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Umarmung
I
Sie fielen sich in die Arme, küssten sich, lachten und freuten sich, dass sie sich nach langer Zeit wieder sahen. Ihre Augen strahlten, ihre Gesichter lachten. Eine junge Frau die bis gerade eben auf ihren eleganten Gang geachtet hatte, verfiel in einen schnellen Lauf, auf halbem Weg ließ sie ihr Gepäck fallen. Ohne ihre Koffer auch nur Beachtung zu schenken sprang sie ihn mit weit geöffneten Armen an. Beide lachten. Ein ebenfalls junger Mann bemühte sich, seine Freude nicht offen zu zeigen, indem er mit den Händen in den Hosentaschen darauf wartete, dass seine Freundin den Zug verließ und den Weg zu ihm überwand. Doch das Glitzern in seinen Augen, das Zucken seiner Mundwinkel, als er sie aus dem ICE steigen sah, verriet ihn. Anscheinend bemerkte er, dass niemand ihm sein Gehabe abnahm. Er schaute kurz beschämt auf den Boden, ehe das Mädchen an sich riss und umarmte, als würde er sie niemals wieder loslassen.
Für kurze Zeit hatte sich der Bahnsteig in eine Menge aus sich umschlingender Leiber verwandelt. Dann war der Zauber vorbei. Ein Pärchen nach dem anderen verließ selig lächelnd das Gleis, um irgendwo alleine zu sein, sei es nur um sich tief in die Augen zu sehen und dem gegenüber zu sagen, wie sehr man diese Person doch brauchte und liebte.
Und dann steige auch ich aus. Auf mich wartet niemand. Mich empfängt keiner mit strahlendem Gesicht, das sich mit Tränen füllt, wenn es sagt, wie sehr es mich vermisst hat. Kein Körper der sich an mich kuscheln und festgehalten werden will. Niemand, dessen Geruch ich tief einatmen kann, wenn ich sie in den Armen halten würde. Keine Berührung, die mir wohlige Schauer über den Rücken jagt. Niemand. Auf einmal wirkt der ganze Bahnhof leblos und leer. Irgendwie tot.
Ich schaue nach links und nach rechts… vielleicht ist ja wenigstens einer meiner Freunde gekommen, um mich willkommen zu heißen. Doch da ist niemand mehr. Das Gleis ist menschenleer. Ich lächle hämisch. Wann würde ich es endlich lernen: Man sollte nicht hoffen, denn hoffen bedeutet etwas Unwahrscheinliches herbeisehnen. Man denkt nur noch daran, bis man fast schon überzeugt ist, dass das erhoffte auch wirklich eintrifft. Und dann schlägt einem die Realität mitten in die Fresse. Wieder eine Enttäuschung. Deshalb sollte man sich erst gar nichts erhoffen, denn dann kann man auch nicht so einfach enttäuscht werden.
Müde setze ich mich in Bewegung. Ein Fuß nach dem anderen. Wozu eigentlich? In zwei Tagen bin ich wieder an der gleichen Stelle, um zurück in die Uni zu fahren.
Aber mehr hat das Leben nun einmal nicht zu bieten. Für jeden Schritt den du gehst, wirst du zwei Schritte zurückgestoßen. Selbst wenn du fällst, musst du aufstehen, solange bis der Tod dich qualvoll vom Leben erlöst. Ich bleibe stehen. Für einen kurzen Augenblick sehne ich mich so sehr nach der Umarmung eines Mädchens, dass ich am liebsten in Tränen ausbrechen würde. Endlich wieder lieben und geliebt werden. Aber das war unmöglich. Die Liebe ist die ultimative Enttäuschung. Wenn du denkst, du bist glücklich… dann ist es nur umso schmerzhafter wenn das Ende naht. „Scheiß drauf!“, flüsterte ich leise.
„Schulligung…“
Plötzlich stehe ich vor einem älteren von Zeit und Wetter verunstalteten Mann.
„Schulligung… ich hab solchen Hunger… hast du n Euro…nur n Euro…Bidde“
Sein Flehen macht mich weich. Armer Kerl… Ich krame in meinem Geldbeutel nach einem Ein-Euro-Stück, finde jedoch nur einen Zweier. Nach einem kurzen innerlichen Schulterzucken überreiche ich dem Obdachlosen die zwei Euro. Seine fast nicht verständlichen Dankungen werde ich wohl nie vergessen… Erleichterung, Dankbarkeit, ein kleines bisschen Freude, heute endlich etwas zu essen, das andere Leute nicht in den nächsten Bio-Müll warfen.
Verdammtes Mitleid…
Manchmal an schönen Tagen, sage ich mir oft, dass diese Welt mich mit diesem Sonnenschein auslacht. Jeder Tag bedeutet neue Enttäuschungen und Schmerzen. Keine körperlichen Schmerzen, sondern die, die tief sitzen. Worte können mehr verletzen als tausend Messer. Diesen Spruch kann ich nur als die Wahrheit bezeichnen. Wenn man innerlich Schmerzen fühlt und um diesen Schmerz nichts als Dunkelheit herrscht… nennt man das Depression? Wenn man jederzeit auf einmal losheulen könnte? Wenn man sich selbst hasst? Ich weiß nicht…vielleicht bin ich ja depressiv. Was zählt das schon?
Versehentlich stoße ich mit jemandem zusammen. Ich war wohl etwas gedankenverloren. Die Person sagt etwas, was ich nicht verstehe. Schnell streiche ich mir mein Pony noch tiefer ins Gesicht, als könnten mich die Menschen außerhalb so nicht erreichen. Ich beachte die Person nicht weiter und bewege mich stur weiter. Ich tue so, als würde ich zielstrebig meinen Weg gehen, dabei weiß ich nicht einmal wohin genau. Für die Weiterreise müsste ich auf meine Fahrkarte schauen, diese befindet sich in meiner Innentasche der Lederjacke. Dementsprechend müsste ich sie herauskramen… und würde so Schwäche offenbaren. Die Blicke der Menschen scheinen mich zu durchbohren. Sie beobachten mich, spotten in ihren Gedanken. „Leckt mich…“, flüstere ich leise. Ich weiß, dass ich mir diese Blicke nur einbilde und der Gedanke, dass diese wildfremden Menschen mich auch nur eines Blickes würdigen war schlichtweg irreal. Dennoch hasse ich sie. Hasse sie dafür, dass ich mich selbst verachte. Hasse sie, weil sie ihren Liebsten in die Arme fallen können, sie förmlich einatmen und konsumieren können.
Diese Welt ist nicht das, was sie sein will. Sie war kein schöner Ort. Vielleicht war sie das einmal, doch gleich einer Blüte war auch sie verwelkt und beginnt schon zu verfallen. Die Gesellschaft, in der ich leben muss bietet das beste Beispiel. Niemand kümmert sich auch nur einen Dreck um andere, denkt über sein Handeln nach, bemerkt, was seine Worte anrichten können. Kurz gesagt: Die Welt verkommt.
Einfach lächerlich zu glauben, die Welt wäre schön und rein. Viele Menschen argumentieren mit Liebe. Dass man zumindest von seiner Familie immer geliebt wird…
Familie…
Da ist meine kleine Schwester, die zu mir aufsieht und mich fast schön vergöttert. Meine Mutter, immer darauf erpicht, das Beste für mich rauszuholen, egal wie viel Krach wir auch haben mögen. Und mein Vater, mit dem ich zu Kindeszeiten gerne etwas mehr unternommen hätte, der dennoch immer für mich da ist, wie sie alle. Und dann ist da noch das kleine Hündchen. Keine 2 Jahre alt, weiblich. Verschmust, verspielt, liebenswert. Sie überschlägt sich jedes Mal vor Freuden, wenn ich nach wochenlanger Abwesenheit zurückkehre. Dann weicht sie mir für die nächsten paar Tage nicht von der Seite.
Ich bleibe stehen. In meinem Kopf formt sich ein Gedanke. Eine Idee. Die Lösung. Auf einmal ist alles klar. Ich weiß jetzt, was ich mit meinem Leben hier erreichen kann und was mir die Zukunft bietet und wie ich sie gestalten werde.
Jetzt leuchten meine Augen, das Glitzern, das Lächeln. Alles gehört mir. Ich weiß nun wie ich meine Zukunft gestalten werde…
Jetzt sind meine Schritte wirklich zielstrebig und führen mich direkt in meine Zukunft.
II
Unruhig wippte sie von einem Fuß auf den anderen und kaute nervös auf ihrer Unterlippe herum. Was tat sie hier? Das hier war schlichtweg lächerlich. Er wird mich auslachen, sich umdrehen und dann nie wieder ein Wort mit mir wechseln. Der Gedanke daran versetzte ihr einen Stich und sie stöhnte innerlich. Das könnte sie nicht ertragen. Sie stellte sich auf Zehenspitzen, um über die Menschenmenge zu blicken. Der Zug stand am Gleis, viele der Passagiere waren bereits ausgestiegen und begrüßten ihre Familie. Aber dafür hatte sie keine Augen. Sie suchte nur ihn. Vielleicht habe ich falsche Informationen bekommen? Schließlich, ihr kam es wie eine Ewigkeit vor, stieg er als einer der Letzten aus. Ihr Herz schien für den Bruchteil einer Sekunde stehenzubleiben, ehe es einen Satz machte und sie erleichtert und freudig erregt ausatmete. Gerade machte sie ihre erste Bewegung in seine Richtung, als ihr furchtbare Szenarien durch den Kopf schossen. Er erkannte sie nicht, wollte sie nicht erkennen oder fand ihr Verhalten lächerlich. Nicht schon wieder. Wie immer stand sie sich selbst im Weg. Schon oft hatte sie ihn aus der Ferne beobachtet und jedes Mal wenn er in ihre Nähe kam, begann sie zu stottern und lief rot an. Wieder und wieder hatte sie sich geschworen, ihn endlich anzusprechen. Und wieder und wieder hatte sie sich nicht getraut.
Schnell versteckte sie sich hinter dem Kiosk. Nach einigen tiefen Atemzügen linste sie hervor. Er stand immer noch da und hatte sich nicht vom Fleck bewegt. Oh Gott, er wartet auf jemanden… er wird bereits von jemandem abgeholt. Doch dann setzte er sich in Bewegung. Ihr fiel auf, dass er sich keineswegs sicher fortbewegte. Er ging unsicher, als wüsste er nicht wohin er wollte. Sie zuckte zusammen und fuhr zurück. Hatte er sie gesehen? Und wichtiger: Hatte er sie erkannt? Wieder kaute sie auf ihrer Unterlippe. Verdammt, wieso war sie nur so unsicher. Sie müsste ihn einfach ansprechen um Klarheit zu bekommen.
Einmal hatten sie sich schon unterhalten. Naja, genauer gesagt, er hatte mit ihrer Freundin gesprochen, sie stand nur daneben und hatte krampfhaft versucht, nicht allzu sehr zu zittern und ihn nicht unentwegt anzustarren. Dann war er fortgezogen. 600 Kilometer weit entfernt. Von einem Bekannten wusste sie, dass er dieses Wochenende zurückkommen würde, um ein paar Tage hier zu bleiben.
Wieso war sie überhaupt hergekommen? Sie hatte doch von Anfang an gewusst, dass sie sich wieder nicht trauen würde. Ein Kloß schnürte ihr die Kehle zu und sie kämpfte mit den Tränen. Weg… einfach weg… Fast schon ruckartig ging sie los, lief um die Ecke des Kiosks… und rannte direkt in jemanden hinein. Konfus schaute sie auf, erstarrte und riss dann die Augen auf. Er war es. Sie bebte innerlich, ihre Finger verkrampften sich und zitterten. Gleichzeitig jagten warme Schauer durch ihren Körper, ausgelöst durch diese kurze ungewollte Bewegung. Aber bevor sie etwas sagen konnte, lief er schon weiter, als wäre nichts gewesen. Sie wollte ihm hinterher rufen, brachte jedoch nur ein leises „Warte…“ hervor. Scheiße! Erschöpft lehnte sie sich an die Wand des Kiosks und ließ sich langsam hinabgleiten, bis sie sich in einer Kauerstellung befand. Sie schaute ihm nach und stellte sich vor wie wundervoll er sie hätte umarmen können. Wieso ging sie immer gleich vom Schlimmsten aus?
Überrascht registrierte sie, dass er kurz stehen geblieben war. Hatte er vielleicht…? Dann setzte er seinen Weg fort. Jetzt wirkte sein Gang sicher, als hätte er plötzlich ein festes Ziel vor Augen.
Eine Lautsprecheransage ertönte: „Achtung auf Gleis 22, Zug fährt durch.“ Lustlos schaute sie aus Gewohnheit auf die große leuchtende Anzeigetafel. Zufällig befand sie sich keine 50 Meter von Gleis 22 entfernt. Und gerade als sie sich wieder zu ihm umdrehen wollte, bemerkte sie aus den Augenwinkeln eine schnelle Bewegung.
Sie sah hin... und diesmal hörte ihr Herz wirklich auf zu schlagen…
III
Der Aufprall zerfetzt ihn. Für ein paar Sekunden regnet es Blut. Fleischfetzen fliegen durch die Luft und landen klatschend auf dem Boden. Und für einen kurzen Moment, nur für einen winzigen Augenblick, glaubt er zu spüren, dass ihn jemand ganz fest hält, so als würde sie ihn niemals loslassen wollen.