(Un)glaubliche Geschichte
(Un)glaubliche Geschichte
Ein Paar Schuhe als Spiegelbild der Seele – können Sie sich so was ernstlich vorstellen? Ich persönlich habe schon das Eine erlebt und man hat mir schon das Andere erzählt und sicher war auch da auch recht Seltsames dabei, insofern bin ich natürlich recht aufgeschlossen, was das betrifft.
Aber ein Paar Schuhe? Ich bitte Sie, können Sie sich so was wirklich vorstellen? Ein Paar Schuhe, und überfordert das jetzt unsere Phantasie auch nur ein ganz klein wenig?
Ich ahnte ganz konkret, dass es bei Häusern so war und ich erlebte es ganz speziell bei einer Schule. Aber Häuser und Schulen waren doch schon mal ganz was anderes als ein Paar Schuhe, mal ehrlich.
In der kleinen Stadt, in der ich vor einer Ewigkeit aufwuchs, gab es diese Schule – alt, ehrwürdig und gediegen. Dann gab es wohl Anfang der 90iger ein paar geburtenarme Jahre, und später, Ende der 90iger, das Jahr, in dem meine alte, ehrwürdige und gediegene Schule geschlossen wurde. Das, so sagten die Stadtoberen damals, wäre die logische Konsequenz aus den geburtenschwachen Jahren Anfang der 90iger.
Die Bevölkerung meiner kleinen Stadt wollte das nur zu gerne glauben, denn der wahre Grund für die Schließung war ein Tabu. Die Wahrheit hat es schließlich immer recht schwer in kleinen Städten, wo alles so ist, wie es immer schon war und auch ewig so sein wird. Das die Schließung der Schule die logische Konsequenz aus ganz was anderem war, verschwiegen die Oberen der Stadt beflissen.
Doch dies ist eine andere Geschichte und soll an anderer Stelle erzählt werden.
Alles, was ich Ihnen im Grunde erklären will, ist meine Überzeugung, dass man Häusern und so auch Schulen anmerkt, wenn sie ihre Seele verlieren.
Bei meiner Schule war das ganz offenkundig – Ende der 90iger.
Es war ein wirklich schöner Bau, da am Rande der kleinen Stadt, nahe des kleinen Waldes. Ein wirklich schöner Bau, und fragen Sie mich bitte nicht, ob es Jugendstil oder Barock oder was weiß ich noch war, mit Kunst kenne ich mich, was das betrifft, wirklich nicht aus. Das Gebäude jedenfalls war alt und hätte bestimmt noch jeden Preis gewonnen, hätte es Preise für alte Schulen gegeben.
Das Geld in den Kassen der kleinen Stadt aber war schon immer recht knapp und so blieb auch das Gebäude meiner ehemaligen Schule in all den Jahren von großen Sanierungsmaßnahmen verschont. Trotzdem blieb es immer ehrwürdig und gediegen und es strahlte die Autorität aus, die einem alten Schulgebäude würdig war.
Damit war es dann jedoch ganz schnell vorbei. Schon kurz nach der Schließung – der letzte Schüler hatte gerade noch eben den letzten Ranzen zusammengeschnürt und war verschwunden – wich jegliche Autorität dem Verfall. Zwei Wochen nach dem letzten Pausenklingeln waren die Fenster zertrümmert und nach gut einem Monat senkte sich das Dach. Die Schindeln fielen, während der kleine Wald nach den Resten dessen fingerte, was noch vor Wochen ein Basketballplatz war. Putz bröckelte von den Wänden, während altes Laub durch den Speisesaal trieb, wo noch vor nicht all zu langer Zeit Besteck schepperte und Graupensuppe die Gaumen des einen oder anderen Schüler malträtierte.
Nach einem halben Jahr schließlich war aus der alten, ehrwürdigen und gediegenen Schule eine Ruine geworden, in die sich bestenfalls noch die Ratten verirrten (neben dem, was in Wahrheit dort war, natürlich). Das Haus hatte seine Seele mit dem letzten Pausenklingeln und dem letzten Pennäler verloren. Das Leben und jegliche Existenzberechtigung waren aus den Mauern gewichen und durch altes Laub ersetzt worden. Die Zeit war eindeutig abgelaufen.
Irgendwer hat mir dann damals gesagt, dass Gebäude mit dem in ihnen befindlichen Leben lebten und bei dessen Verlust einfach starben. Die Schule schien als Beweis für diese These durchzugehen. Sie war gestorben – der Unterricht war aus.
Aber ein Paar Schuhe? Das hätte ich nun wirklich nicht geglaubt. Sie vielleicht?
Dann jedoch kam der Tag, an dem mir eine alte Freundin von ihrem alten Freund erzählte. Sie berichtete von diesem alten Freund, den ich, worauf sie steif und fest beharrte, auch kennen müsse. Insofern wäre es, erörterte sie weiter, unser gemeinsamer alter Freund und von daher solle ich, wie sie logisch schlussfolgerte, die unglaubliche Geschichte hören, von ihm, den zwei Terminen und vor allem den Schuhen.
Jetzt erzähle ich sie Ihnen. Was soll ich auch sonst mit ihr tun. Geteiltes Leid ist, wie man gemeinhin so sagt, halbes Leid. Vielleicht war genau das der Grund, warum meine alte Freundin damals damit anfing. Nun also hören Sie gut zu, denn jetzt kommt das eigentlich Unglaubliche...
„Mann, die Schuhe, die er trug, waren echt faszinierend“, erzählte mir meine alte Freundin. „Ich lege, und du kennst mich nun schon seit Jahren, auf solche Sachen eigentlich keinen Wert. Aber seine Schuhe stachen mir wirklich ins Auge.“ Und nachdem ich sie fragte, was denn an diesen Schuhen so überaus faszinierend war, sah sie mich einfach nur an und meinte: „Ich kann es dir wirklich nicht sagen, aber ich glaube, sie standen für ihn und den Glauben an das Gute, was ihm seiner Meinung nach zustand.“
Wahrscheinlich hätte mich das an sich noch nicht weiter interessiert – Verrückte gab es überall – , doch dann fragte sie unverhohlen: „Glaubst du, dass es möglich ist, dass die Seele eines Menschen in seine Schuhe wandert?“
Sie finden so eine Frage vielleicht recht absonderlich und ich versichere Ihnen, ich hätte es Ihnen gleich getan, damals, als mir meine alte Freundin diese Frage stellte. Aber ich wusste mit dieser Frage, wovon sie sprach und plötzlich wusste ich auch, von wem sie sprach, denn ich hatte ihn gesehen, oder besser, seine Schuhe. Ich wusste auch, wie es schließlich endete und das war und ist mit Sicherheit kein Vergnügen. Im Nachhinein betrachtet hatte ich mir damals, glaube ich, die selbe Frage gestellt. Doch gemeinhin sollten solche verrückten Dinge an einem vorbeigehen, und genau das war das Rezept, nach dem ich kochte. Wäre nicht meine alte Freundin aufgetaucht und hätte sie nicht die Sache mit den Schuhen aufgewärmt, so hätte ich sicherlich die Suppe längst geschluckt, die mir die Begegnung mit den Schuhen serviert hatte.
Mein Gott, was hatte der Mann für Schuhe! Er war ein entfernter Bekannter, vielleicht auch ein Buddelkastenkumpan und natürlich waren wir drei, vier Jahre in die selbe Klasse gegangen, in der alten, ehrwürdigen und gediegenen Schule, die jetzt nur noch Ruine war und von allen gemieden und vergessen wurde.
Ich erkannte ihn nicht gleich, denn er selbst hatte mich noch nie weiter interessiert. Seine Schuhe aber waren das, was mich nun wirklich interessierte, als ich sie sah. Na ja, er selbst war mir, ehrlich gesagt, mit einem mal auch nicht mehr ganz so egal.
Heute würde ich sagen, die Schuhe strahlten und sie strahlten mit ihm um die Wette. Und wenn er mir plötzlich nicht mehr egal war, dann lag das höchstwahrscheinlich daran, dass ich ihn unwahrscheinlich beneidete. Sie fragen sich vielleicht: Wie kann er nur? Ich aber antworte Ihnen: Hätten Sie seine Schuhe gesehen, wüssten Sie, wie es mir erging. Es war einfacher, ungetrübter, kristallklarer Neid, der wie etwas wirklich Bitteres durch mich hindurchzog.
Ich fuhr gerade durch Serkowitz, einem kleinen Ortsteil unserer kleinen Stadt, und in dieser hundsgemeinen 30iger Zone, wo sie immer stehen und verdammt oft blitzen, drosselte ich routinemäßig die Geschwindigkeit. Sicher kam ich wiedereinmal aus Dresden und sicher hatte ich den Wagen voll mit Zeug von H&M und vielleicht auch einem Mittagsmahl von MCD. Aus dem Radio kam sicher wieder der Schrott, der immer dort rauskam, und plötzlich erblickte ich den Mann links am Straßenrand.
Ich hielt gerade Ausschau, ob irgendwo ein Blitzer stand und während ich das tat, sah ich nach links und überlegte, dass ich vielleicht einmal weniger bei MCD und dafür einmal mehr in den Serkowitzer Gasthof einkehren sollte, denn dort war ich, überlegte ich weiter, schon recht lange nicht mehr gewesen. Wie man an den davor stehenden Autos – es war übrigens kein Blitzer dabei – unschwer erkennen konnte, lief der Laden gut.
Mitten in diese Erkenntnisse platzte dann die Erscheinung.
Ich nahm noch das parkende, rote Auto wahr, aus dem sich gerade der Mann herausschälte. Ich sah noch seine strahlenden Augen und dieses souveräne Lächeln, und ich dachte noch, man, dachte ich, wer so lächelt, hat es geschafft. Ich sah den perfekt sitzenden, dunkelgrünen Anzug und die Krawatte. Ich sah den Autoschlüssel in seiner Hand und komischerweise auch die silberne Uhr an seinem Handgelenk. Und dann sah ich – warum auch immer – nach unten und erblickte seine Schuhe. Ich schwöre es Ihnen, genau in diesem Moment riss die Wolkendecke auf und die Sonne brach grell leuchtend hervor, obwohl es den ganzen Tag über verflucht grau ausgesehen hatte, hier in der Gegend. Damals jedoch schien das die logischste Sache der Welt zu sein. Der Mann, den ich nun erkannte, musste einfach unter der Sonne gehen. Wenn ein Mann solche Schuhe trug, dann konnte es unmöglich grau sein, wenn er das Haus oder sein Auto verließ.
Da hatte er den ersten Termin gerade hinter sich gebracht.
Die Schuhe selbst waren lackschwarz und wirkten – tja, wie soll ich es Ihnen beschreiben – einfach fest. Ja, ich glaube, „fest“ ist der Ausdruck, der es am besten trifft. Vielleicht könnte man auch sagen: Die Schuhe wirkten unzerstörbar. Vielleicht!
Unter Umständen könnte ich das noch besser schildern, aber im selben Augenblick, da ich sie ein zweites Mal betrachten wollte, reflektierte sich die Sonne in ihnen und ein heller Lichtblitz blendete meine Augen. Ich nehme mal ganz stark an, dass es sich so erklären lässt. Seit jener Zeit rede ich es mir ein und irgendwann glaubt man seinem Selbstbetrug, insofern funktioniert diese Praxis ganz gut. Damals aber – Sie können jetzt gerne darüber lachen, denn inzwischen kann ich das glücklicherweise auch – meinte ich wirklich, die Schuhe hätte mich von sich aus angeleuchtet. Verrückt, oder?
Kurz darauf ließ ich den Mann im dunkelgrünen Anzug, sein Lächeln und Strahlen und schließlich seine blitzenden Schuhe hinter mir. Kleine tanzende Lichtpunkte vor den Augen waren alles, was von meiner Begegnung übriggeblieben war, dann verschwanden auch sie.
Ein paar Wochen später traf ich ihn wieder, und ich habe sogar gegrüßt. Er zwinkerte mir lächelnd zu und war an mir vorbei. Das Gefühl des Neides blieb diesmal aus und ich nehme stark an, dass es unmittelbar damit zusammenhing, dass er Turnschuhe trug und nicht seine verdammt faszinierenden Wunderschuhe. Trotzdem wirkte er, ähnlich wie diese Schuhe, fest und vielleicht sogar unzerstörbar.
Da hatte er also seinen zweiten Termin noch vor sich.
Es war das letzte Mal, dass ich ihn lächelnd sah, das hatte ich damals nicht gewusst.
Meine alte Freundin erzählte mir später von den beiden Terminen und berichtete mir auch, dass sie ihn noch häufiger gesehen hatte, zwischen Termin eins und Termin zwei, immer in Turnschuhen, nie in seinen Wunderschuhen, aber immer lächelnd, souverän und fest.
Als ich ihn wiedertraf, lächelte er nicht mehr, er ging gebeugt und seine Augen blickten stumpf und matt. Es goss wie aus Kannen aus einem grauen Himmel und hinter den Weinbergen, die unsere kleine Stadt säumen, grummelte es bedrohlich und finster.
Er trug diese Schuhe, die nun jedoch nicht mehr viel wundersames ausstrahlten. Sie und er waren nur noch ein Schatten dessen, was ich einst in gleißender Sonne gesehen hatte. Ich hätte ihn fast nicht mehr erkannt, und ich wollte nicht glauben, dass es dieselben Schuhe waren, die mich noch vor wenigen Wochen geblendet hatten.
Das Leder war stumpf, grau und abgewetzt. Die Sohlen brüchig, die Schnürsenkel mehrfach gerissen und provisorisch zusammengeknüpft. Alte Schuhe, deren Zeit abgelaufen war. Er selbst trug eine fleckige Jeans und ein ausgewaschenes, schwarzes T-Shirt. Seine Haut war bleich und das Grau des Himmels hatte sich als Schatten unter seine Augen gemahlt.
Ich war schockiert, als er mir müde zunickte. Entsetzt, während ich ihm nachblickte, wie er im Regen verschwand. Hatte ich wirklich jemals Neid empfunden beim Anblick dieses alten Bekannten? Ich hatte, prickelnd und kristallklar und es war erst einige Wochen her. Nun bedauerte ich ihn und sah ihn nie wieder.
Er hatte seinen zweiten Termin gehabt.
„Man hat ihm etwas genommen und er wollte es zurück“, erklärte mir meine alte Freundin. „Er hat dafür gekämpft und er bekam zwei Chancen. Es waren zwei Termine, von denen er vieles abhängig machte.“
Und dann erzählte mir meine alte Freundin von unserem gemeinsamen Bekannten, der große Hoffnung hegte und der glaubte, das Gute, was ihm seiner Meinung nach zustand, letztendlich in zwei Terminen zurückerobern zu können.
Und weil die meisten Menschen etwas brauchen, an dem sie ihre Hoffungen, ihre Wünsche und ihren Glauben festmachen können, so suchte auch unser gemeinsamer Bekannter etwas und er fand es – Sie ahnen es vielleicht – schließlich in seinen Schuhen.
Am höchsten Punkt der Insel Zypern wächst ein Strauch, an den die Einheimischen kleine Stoffschleifen knüpfen, weil sie meinen, mit jeder Schleife ginge einer ihrer Träume in Erfüllung. In Jerusalem steckt man Zettel in die Klagemauer und hofft, es würde vielleicht etwas bringen, wenn nur der richtige Wunsch darauf steht.
Unser Bekannter knüpfte keine Schleifen und er beschrieb keine Zettel.
Wir, meine alte Freundin und ich, wir wissen es nicht genau und können nur spekulieren. Aber es gibt etwas, was uns sagt, wie es gewesen sein könnte.
Er wollte nur das zurück, was ihm seiner Meinung nach zustand.
Er putzte seine Schuhe vor dem ersten Termin. Vielleicht tat er es ganz einfach nur so, weil er gut aussehen wollte oder dachte, dass Schuhe glänzen müssten, vor wichtigen Terminen. Vielleicht aber war er ganz einfach davon überzeugt, dass es ihm Glück bringen würde. Wenn er so dachte, da dachte er richtig, denn beim ersten Termin lief es absolut gut für ihn. Es lief dermaßen glatt, dass er das Gute schon gänzlich spüren konnte. Er musste sich wie ein Sieger fühlen, überzeugt von sich selbst und glücklich – unzerstörbar, mit diesen Schuhen, aus denen mehr geworden war.
„Er hat diese Schuhe zwischenzeitlich nie wieder getragen, da war er ganz konsequent“, sagte mir meine alte Freundin.
Er trug tatsächlich nur noch Turnschuhe. Seine Wunderschuhe sparte er sich auf, für seinen zweiten Termin, wo er alles perfekt machen wollte – zusammen mit seinen Schuhen.
Wir wissen nicht, was bei diesem zweiten Termin geschehen ist. Wir wissen nur, dass er an jenem Morgen mit Sicherheit seine Schuhe hervorholte, die er vorher nie mehr getragen hatte. Dabei hatte er sicher dieses Lächeln im Gesicht und draußen hatte sicher die Sonne von einem strahlend blauen Himmel gelacht.
Er war in den Tag getreten und bereit, das Schlechte zu widerlegen und das Gute, was ihm seiner Meinung nach zustand, endgültig zu gewinnen.
Dann war irgendetwas ganz gravierend verkehrt gelaufen. Das Gute hatte man ihm nun endgültig weggenommen, und seine Schuhe hatten nichts daran ändern können. Das war das Ende, für ihn und die Schuhe.
Heute morgen war ich an der Elbe, am Altstoffplatz. Dort, wo die drei Container stehen: Einer für weißes, einer für braunes, einer für grünes Glas. Daneben die beiden Behälter für altes Papier und Pappe.
Dazwischen fand ich – ich wollte sie zu gern übersehen – die Schuhe.
Abgestellt auf dem Beton und umgeben von Papierfetzen und einem Meer von zersplittertem Glas – weiß, braun und grün.
Das Leder abgewetzt und verquollen, die Solen brüchig und losgelöst. Im linken Schuh noch ein letzter Rest Schnürsenkel. Und doch habe ich sie sofort wiedererkannt.
Ich habe sie mit zu mir genommen und denke ungläubig an die Zeit zurück, wo sie und mein alter Bekannter um die Wette strahlten.
Ich denke, es wird mit Schuhen auch nicht anders sein, wie es mit Häusern oder alten Schulgebäuden ist – oder alten Bekannten.
Nun muss ich ständig überlegen,...
... vielleicht ... ach, ich weiß nicht ...
T.T. April 2002