Unausweichlich - Sonnengestalt
Die Sonne im dreckigsten Herzen Frankfurts verschwand schon allmählich unausweichlich hinter den Blocks, wie so oft dieser lauen Herbsttage. Die blutrot gefärbte Skyline, die breiten Straßen bedeckt mit feurig-flammendem Laub. Eine Main-Metropole erstrahlt in den idyllisch-warmen Farbtönen, die so hart mit dem kühlen Glas und Stahl ihrer Hochhäuser kontrastieren.
Unweit der Börse, der Anzugträger – und ebenfalls unweit des Rotlichts, der Kriminellen und Prostituierten. Inmitten des Frankfurter Molochs, wo unschuldige Seelen verloren gehen. Im Bermuda-Dreieck der Unbefleckten, im Heizkessel zwischen allen sieben Todsünden lokalisiert: Ein Spielplatz.
Genauer gesagt: Die traurige Karikatur von dem, was mal ein Spielplatz gewesen sein musste. Insgesamt wenig liebevoll angelegt. Von kaltem Stahl statt saftigen Bäumen umzäunt. Statt wildem Rasen mit allerhand bunter Wildblumen finden sich nur Grasreste, Kippenstummel und Sand, der mit Glassplittern verziert ist. Statt verschiedenen Spielgeräten gibt es nur eine kaputte Schaukel, eine besprühte Rutsche, die in der Mitte durchzubrechen droht. Mittig eine stark verwitterte, beklebte und bekritzelte Bank, die mittlerweile Zentrum des verwahrlosten Ortes gewesen ist. An einer Stelle in unmittelbarer Zaunnähe, die einst der Sandkasten gewesen sein musste, ist jetzt ein kleiner verstreuter Haufen Sand, der gefüllt ist mit benutztem Spritzbesteck, Zigaretten, Exkrementen und Kondomen. Statt unbeschwerten Kindern tummeln sich hier nur Drogenabhängige, Kleinkriminelle, Prostituierte und solche hoffnungslose Jugendliche, die schließlich auch so enden werden. Unausweichlich.
Irgendwo ein Kinderlachen. Nur von kurzer Dauer. Ganz leise, fast schüchtern, zurückhaltend. Und schon wieder verstummt.
Die versifften und gescheiterten Existenzen am Abgrund schreckten ob dieses göttlichen Klingelns auf, sie hoben ihre Köpfe, die gerade mitten im Genuss, in Gesprächen und Geschäften vertieft waren, blitzschnell – wie Geier, die etwas noch Lebendiges, doch ihre baldige Aas-Mahlzeit bemerken. Nach dem Ende des Engelslachens war die Situation vollkommen verdreht: Alle waren sich ihrer sinnhaften Wahrnehmung bewusst, doch schien für alle das eben gehörte auch ausgesprochen surreal. Sie schauten sich noch kurz um, doch natürlich fanden sie nichts, was dem glücklichen Glucksen äußerlich entsprach. Ihr Blick war getrübt von der Hoffnungslosigkeit des Lebens.
Doch mitten auf dem kleinen Sandhäufchen saß der kleine Engel: Ein vielleicht 6-, vielleicht 7-jähriges Mädchen, gekleidet in ein Kleidchen aus weißem Leinen, barfuß, barhäuptig, mit blondem, geflochtenen Haar und von der Natur geröteten Wangen. Ihr war es irgendwie gelungen, in diesem Dreck ein einziges, kleines, verkümmertes Gänseblümchen aufzufinden. Es war beinahe welk – die weißen Blütenblätter vergilbt, das Blütengelb nur noch zur Hälfte vorhanden, der Stiel geknickt – als sie es mit einer Leichtigkeit von den schwachen Wurzeln im Drecksand abriss. Es war eine unausweichlich verlorene Existenz, ein Spiegel für die Anwesenden im Spielplatz ‚Bellevue‘.
Das Engelchen nahm diese hoffnungslose Blume in ihre kleinen Hände, stanzte mit dem Fingernagel ihres rechten Daumens einen Spalt in den Stiel. Und das Gänseblümchen blutete. Sie schlängelte ein weiteres bereits totes Gänseblümchen in das dadurch entstandene Öhr. Das zweite Exemplar war ebenfalls welk, bereits leicht eingetrocknet, es hing in einem anderen, welches wiederum in einem anderen, welches wiederum in einem, welches wiederum in … Sie hatte ein Band aus Gänseblümchen gebastelt, stieß erneut ein Loch in das Blümchen am anderen Ende und verknüpfte so beide Enden zu einem Kranz der Unschuld, bestehend aus unausweichlich trauernden, leidenden, sterbenden Gänseblümchen. Sie nahm das zerbrechliche Konstrukt vorsichtig jeweils zwischen ihre kleinen Zeigefinger und Daumen, reckte die Ärmchen zu ihrem Haupt – und krönte sich selbst vorsichtig in Anwesenheit der Verlorenen Bürger Frankfurts.
Als der Kranz ihr feingold-schimmerndes Haar berührte und sich perfekt um ihren Schädel legte, schien das blutrote Licht der Abenddämmerung auf ihr froh-feierliches, aber ernst dreinblickendes Gesicht. Es schien, als begreife sie die Bedeutung dieses Moments mit ihrem jungen Verstand nur zu gut. Das sie erhellende Leuchten und die prickelnde Wärme der Sonnenstrahlen auf ihrem Gesicht brachten sie erst zum Schmunzeln und schließlich musste sie kurz kichern, weil sie im Gesicht die Sonne spürte während sie an den im Schatten liegenden Armen Gänsehaut vor Kälte hatte. Sie dachte „Diese Welt ist makaber“, und lachte mehr in sich hinein als heraus. Doch genügten diese engelsgleichen Laute, die Frohsinn versprachen, um die Aufmerksamkeit der dunklen Gestalten auf dem Spielplatz auf sich zu ziehen.
Sie beide – der Engel und die grauen Gefallenen – erkannten ihre fundamentale Andersartigkeit sofort. Während die Verbrauchten sich mit ihrem Oberkörper zum Kindlein drehten, sich zu ihm beugten, einige kleine Schritte in ihre Richtung vornahmen – erhob sie sich, mit der Anmut einer blaublütigen Herrscherin, langsam von ihrem Sandhaufen. Die Sonnenstrahlen erhellten und –wärmten nun ihr ganzes Gesicht, ihre grünen Augen leuchteten Feuerrot, es schien, als würde ihre Seele in Flammen stehen. Ein besonders abgewracktes Exemplar der Gattung Mensch – sein Gesicht aschgrau, kaum Leben sprach aus seinen Augen, das Gesicht zur Hälfte unter einer viel zu großen, schwarz ausgewaschenen, mit Flicken übersäten Kapuze verborgen – ging mutig auf sie zu; er hatte nichts mehr zu verlieren. Zwei, drei Schritte entfernt von ihr blieb er stehen. Man merkte förmlich, wie die ganzen zu Tode Verurteilten ihre Luft vor Spannung anhielten.
Das Engelchen richtete sich noch ein bisschen gerader auf, hob das Kinn ein wenig an – wie majestätisch dieser kleine Mensch doch wirkte. Sie drehte sich auf dem Fuße um, ging langsam elegant, fast hüpfend, wippend dem Tor entgegen. Sie öffnete und schloss selbiges mit einer feinen Bewegung ihrer Hand, schlüpfte hindurch und ließ die grau-tote Menschenmasse unausweichlich alleine in ihrem Drecksloch zurück. Sie schritt den asphaltierten, kaugummiversehrten Bürgersteig voller Zigarettenreste, Kronkorken und Glasscherben entlang, vorbei an überfüllten öffentlichen Mülleimern, Glas- und Altkleidercontainern, unter S-Bahn-Unterführungen hindurch, dann unter einer wild plakatierten Autobahnbrücke hindurch, unter der es nach Marihuana, Zigaretten und Alkohol stank; schließlich einen leichten Hügel hinauf, der Sonne schritt sie gemächlich entgegen, Schritt für Schritt eroberten sie sich die Sonnenstrahlen die Dominanz über ihren reinen, kleinen Körper inmitten dieses Dickichts aus Schatten zurück. Unter ihr eröffnete sich ein lichtgeflutetes Tal, welches sie ruhigen Schrittes hinabschritt, sie schwebte beinahe, so gottgleich war ihre Erscheinung. Beobachtete man ihr Schreiten, so schien es, als wagte sie es, ausgestattet mit ihrem Gänseblümchenkranz, einen neuen Weg auf der Sonnenseite Frankfurts einzuschlagen.
Man würde ihre Sonnengestalt über Frankfurt hinaus – unausweichlich – noch in Zukunft als Licht am Ende des Tunnels wahrnehmen.