Woodwose schrieb:
Ja, das ist natürlich richtig. Je kleiner die Kinder, desto subtiler sollte man Gefahren und Schrecknisse darstellen, und für sehr kleine Kinder ist es äußerst wichtig, dass eine Geschichte gut ausgeht, sonst kann man sie damit wirklich verstören.
Wie gut sollte so eine Geschichte ausgehen? So gut wie bei Hänsel und Gretel? Das ist eine Geschichte für ganz kleine Kinder und was wird da erzählt? Daß es gut ist, eine alte Frau, die böse ist, lebendig zu verbrennen! Eigenhändig, in einem Akt der Selbstjustiz!
Woodwose schrieb:
Ich dachte, solche Kinder werden erst recht in der Schule geprügelt.
Ja, schon, doch das eskaliert nie wirklich, weil die Schüler auch in der Pause unter Aufsicht stehen - richtige Prügel gibt es nur auf dem Nachhauseweg.
jobär schrieb:
Ich denke, es ist gefährlich, Fantasie und Realität auseinanderzureissen. Der Mensch braucht für eine gute Entwicklung beides und eine zentrale Ursache der Ichzentriertheit heutiger Menschen liegt in dem Verlust der Fantasie, der Anderwelt.
Das sehe ich anders. Kein Mensch braucht Fantasiewelten, es sei denn, er findet die Realität so bedrückend, daß er sich zumindest ab und zu in diese andere Welt flüchten muß. Manche schaffen das nicht von sich aus und brauchen dazu Drogen.
Wenn es die Ich-Zentriertheit heutiger Menschen wirklich gibt, was ich nicht glaube, zumindest nicht in dieser generellen Aussage, warum sollte die Ursache dafür im Verlust der Fantasie liegen? Ich denken, daß umgekehrt ein Schuh draus wird: Gerade diejenigen, die sich Fantasiewelten zusammenträumen, sind sich selbst genug - sie brauchen niemanden sonst.
jobär schrieb:
Warum hatte z.B. Tolkien so einen Erfolg und warum schwimmen heute mehr und mehr Autoren auf der Fantasy/Mystery-Welle. Nicht auch, weil uns da eine Welt verloren gegangen ist, die wir zum Leben ebenso brauchen wie das, was wir so nett das reale Leben nennen.
Tolkien war ein tief gläubiger Katholik und als solcher glaubte er an das personifizierte Böse. Sein Herr der Ringe ist ein Spiegelbild dieses Glaubens, denn es ist nichts als ein Kampf von Gut gegen Böse, wobei das Böse einfach böse ist – ohne Erklärung. Das gefällt Menschen, denn das entbindet sie, darüber nachzudenken, ob sie selbst auch ein bißchen bösen seien. Die Antwort der katholische Kirche – und auch die Moral des Herrn der Ringe – ist denkbar einfach: Der Mensch ist gut, aber ständig der Versuchungen des Bösen ausgesetzt. Wenn er dieser Versuchung erliegt, wird er zwar schuldig, aber seine Schuld ist entschuldbar – er wurde zum Bösen verführt, seit Adam und Eva ist das so.
Das entspricht genau dem Mechanismus, den die Eltern an den Tag legen, wenn ihr Kind auf die schiefe Bahn geraten ist: Er hat falsche Freunde gehabt und ist schwach geworden. Mit anderen Worten, sie, die Eltern, haben keine oder nur eine geringe Schuld an dem ganzen Desaster. So flüchten sie sich aus der Verantwortung und in eine Traumwelt hinein, die in Laufe der Zeit zum festen Bestandteil ihres Lebens wird. Und diese Traumwelt ist nichts anderes als Lüge.
Kein Zweifel, solche Lügen und solcher Glauben erleichtern das Leben - sie sind tröstlich. Und je schwerer die Zeiten, desto mehr Trost braucht der Mensch. Das, und die Sehnsucht nach der (falschen) heilen Welt unserer Kindheit, sind die wahren Ursachen des Runs auf Fantasy und Märchen.
Wenn wir aufhören würden, unseren Kindern eine heile Welt vorzugaukeln, würden sie auf die Welt, in der wir alle Leben, viel besser vorbereitet sein.
Dion