneben saß, aber ich fühlte mich trotzdem nicht wirklich unwohl.
Schließlich bekam Jared eine SMS. Er las sie und sah mich dann, noch immer lächelnd, an, doch war er eindeutig ein wenig verunsichert.
"Das ist mir jetzt etwas peinlich.", erklärte er mir. "Ich wusste nicht, dass du mit Carsten mitkommst, und habe kurz bevor ihr da wart - quasi als Abendunterhaltung - jemanden herbestellt."
Und schon fühlte ich mich ziemlich unwohl. Ich kannte Carstens und Jareds... Vorlieben; und ich teilte sie ganz und gar nicht.
Aber dennoch zwang ich mich zu einem Lächeln.
"Macht mir nichts aus. Macht es euch auch nichts aus, wenn ich trotzdem hier sitzen bleibe?", fragte ich die Beiden, wobei ich natürlich eher Carstens Meinung wissen wollte.
Die Beiden tauschten einen Blick. Carsten zuckte entspannt mit den Schultern, also schickte Jared eine Rück-SMS.
"Der Aufzug wird gleich oben sein. Ich geh schon einmal zur Tür.", erklärte Jared, während er aufstand.
Ich sah Carsten an. Er zuckte erneut mit den Schultern. Schließlich fragte ich ihn: "Wusstest du, dass heute eine Peepshow stattfindet?"
Er kicherte.
"Nein. Aber es überrascht mich auch nicht sonderlich."
3 - Carsten
Es klopfte an der Tür, und Jared bat herein. Und die Beiden kamen herein, ein Mann und eine Frau, beide trugen Mäntel. Die Frau sah uns der Reihe nach an.
"Du hast doch gesagt, diesmal für zwei Leute?"
Damit war mir klar, dass Jared sie nicht zum Ersten Mal hier hatte. Aber wie ich schon zu David gesagt hatte: Es überraschte mich auch nicht sonderlich.
"Planänderung. Macht euch aber nichts aus, oder?", grinste Jared.
Die Frau sah ihren Partner an. Der lächelte.
"Je mehr, desto lustiger.", kicherte er.
Ich sah David an, der sich, ob nun der ganzen Situation wegen oder schlicht wegen der Bemerkung des Mannes, sehr unwohl zu fühlen schien. Aber er war auch selber schuld - es stand ihm jederzeit frei, den Raum zu verlassen, wir übrigen hätten dann schon unseren Spaß.
Anschließend legten beide ihre Mäntel ab, darunter waren sie kaum bekleidet; genauer gesagt trug die Frau nur einen engen Bikini, der ihren prallen Vorbau kaum bedeckte, und High Heels, aus welchen sie aber gleich herausschlüpfte. Der Mann trug nur Badeshorts, über denen sein Waschbrettbauch gleich besser zur Geltung kam.
Und David schien nicht zu wissen, wo er hinschauen sollte.
Obwohl ich David enorm gern hatte, musste ich deswegen grinsen.
"Unsere Künstlernamen sind Kralle", erklärte die Frau gelangweilt, "und Streifen.", fuhr der Mann grinsend fort.
Kralle zog eine CD aus ihrem Mantel und reichte sie Jared, der sie in seinen Player einlegte und aufdrehte, bevor er sich wieder neben mich setzte, den Blick unentwegt auf Streifen und sein Waschbrett gerichtet. Das fand ich zwar auch... hübsch, aber nicht minder interessant als Kralle und ihren Körper.
Zugleich mit der Musik begannen auch die Beiden ihre Show. Zuerst tanzten sie miteinander, dann küssten sie einander, und untermalt von scharfen Beats warf Kralle ihr Bikinioberteil zur Seite.
Sie tanzten weiter, mal miteinander, dann uns zugewandt, aber wann immer Kralle sich David zuwandte, schoss ihm die Schamesröte ins Gesicht. Und als Streifen sich ihm zuwandte, wandte David sich ganz schnell ab.
Ich und Jared dagegen genossen die Show, und ich hoffte, nicht so bald aufstehen zu müssen; denn obwohl kaum überraschend, wäre mir die deutliche Ausbuchtung in meiner Hose peinlich gewesen, besonders vor David.
Schließlich wurde die Musik schneller und schneller, Kralle und Streifen bewegten sich ebenso schnell wie die Beats, als beiden plötzlich Schwänze aus dem Steißbein wuchsen, Fell auf ihrer ganzen Haut sprießte und beide in Tigergestalt, mit orangenem, schwarz gestreiftem Fell weitermachten.
David, der inzwischen Gefallen an zumindest Kralles Darstellung gefunden zu haben schien, war nun direkt desinteressiert. Kein Wunder. Er hatte keinen Sinn für die Attraktivität verwandelter Anthros. Und, wie ich dank einer kürzlichen 'Entdeckung' auf Davids Computer wusste, schien er überhaupt Pärchen nicht allzu gerne zuzusehen, auch normalen Menschen nicht. Außer, es waren Lesben.
Doch ich genoss weiter die Show. Sowohl das Höschen von Kralle als auch Streifens Shorts schienen nun zu eng zu sein, allgemein wirkten beide nun mindestens einen Kopf größer, Kralles Vorbau schien praller und Streifens Muskeln ausgeprägter zu sein.
Und auch in Streifens Shorts schien sich nun mehr zu befinden.
Bislang hatte ich nur im Internet Anthros zugesehen, aber in echt... war es einfach viel besser. Attraktiver.
Die Musik wurde plötzlich leiser, sanfte Musik, während die Stripper mit den Rändern ihrer Höschen spielten. Dann rissen sie sie herab, und im selben Moment wurde die Musik aus dem Player von einem realistischen Explosionsgeräusch untermalt.
Normalerweise ein toller Effekt, der gut zur verdammten Performance passte.
In diesem Fall zuckte David zusammen, begann zu zittern, und lief schließlich weinend ins Nebenzimmer.
Und ich lief ihm hinterher... nachdem ich noch einen ausgiebigen Blick auf die beiden, nun völlig nackten Stripper warf.
4 - David
Diese verdammten Anthros! Beschissene Stripper!
Mit solchen Gedanken wollte ich mich ablenken, während ich in Jareds Schlafzimmer auf dem Boden hockte. Aber ich dachte ständig an New York zurück.
An die Anschläge.
An jenen Tag im September, an dem ich meine Eltern verlor. Und Carsten seine.
Als die Bomben detonierten.
Ich vergrub mein Gesicht in den Händen, weinend, mich schüttelnd.
Und in meinem Verstand kam alles an die Oberfläche.
Lärm.
Staub.
Schmerz.
Schreie.
Rauch.
Blut.
Totenstille.
Verwesung.
Die Leiche, neben der ich ausharrte, eingeklemmt zwischen den Trümmern.
Die Leiche, die ich unablässig anstarrte, während ich weinte, stundenlang, bis ich keine Tränen mehr zum Vergießen hatte.
Die Leiche, die in den vier Tagen, die ich dort eingeklemmt lag, langsam zu verwesen begann.
Die Leiche, die mein Vater gewesen war.
Die Leiche...
"David?"
Ich blickte auf. Carsten kniete vor mir, legte mir die Hand auf die Schulter. Wieder vergrub ich mein Gesicht in den Händen. Ich war der Ältere, für ihn verantwortlich. Ich hätte der Stärkere sein müssen.
"Schon in Ordnung David. Jared wird die Anthros wegschicken, dann setzen wir uns wieder raus und..."
Und was dann? Würde mein kleiner Adoptivbruder mich trösten?
Ich schüttelte mich in einem weiteren Weinkrampf, zitterte immer mehr.
Carsten setzte sich neben mich, legte mir den Arm um die Schultern. Ich sah ihm ins Gesicht.
Und er lächelte mich an. Ein beruhigendes, ermutigendes Lächeln.
"Du hast ein wunderbares Lächeln, weißt du das?", zwang ich mich, gequält lächelnd zu flüstern.
"Habe ich von dir.", gab er mir zur Antwort. "Erinnerst du dich?", fragte er mich flüsternd, noch immer lächelnd.
Ich erinnerte mich. Wie sich am dritten Tag zwischen Dunkelheit und Verzweiflung etwas bewegte, und zwischen dem Schutt und den Trümmern ein Junge, kaum ein Teenager, hervorkam. Kriechend, dreckig, hungrig, verängstigt. Wie er mich fand, mich fragte, ob ich seine Eltern gesehen hatte.
Und der, als ich verneinte, weinend zu Boden fiel.
Ich redete ihm gut zu, lächelte ihn an, mit einem Lächeln, welches ich nicht von mir erwartet hätte, und als er sich beruhigt hatte, fragte ich ihn nach seinem Namen.
"C-Carsten.", hatte er gestottert.
Stundenlang lenkten wir uns ab, sprachen über alles, was uns einfiel. Verstanden uns gut, obwohl ich fünf Jahre älter war. Lachten sogar ab und zu. Hielten uns gegenseitig wach.
Was gut war, denn meine Organe hatten zu versagen begonnen. Wäre ich da unten eingeschlafen, wäre ich nie mehr aufgewacht.
Ohne ihn wäre ich gestorben, und ohne mich wäre er nach der Bergung in einem Waisenhaus gelandet.
Aber nach anderthalb Tagen, in der wir uns zwischen den Trümmern Trost spendeten, wollte... konnte ich ihn nicht mehr allein lassen.
Und kämpfte über ein Jahr lang mit insgesamt drei Anwälten um die Erziehungsberechtigung.
Bekam sie schließlich, zog mit Carsten nach New Angeliz, schaffte es irgendwie, uns Beiden dort in den folgenden drei Jahren ein Leben aufzubauen.
"Alles in Ordnung?"
Ich blickte erneut auf. Jared stand in der Tür, sah Carsten an, fühlte sich offensichtlich unwohl. Verständlicherweise.
Carsten nickte, und Jared ging wieder ins Wohnzimmer.
"Willst du darüber reden?", fragte Carsten. Ich schüttelte meinen Kopf, wischte die Tränen ab und stand auf.
"Schon wieder gut. Genießen wir die restliche Nacht.", flüsterte ich mit schwacher Stimme und machte einen Schritt zur Tür.
"David."
"Carsten."
Er schüttelte den Kopf.
"Auch wenn du nicht darüber reden willst, kannst du nicht so tun, als wäre nichts."
Ich ließ die Schultern hängen, denn er hatte verdammt nochmal recht. Irgendwie fühlte ich mich plötzlich so alt.
Und mir wurde klar, dass Carsten langsam erwachsen wurde.
Meine Aufgabe war erfüllt.
5 - Carsten
David wollte immer stark sein. Damit... ich einen Anker hatte? Einen Beschützer?
Doch war das nicht die erste Nacht, in der ich ihn weinen sah. Bislang hatte er es nur nie bemerkt.
Bislang hatte ich nur nie den Mut, ihm Trost zu spenden.
Aber in jener Nacht war es meine verdammte Schuld. Ich hätte David sagen können, dass es mir lieber wäre, wenn er während der 'Abendunterhaltung' im Nebenzimmer wartet. Hätte Jared sagen können, dass er die Stripper wegschicken sollte.
Hätte ich das getan, wäre alles anders gekommen? Hätte David mich vielleicht nicht schon als erwachsen angesehen?
Er versicherte mir, dass es ihm wieder gut ginge. Also gingen wir wieder zu Jared ins Wohnzimmer, aber David wurde immer blasser, seine Bewegungen immer steifer.
Ich dachte, ihn würden noch immer die Erinnerungen plagen.
Aber etwas ganz anderes plagte ihn.
Eine Stunde lang hatten wir noch eine halbwegs schöne Zeit, ehe David langsam und ungelenk aufstand... als wären seine Arme und Beine eingeschlafen. Er sah mir tief in die Augen, und mit erstickter Stimme flüsterte er: "Du bist fast erwachsen. Und reifer, als ich in deinem Alter war."
Tränen liefen über sein Gesicht, und ich stand auf, um ihn nach Hause zu bringen, ihn zu trösten, doch er wich von mir zurück.
Dann wandte er sich Jared zu.
"Du magst Carsten?", fragte er, auch wenn es mehr wie eine Feststellung klang.
Jared nickte, unsicher, wie er sich verhalten sollte. Und David lächelte.
"Dann hast du jetzt jemand anderen, der auf dich aufpasst.", flüsterte er.
Ich machte einen Schritt auf ihn zu, stand direkt vor ihm, wollte nicht glauben, was ich da hörte.
"Willst du mich allein lassen? Willst du davonlaufen? Wovor?", fragte ich ihn, ehe meine Stimme langsam versagte.
Und David schüttelte lächelnd, mit von Tränen glänzenden Wangen, den Kopf.
"Ich laufe nicht davon.", flüsterte er. "Weißt du, was der Unterschied zwischen den klassischen Zombies und Wiedergängern ist?"
Verwirrt schüttelte ich den Kopf, verstand nicht, worauf er hinauswollte.
"Wiedergänger kehren ins Leben zurück, weil sie noch etwas tun wollen. Noch eine Sache erledigen... eine Aufgabe erfüllen müssen.", erklärte er mit einem traurigen Lächeln.
Noch immer verstand ich nicht, Jared dagegen sprang von der Couch auf und trat an meine Seite. Er verstand.
"Der Wille, diese Aufgabe noch zu erfüllen, lässt die Wiedergänger zurückkommen. Noch im Augenblick ihres Todes.", flüsterte David. "Meine Aufgabe war es, in den letzten vier Jahre auf dich aufzupassen, Carsten."
Tränen liefen über sein Gesicht, gleichermaßen auch über meines. Ich schüttelte den Kopf, packte Davids Schulter, stotterte Wortfetzen, unzusammenhängendes Bitten und Flehen, dass er mich nicht verlassen soll.
"Nach anderthalb Tagen, in denen wir uns Trost spendeten, konnte ich dich nicht mehr allein lassen. Ich wollte auf dich aufpassen." Jared zog an mir, er wollte mich von David wegbringen, denn er wusste, was passierte, wenn ein Wiedergänger seine Aufgabe erfüllt hatte.
"Und als die Rettungsmannschaften die Trümmer hochhievten, die mich einklemmten, starb ich. Mein Körper war zerquetscht, das Entfernen der Trümmer tötete mich." Davids Haut wurde grau und rissig.
Ich weinte, schrie, stieß Jared weg, der mich fortziehen wollte.
"Mein Wille, auf dich aufzupassen... brachte mich zurück. Ich wünschte, ich könnte bei dir bleiben, sehen, was aus dir wird." Er warf einen Seitenblick auf Jared. "Aus euch."
Ich weinte, langsam zog Jared mich zurück, von David weg. In dessen Augen standen Traurigkeit und Angst neben Ermutigung und Stolz.
"Bitte.", flüsterte ich noch ein letztes Mal.
"Meine Aufgabe ist erfüllt.", presste er weinend hervor.
Dann wurde sein Gesicht grau, seine Haut zerfiel, und er wurde zu Staub, der zwischen seiner Kleidung auf dem Boden zurückblieb.
Und ich fiel weinend auf die Knie.
6 - Carsten
Es war vorbei. Ich stand am Fenster und ließ meinen Blick schweifen. Langsam brach die Morgendämmerung an. Zum ersten mal seit Jahren ohne David. Ich konnte es noch immer nicht glauben. Nichts davon.
David war ein Wiedergänger.
David starb vier Jahre zuvor.
David lebte noch vier Jahre alleine für mich.
David starb in dieser Nacht zum zweiten Mal, zum letzten Mal.
Endgültig.
Und ich war jetzt alleine.
Nicht ganz, Jared hatte mir sofort angeboten, bei ihm zu bleiben. Er konnte einen Mitbewohner brauchen. Außerdem wollte er mich nicht alleine in Davids Wohnung gehen lassen, noch nicht.
Und ich war dankbar dafür, denn das hätte ich einfach nicht geschafft.
Unten auf der Straße gingen einige Calagon vorbei, ein paar Menschen, auch ein Anthro in Panthergestalt.
Was zur Hölle sollte ich machen?
David meinte, ich sei nun erwachsen. Reifer als er damals war.
Letzteres stand außer Frage, aber ich war nicht bereit dafür, ganz alleine klar zu kommen.
Nun, nicht ganz allein, ich hatte Jared. Seit zwei Jahren waren wir befreundet.
Aber er konnte meinen Bruder nicht ersetzen. Auch wenn David andere Eltern gehabt hatte, war er trotzdem mein Bruder. Mein Vater. Mein bester Freund.
Aber er war... weg.
"Wie geht's dir?"
Jared stand hinter mir. Eine etwas dämliche Frage. Wie sollte es mir schon gehen? Ich hatte drei Stunden zuvor David zu Staub werden sehen.
Schließlich zuckte ich mit den Schultern. De einzige Antwort, die ich geben konnte.
"Ich... weiß, das ist nicht leicht, und ich kann mir kaum vorstellen... wie's dir geht." Ich schnaubte, während erneut Tränen über meine Wangen kullerten; dabei hatte ich eigentlich gedacht, ich könnte schon gar nicht mehr weinen.
Jared atmete tief ein und flüsterte: "Nur deinetwegen hatte er noch vier Jahre. Er hat für dich noch vier Jahre gelebt."
"Ich weiß.", schnauzte ich zurück, bereute es aber gleich wieder. "Jared..."
Er legte mir die Hand auf die Schulter. "Wenn du soweit bist, kannst du mit mir reden."
"Ich weiß.", flüsterte ich mit schwacher Stimme.
Jared ging ins Schlafzimmer, holte ein Kissen und Decken, um auf der Couch zu schlafen. Er überließ mir sein Bett. Langsam ging ich in sein Schlafzimmer, zog mich aus, legte mich in sein Bett und schloss meine Augen, entgegen aller Erwartung schlief ich schnell ein.
Der große Mann stand mit dem Rücken zu mir. Ich lag nackt auf kaltem Steinboden. "Wo bin ich?", fragten meine Lippen. Meine Hände stützten sich auf, setzten mich auf. Ich hatte keinen Einfluss auf meine Bewegungen. Der Mann knurrte kurz.
"Wo jeder von uns hinkommt.", flüsterte er.
Ich dachte, er spräche vom Jenseits, doch meine Lippen schienen an etwas anderes zu denken, denn sie fragten: "Jeder Wiedergänger?"
Aber ich war doch kein Wiedergänger...
Der Mann nickte, während er sich umdrehte. Und ich erkannte ihn. Die blasse Haut, das Loch in der Brust. Instinktiv wich ich zurück... hatte ich nun doch Kontrolle über meinen Körper?
"Keine Angst.", knurrte er. "Keiner hier wird dir etwas tun. Wir brauchen dich noch, dich und jeden anderen Wiedergänger, der seine Aufgabe erfüllt hat."
Ich musterte ihn verwirrt. Meine Lippen sprachen: "Wofür brauchen Sie mich?"
Er grinste, ein dreckiges, bedrohliches Grinsen.
"Für die Menschheit. Weil die Menschheit eine neue Art von... Schutzengeln braucht, David."
Schweißgebadet schreckte ich aus dem Schlaf hoch.
Es war nicht vorbei, es hatte erst begonnen.
Für uns Beide.