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(U)rodina.
Rodina-Urodina (aus dem Russ.: Heimat Missgeburt)
Es war mitten im zweiten Tschetschenischen Krieg, im November 2001. Ich stand auf einem der Moskauer Friedhöfe vor dem frisch ausgehobenen Grab, in dem mein Aljoschka lag. Mein Aljoschka oder das, was von ihm übrig geblieben war. Und starrte in die Leere.
Ich kümmerte mich um die Einladungen, um den Bus, um das Grab, um Aljoschkas Mutter. Das Verteidigungsministerium kümmerte sich um den Sarg aus verzogenem Fichtenholz und bunte Bänder in Farben der Nationalflagge. Zum Schmücken. Alles muss feierlich aussehen, trotz rauer Holzoberfläche.
Der Sarg stand erst eine Stunde in unserem Innenhof aufgebahrt. Umgeben von sieben zwölfstöckigen Blockhäusern. Der sturmische sibirische Wind mit gefrorenem grauen Wasserkristalen krachte unbarmherzig gegen die Häuser, wollte hinein, durch die Fenster, Türen. Er heulte und lauelte. Nicht wollte ihn trösten, beachten. Hunderte Blicke aus allen Himmelsrichtungen schauten herunter, auf die wenigen Trauernden neben dem Sarg zwischen den großen Schneewehen. Der Sargdeckel war zu. Nicht nach der Tradition. Dazu noch festgenagelt, als wollte jemand verhindern, dass der Tote aufersteht und den Anwesenden seine Lebensgeschichte erzählt. Dem Wind, den Häusern, diesen Blicken. Meine Augen hielt ich geschlossen, es war schwer zu atmen. Ich stand da und starrte ungeduldig die raue Oberfläche der abgelieferten Kiste an, lief schweigend nach Hause, holte das Nageleisen und machte den Sarg unter vehementen Protesten eines unbekannten Mannes in Zivil auf. Die Nägel waren im Gegensatz zu Holz von guter Qualität, nicht billig. Ich schwitzte. Niemand scheute die Kosten für eine Lüge. Meine Handflächen froren am kalten Metall fest. Trotz Schmerzen wollte ich dem Toten beim Abschied in die Augen schauen, mir seine Lebensgeschichte anhören. Ich mag keine Geheinisse. So gehörte es sich, so war es nach der Tradition. Niemand protestierte sonst. Das Weinen von Tante Maria ging in Geschrei über, das nur der Tote im Sarg im Stande war, auszuhalten. Die verzweifelte Mutter verfluchte Putin, die Tscheschenen, sich selbst. Sie war jetzt alleine, ohne ihren einzigen Sohn. Der Wind verstummte kurz, um gleich diese Worte, dieses Heulen aufzufangen und weiter zu tragen, in die entferntesnten Ecken meiner Heimat. Jetzt war ich alleine, ohne meinen besten Freund, Aljoschka.
Am nächsten Tag klingelte es spät am Abend bei uns an der Tür. Mein Vater, ein Kriegskind, ein kleiner unauffälliger Mann Mitte sechzig in verbrauchten Hausschuhchen und Pyjama, öffnete gelassen die Tür, ohne sich Gedanken über den späten Besuch zu machen. Zu seiner Überraschung wurde er blitzschnell von einem Trupp uniformierter Herren samt der schweren Tür fast zur Seite umgeworfen. Man suchte nach dem flüchtigen Rekruten Maxim Semiverstov, meiner bescheidenen Person. Genau wie mir hier und jetzt mein Freund Aljoschka fehlte, fehlte es den Herren an Soldaten an ihrer „Front“. Sie wollten Ersatz. Hinter dem Trupp stand selbstsicher der fremde Zivilist von der Beerdigung, mit einer Akte in der Hand. Egal, was die Arschlöcher wollte, sie haben auf jeden Fall ihre Rechnung ohne meinen Vater gemacht.
Nicht, dass mein Vater besonders sentimental war, wie die Tante Mascha bei der Beerdigung ihres einzigen Sohnes, und dass er an mir besonders hing. Nein, das nicht. Mein Vater hatte bestimmt über ein Dutzend Kinder, deren Namen ihm auf Anhieb nicht alle einfallen wollten. Allein mit meiner Mutter waren es sieben. Und zwar nicht aus purer Liebe zu Kindern, sondern aus purer Liebe zu Frauen. Und auf wildfremde Männer stand mein Vater definitiv nicht.
Seit seiner Goldmedaille von der Weltmeisterschaft 1956 hatte er nichts Anständigeres außer den unzähligen Kinderwagen vor sich zu stoßen. Offensichtlich hatte mein Vater sehnlichst sein halbes Leben lang auf diese Begegnung gewartet. Das Blut eines Weltmeisters im Stoßen kochte in seinen Adern hoch und der ganze ungebetene Trupp wurde zu dessen Überraschung samt Munition, Kalaschnikows, Uniformen, dem penetranten Wodkageruch, der dicken Akte und der schweren Tür aus der Wohnung hinauskatapultiert.
————-
Ich hatte gerade ein Telefonat mit meiner Mutter. Sie würden bald, sagte sie, alleine wohnen! Ohne meinen Bruder und diese Frau. Ich dachte gleich an die Einraumwohnung im selben Haus acht Stockwerke tiefer, die laut Gerüchten zum Verkauf stand, und sagte voller Neugier: „Aha!“, meine Überraschung war kaum zu überhören.
„Er wird einkassiert...“,flüsterte sie darauf verschwenderisch in den Hörer zurück.
„Wer?“, flüsterte ich und behielt etwas Luft für die nächste Frage: „Und was heißt ‚einkassiert’?“
Der letzte Satz fiel mir besonders schwer, da ich mich gleichzeitig im Bett umdrehte, um auf die Uhr zu schauen. Es war 3 Uhr nachts. Ich wollte nicht, musste aber automatisch im Kopf rechnen: Wie spät hatten die Schweine jetzt in Moskau? Also... meine Mutter hatte jetzt gerade ihr Getreidekäffchen zu Mittag hinter sich. Diese unfassbare Frau!
„Dein Bruder, wer sonst!“, brüllte mich Mutters Stimme an, „Von der Roten Armee.“
Die Zeit ist für meine Mutter irgendwann Mitte des 20. Jahrhunderts stehen geblieben, als es noch die Rote Armee gab. Schade, dass das Telefonieren damals schon erfunden worden war. Ich bedankte mich für die Neuigkeit und legte auf.
Es klingelte erneut: „Die Verbindung wurde durchgetrennt! Anscheinend eine Störung. Ja, er hat gerade eine Vorladung zum Sammelpunkt erhalten, morgen in einer Woche ist es so weit!“, hörte ich meine Mutter sich im Hörer freuen.
Widerwillig wurde ich hellwach: „Weiß man schon, in welche Art von Truppen er kommt?“, wollte ich die seltene Begeisterung meiner Mutter in vollen Zügen auskosten. „Ich meine, wird er einer Panzerdivision irgendwo in Syria zugeteilt und von der Salve einer Nato-Drohne beim lebendigen Leib in einem gottverdammten Panzer gebraten oder gibt es noch irgendwelche Hoffnung, dass er aus einem anderen Grund nicht heimkehrt?!“
Ja, ich hörte, dass es ihr gefiel. Die Alte hatte nicht so oft solche glücklichen Momente im Leben. Zuletzt hatte sie es, als ich mir beide Füße brach. Vor dreißig Jahren. „Ich weiß nicht!“, sagte sie schnell. „Es ist mir aber auch egal. Hauptsache, sie alle sind weg!“
„Hast du schon ein Waisenhaus, für Ignats Kind, das er nicht zum Militärdienst mitnehmen wird?“, den guten Sinn für Humor muss man immer parat haben. Wie hieß das Kind noch mal?... Der gute Humor ist auf jeden Fall wichtiger als ein gutes Gedächtnis.
Und dann noch zur „Nachspeise“ das Lieblingsthema meiner Mutter: ihre einzige Schwiegertochter, die Mutter ihres einzigen Enkelkindes, die Frau meines einzigen Bruders: „Sie wird wohl betteln gehen müssen. In der Kirche, wo sie mit Ignat immer hingeht, da gibt es bestimmt gute Menschen, die ihr unter die Arme greifen werden. Vielleicht nimmt jemand sie mit Kind auf. Obwohl… ich glaube an Auferstehung und all das Zeug… aber doch nicht an solche Wunder.“
Meine Mutter war vor Begeisterung ausser Häuschen. Ich wünschte ihr einen guten Tag und legte auf. Nun schlafen.
Das Telefon klingelte. Ich schaute auf die Uhr - halb sieben. Ich griff nach dem Hörer. Meine Schwägerin - höchstpersönlich.
„Max, die Großmutter spinnt total. Sie zählt jede Stunde ab, wann sie mit der Rauswurf unserer Sachen aus der Wohnung beginnen kann!“, Ich hatte Schwierigkeit, ihre Stimme wegen der Heiserkeit wieder zu erkennen.
„Es gibt noch diese Einraumwohnung im Haus acht Stockwerke tiefer zu kaufen! Besetzt sie einfach. Ihr habt es noch gut - ihr müsst eure Sache nicht hoch schleppen.“, ich hörte, man muss Menschen in Not immer etwas Aufheiterndes sagen.
Ich sei, ihre letzte Hoffnung, meinte sie. Ich antwortete, ich könne die Wohnung für sie beim besten Willen nicht besetzen. Sie muss es schon selbst machen. Ich fragte sie vorsichtig, ob sie an Wunder glaube, an die Auferstehung und all das Zeug. Sie sagte, ja. Ich antwortete, sie solle beten, und legte auf.
Ich lag im Bett und dachte nach. Ich mochte meine Eltern nicht und noch weniger meinen Bruder. Ich wollte keinem von ihnen einen Gefallen tun. Jetzt war ich daran, mir selbst einen Gefallen zu tun. Ich rief beim Militärsekretariat an. Den mir bekannten Zivilisten, der vor so vielen Jahren ein großer Fan der Schwerathletik geworden ist.
„Hallo!“, brüllte er genervt in den Hörer.
„Hallo, ich bin es, Max Semiverstov! Jo, wie sieht’s aus?“, fragte ich ihn leise direkt ohne Umschweife. Zeit ist Geld. Ich hörte, man muss sparsam mit der Zeit der anderen umgehen.
Er schluckte laut, bevor er wieder zu sprechen begann.
„Schlecht?“, fragte er unsicher als Antwort.
„Inwiefern?“, wollte ich unsere Konversation doch etwas mehr ins Fließen bringen. „Für Sie oder für uns?“. Die Verbindung zwischen einem geheimen Ort im wilden Westen und Moskau war heute - wie immer - bestens. Der Zivilist glaubte, ich säße im Nebenraum. Das war gut so!
„Für uns?“, teilte mir der Zivilist noch unsicherer mit.
„Und?“, ich schaute bereits zum zweiten Mal ungeduldig auf die Uhr.
„Einer unserer Schränke... wackelt! Der Fußboden ist nicht mehr gut, wissen Sie! Ein Bein muss... unterlegt werden. Ich glaube eine... unserer Akte wäre dafür gut geeignet.“
„Und Sie sind sich ganz sicher, Sie wissen ganz genau, wie der Glückspilz dieser Akte heißt?“, fragte ich ihn verbindlich und legte auf.
Ich dachte an meine Mutter, meinen Vater und Tante Maria, an meine ferne Heimat, an den billigen Sarg, an die betrunkene Hauptmänner, die ihre Soldaten in den Tod schicken und dann den Müttern pathetisch zurückschrieben: In Ehren! Für die Heimat! Heldenhaft!
Und an das zermatsche Gesicht meines Aljoschkas,meines besten Freundes, den ich nie vergessen werde. Ich bin eine kriminelle Autorität und beschließe von nun an, das Leben zumindest in meiner Freizeit ohne Nageleisen, gute Nägel und zermatschte Gesichter zu genießen...