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Un travail de toute une vie
Lebenswerk
Schwarz rinnen Wasser und Kohle an meinem Körper hinab, lassen weiche Haut zurück. Nasse Haare kleben in meinem Gesicht, ruhige Erschöpfung erkenne ich beim flüchtigen Anblick meiner Reflektion in einem dunklen Fenster. Ob du wieder kommst? Werden es auch deine Berührungen sein, die hinter Kohle mich längst zu entdecken versuchten?
Schweigend setzt du dich auf den kleinen Hocker. Nicht ein Wort aus deinem Mund, nur eines in deinen Augen, eines, das ich nicht verstehe. Ich tue, was ich kann, was ich denke zu können. Ein erster Strich auf weißem Papier. Du hältst ganz still, kaum merkbar ist deine einzige Bewegung, das langsame Heben und Senken deines Brustkorbs. Ideale Bedingungen. Zu viele können nicht still halten, sind ständig von neuen Dingen abgelenkt oder suchen wieder und wieder nach einer neuen Position; der vorteilhaftesten für mein Urteil über sie. Nicht du. Du bist ruhig, bleibst still. Wir schweigen gemeinsam. Unendlich laut wird plötzlich das Geräusch von Kohle auf Papier. Ausgeblendet ist alles um uns herum. Das Lärmen auf dem belebten Platz, es wird zur stillen Kulisse meiner schwierigen Aufgabe.
Unlösbar.
Unlösbar heute.
Mit leeren Händen gehst du. Ebenso kommst du zurück. Habe ich dich erwartet? Keine Frage von dir. Du setzt dich und es wird still. Nicht in mir.
Wer bist du? Ich frage nicht, frage nie, sehe die Menschen auf dem Papier. Ein Abbild der Seelenhüllen, das Werk meiner Hände, die Früchte ihrer Geschichte. Sie, die zu mir kommen, sie erhalten ein stilles Dokument einer Begegnung. Das Band, das sich dafür zwischen uns knüpft, es wird nach nicht mal einer Stunde wieder gelöst. Was sie nicht wissen: sie tragen mich in tausend Fragmenten in ihr Leben, müssen zum Tausch eines bei mir lassen. Würdest auch du ein Fragment von mir in flüsternden Männerhänden zu dir Nachhause tragen? Es mit muskulösen Fingern berühren?
Auch heute nicht.
Lange sitze ich, schaue zwei Bögen Papier an, deren dunkle Striche und Flächen nichts weiter sind als das. Die Nacht brennt in meinen Augen, die versuchen, dich zu sehen. Umgeben von Menschen auf Papier, bist du der einzige, der da ist.
Wo bist du? Warum kommst du nicht mehr?
Tagelanges Warten auf Stille. Zwischen schwarzer Kohle plötzlich nur noch weiße Flächen. Dazwischen ich.
Abende vor dem Spiegel. Tausend Gesichter darin. Das quirlige Mädchen mit den roten Locken und den vielen Sommersprossen, der stolze Großvater mit seinem kleinen Enkel auf dem Schoß, die ängstliche Frau, die um ihre Schönheit nicht weiß, der junge Mann, der sich nur auf Bitten seiner Freundin zeichnen lässt, das Ehepaar, welches durch die lange Krankheit der Frau gezeichnet, sich die ganze Zeit hindurch mit innigem Verständnis und der Sicherheit derer, die nichts zu verlieren fürchten, glücklich anschaut. Gesichter werden zu Geschichten, tausendfach in meinem Spiegel, dessen Bild ich auf der Suche nach dir betrachte.
Du kommst wieder. Weitere drei Tage. Auch nach fünf Versuchen muss ich dich gehen lassen, ohne in der Lage zu sein, dir etwas mitgeben zu können; meine ich.
Wo gehst du hin? Du, dessen Zuhause in dir selbst zu sein scheint?
Du wirst heute nicht kommen. Darum wohl wissend, bleibe ich bei mir. Umgeben von fünf Blättern mit Strichen und Flächen schaue ich wieder in den Spiegel. Das helle Zimmer wird zum lärmenden Platz, die Zimmerwand hinter mir zur Mauer der Kathedrale, vor der ich mein Leben male.
Wer bist du, Wesensmensch?
Was willst du? Warum quälst du mich?
Wut, klebrig-rot breitet sie sich in mir aus, ergreift innerhalb von Sekunden langsam Besitz von mir. Ich zerreiße alle Bögen Papier, zerstöre die Versuche, dich zu greifen. Meine Finger färben sich schwarz. Rasend hänge ich die Menschen ab, will alleine sein. Leere. Ich brauche leere Wände. Mit meinen Fingern hinterlasse ich Spuren an ihnen, Spuren von mir. Ich will den Spiegel zerschlagen, will mit blutenden Scherben die tausend Gesichter auslöschen – und kann es nicht.
Enge. Plötzlich ist alles zu eng. Meine Kleidung und meine Haut sind zu klein. Ich reiße Kleidungsstück um Kleidungsstück von meinem Leib, stehe vollkommen nackt in meiner vor Spannung schmerzenden Haut dem Spiegel gegenüber. Mit kohleschwarzen Fingern fahre ich über meinen Bauch, spüre meinen Rippenbogen, berühre meinen Bauchnabel und meine Hüften. Im Spiegel sehe ich einen dunklen Strich. Wie der erste Strich, der erste, aus dem ein Portrait erwächst. Ich stehe plötzlich wie gelähmt, betrachte regungslos die Linie quer über meine Körpermitte. Sie gehört dort nicht hin. Ich versuche den klaffenden Strich, der mir mit einem Mal wie eine Kriegsbemalung erscheint, zu entfernen. Zwecklos. Schmutzig-grau wird stattdessen mein Bauch. In mir beginnt sich wieder etwas aufzubäumen, hinter gespannter Haut gierig und wild zu brüllen. Erneute Berührung, ein zweiter erster Strich, doch dieses Mal keine Pause. Ich schwärze meine Finger mit Kohle, immer und immer wieder, berühre meine Leinwand und male das Bild im Spiegel. Lange gebe ich mich mir hin. Dies ist keine Verbindung für ein flüchtiges Portrait. Dies ist mein Lebenswerk.