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U-Bahn-Paar

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04.10.2006
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U-Bahn-Paar

Ich sehe sie da stehen, wo sie schon vor vielen, vielen Jahren gestanden hatten. Ich glaube, es müssten um die zwanzig sein. Sehr früh am Tag, am U-Bahnsteig, wo es immer ein wenig zog und am Gleisbett dann und wann die Mäuse umher huschten.

Damals hatte sie jeden Morgen ein Lächeln auf den Lippen, in das sich manchmal ein bitterer Zug mischte. Ihre Berührungen schienen mir immer eher zufällig, waren jedoch zu innig, um dies auch zu sein; er die schmale blasse Hand golden beringt, ihre Hände ebenso blass, jedoch völlig nackt.

Sie standen da im Frühjahr, im Sommer, im Herbst und im Winter, wobei mir am eindrücklichsten die Wintermonate im Gedächtnis geblieben sind: Beide in dicke Mäntel gehüllt, sie in einem dunkelblauen Dufflecoat mit Knebelknöpfen, er in einem gesteppten Daunenmantel in einem dunklen Grau vielleicht. Er immer in Anzug und Krawatte, brav gescheitelt, sie meistens in Rock oder Kleid. Ich glaube, ich habe sie nur ein einziges Mal in Hosen gesehen.

Woher ich das alles weiß? Ich stand jeden Morgen da und wartete auf meine U-Bahn. Ich glaube, ich habe sie erst eher unbewusst zur Kenntnis genommen. Vielleicht waren es ihre heimlichen Berührungen und die rasche Umarmung zum Schluss, die nicht zu den verhuschten Personen gepasst hatten. Mich faszinierten die beiden irgendwann so sehr, dass ich immer etwas früher zur U-Bahn-Station ging und dann abwartete, bis er davon gefahren war. Ich hätte zu gerne gewusst, wo die beiden sich auch außerhalb des U-Bahnhofs trafen.
Was hatte sie dazu bewogen, sich an diesem zugigen Ort morgens in aller Frühe zu treffen?
War dies ein Punkt, der für sie eine besondere Bedeutung hatte, oder lag der Ort einfach nur auf beider Weg?

Kam er früher auf den Bahnsteig, so wartete er geduldig auf den drahtbegitterten Sitzbänken, kam sie früher, so lief sie mit raschen Schritten ungeduldig den Bahnsteig auf und ab.

Manchmal kam ich nahe genug an sie heran, um Satzfetzen wie „hab Geduld“, „ist gerade schlecht“, „es ist sicher bald so weit“ und „glaube mir“ zu verstehen.
Immer standen sie, er klein, blass und schmal, während sie, größer, breiter und etwas plumper manchmal ihren Kopf auf seiner Schulter ablegte, wobei zuweilen auch ein Zittern ihren Körper durchlief, das mich ahnen ließ, wie verzweifelt sie war.

Wenn die U-Bahn einfuhr, war immer er es, der nach einer letzten Umarmung davon fuhr.
Es waren immer höchstens zehn bis fünfzehn Minuten, die die beiden zum Händchenhalten und Murmeln hatten, ehe er in der davonfahrenden U-Bahn vom Tunnel verschluckt wurde. Sie stand dann mit hängenden Schultern eine Weile da, ehe sie langsam davon ging.

Von ihm wusste ich, dass er vom Hauptbahnhof gekommen war, denn ab und an sah ich ihn spätnachmittags zu den Gleisen Richtung Fernzüge gehen. Ich habe nie heraus bekommen, woher sie kam und wohin sie ging.

Wenn sie einmal nicht da waren – und das kam in der ganzen Zeit höchstens drei Dutzend Mal vor, da malte ich mir aus Lust am Fabulieren die schrecklichsten Dinge aus, Unfall, schwere Krankheit, ja sogar Verbrechen kamen in meinen Überlegungen vor.

Es vergingen Wochen, Monate und Jahre, bestimmt zwei oder drei. Es gab keine nennenswerte Veränderung. Berührungen, Beteuerungen, Versprechungen und Vertröstungen.
Was mich wunderte ist, dass sie unbeirrt weiterhin geduldig kam.

Bis ich sie irgendwann nicht mehr sah.
Ich habe sie vermisst. Habe mich immer wieder am Bahnsteig umgesehen. Habe bedauert, kein Wort mit ihr gewechselt zu haben. Ich hätte sie sehr gerne gefragt, woher sie Kraft und die jahrelange Geduld hatte. Hätte sie gerne gefragt, wie sie ihren Tag verbrachte.
Sie hat mich immer mehr interessiert. Ihn fand ich nicht interessant.
Die Jahre vergingen und immer seltener habe ich an die beiden beiden gedacht.


Und jetzt -nach zwanzig Jahren- stehen sie plötzlich wieder da. Nach all der langen Zeit.
Er, genauso schmal und blass wie damals, sein Haar schütterer geworden, das Alter hat tiefe Falten in sein Gesicht gegraben. Er trägt die gleiche Metallbrille wie damals.

Sie steht mit dem Rücken zu mir, aber ich meine sie am Körperbau zu erkennen, etwas größer, breiter, plumper. Ich kann nicht sehen, ob das Alter mit ihr gnädiger umgegangen ist.

Sie stehen da, eng umarmt.
Als die U-Bahn einfährt, nimmt sie die Reisetasche, die neben ihr auf dem Boden steht, küsst ihn auf die linke Wange und springt behende in den Wagen.
Ich sehe ein verblüffend junges Gesicht und höre sie, während die Türen sich schließen, dem blassen Mann mit seinen hängenden Schultern zurufen: „Bis bald, Papa, ich ruf Dich an!“

 

Hallo sig4sig,

Deine letzte Geschichte scheint lange her zu sein. Aber in einer Kritik stand das Wort Miniatur. Und das trifft auch diesen Text: Nur, dass sich mir die vermeintliche Pointe erst beim Nachdenken erschlossen hat und ich nicht sicher bin, ob ich die Geschichte richtig verstanden habe. Die Pointe lebt ja davon, dass die Frau die Tochter ist und die/der Ich-Erzähler/in dies nicht erkennt, weil die Frau mit dem Rücken zu ihr/ihm steht. Aber das war ja bei den vorherigen Begegnungen nicht so:

Damals hatte sie jeden Morgen ein Lächeln auf den Lippen
Also kann ich mir nur vorstellen, dass bei allen vorigen Begenungen die Mutter auf dem Bahnsteig stand. Aber wo war das Mädchen? Und was ist jetzt mit der Mutter geschehen? Diese kleine Geschichte gibt mir Rätsel auf und ich frage mich, ob man aus ihr nicht mehr machen könnte/sollte.

Liebe Grüße

Jobär

 

Hey sig4sig,

Ich hab eben deine Geschichte gelesen und ich kann mir nicht helfen, aber sie gibt mir nichts. Nichts zum nachdenken, nichts was mich aufreibt, du hättest auch einen Sachtext schreiben können, über etwas, was ich schon weiß.
Gut, da ist eine Pointe erkennbar. Aber sonst? Handwerklich gut gemacht. Das wars.

Vielleicht hab ich das weltbewegende auch nicht verstanden, oder du wolltest genau das zeigen schreiben, des Schreibens wegen. Aber für mich ist das nichts. Wo ist der Konflikt? Oder das ungewöhnliche, das störende, das erschütternde?

Mal sehen, vielleicht kann wer anders damit was anfangen.

Liebe Grüße
Lexi

 

Danke für die Kritiken.
Lieber Jobär, ich hab schon damals den Unterschied zwischen Miniatur und KG nicht ganz verstanden.
Hätte besser mal nachgefragt, würde die Geschichte ganz gerne zu einer KG entwickeln, hast Du da einen Tipp?

Liebe Lexi, auch Dir danke für das handwerklich gut gemacht. Tut mir leid, dass es Dir nichts gibt.

Euch beiden liebe Grüße
Sig4sig

 

Hallo sig,

ich lese aus deiner Geschichte recht viel heraus. Eine tragische Liebe. Da war ein Paar, das sich regelmäßig traf und aus deren heimlichen Beziehung sogar eine Tochter entstanden ist. Vielleicht hat der Vater diese erst kennengelernt, nachdem die Mutter gestorben ist? Ich würde darauf tippen, dass er verheiratet war und sie endlos lange vertröstet worden ist.

Nun ja, das wäre als Idee ganz interessant. Nun kommt das große Aber:

Glaubst du im Ernst, dass sich ein Paar heimlich gerade an einer U-Bahn-Station trifft, an der ganz viele Leute rumrennen und die Gefahr, dass sie jemand sehen könnte, sehr groß ist?

Sie hielten immer Händchen, er die schmale blasse Hand golden beringt, ihre Hände ebenso blass, jedoch völlig unberingt.
Das braucht es nicht. Das ist zu plakativ. Der Leser ist nicht blöd. Es reicht schon:
Manchmal kam ich nahe genug an sie heran, um so Satzfetzen wie „hab Geduld“, „ist gerade schlecht“, „es ist sicher bald so weit“ und „glaube mir“ zu verstehen.

Es waren immer höchstens zehn bis fünfzehn Minuten , die die beiden zum Händchenhalten und Murmeln hatten, ehe er in der davonfahrenden U-Bahn vom Tunnel verschluckt wurde.

Wäre auch interessant zu wissen, wieso die erzählende Person alles so genau weiß? Das kann ja nur ein Kioskverkäufer auf dem gleichen Bahnsteig gewesen sein, der jahrelang immer da war. Ein normaler Bahnfahrer kann es nicht sein, das wäre ja zu komisch, wenn der immer genau am Bahnhof ist, wenn auch das Paar dort ist.

Ich habe nie heraus bekommen, woher sie kam und wohin sie ging.
Das ist doch eine Floskel - oder hat der Erzähler tatsächlich mal Erkundigungen angestellt?


Wenn sie einmal nicht da waren – und das kam in der ganzen Zeit höchstens drei Dutzend Mal vor, da malte ich mir die schrecklichsten Dinge aus, Unfall, schwere Krankheit, ja sogar Mord kam in meinen Überlegungen vor.
Naja, das mit dem Mord ist etwas übertrieben, oder? :D


Es vergingen Wochen, Monate und Jahre, bestimmt zwei oder drei, ehe sie plötzlich gar nicht mehr kamen.
Der Satz ist irritierend. Du willst ja sagen, dass sie drei Jahre lang immer kamen und dann von einem Tag auf den anderen nicht mehr, oder? Das liest sich aber so, als ginge es drei Jahre lang (also der Prozeß, dass sie nicht mehr kommen), bis sie plötzlich nicht mehr gekommen sind.


Ich vermisste sie wie eine liebgewordene Gewohnheit, von der man wusste, dass sie einem nicht gut tat.
versteh ich nicht.

Nun ja, die Geschichte lebt von der Pointe.

Es könnte aber auch eine Geschichte einer unerfüllten Liebe sein, wenn da mehr Fleisch am Knochen wäre - oder eine Geschichte von einer Frau, die jahrelang von einem Mann verarscht wird, weil er ihr verspricht, seine Frau zu verlassen und es doch nicht tut.

So ist es aber nur ein kleiner Hauch von "Könnte ja sein".

Mach mehr draus, erzähle mehr von den Personen, lass den Leser teilhaben an der Frust der Frau und dem Skrupel des Mannes. Und erzähl uns, wann die Tochter erfahren hat, wer ihr Papa ist.

Liebe Grüße
bernadette

 

Liebe Bernadette,
Da habe ich ja viele Anregungen zur Verbesserung bekommen. Vielen Dank dafür. Ich werde mich ans Werk machen!
Liebe Grüße Sig

 

Ich habe die Geschichte jetzt mal überarbeitet. Ich weiß, dass die Geschichte sehr kurz ist, möchte sie aber auch nicht künstlich in die Länge ziehen; ich hoffe, ich habe die offensichtlichen Fehler ausgebügelt.
Meine Intention ist, dass der Leser sich seine eigenen Gedanken macht und selbst mutmaßen kann.
Liebe Grüße
Sig

 

Hallo Sig,

ich hatte deine Geschichte in der originalen Version schon gelesen. Jetzt möchte ich dir gerne ein paar Zeilen zur Überarbeitung sagen:

Zunächsteinmal gefällt mir dein Stil - man sieht die beiden heimlich Verliebten geradezu vor sich. Bilder werden erzeugt und Atmosphäre geschaffen.
Allerdings sehe ich noch ein, zwei Baustellen :)

Ich finde, deine Überarbeitung geht schon sehr in die richtige Richtung und greift auf, was Jobär kommmentiert hat. Allerdings fehlt mir noch immer ein bisschen die Motivation des Erzählers.
- Dass der Erzähler täglich 20 Minuten am Bahnsteig verbringt ist dabei vielleicht weniger relevant oder interessant als die Frage "Wieso sind die beiden ihm überhaupt aufgefallen?" Vielleicht durch einen Vorfall? Oder sind sie schleichend nach und nach in sein Bewusstsein getreten? Hat er sie aus Langeweile beobachtet oder weil er sie so attraktiv fand? Vielleicht hat der Erzähler selbst eine Affäre gehabt und siehtr sich in den beiden gespiegelt? Oder ihm feht es an Dramatik im eigenen Leben?
- Wieso findet der Erzähler sie interessant und ihn nicht?
-

Ich hätte zu gerne gewusst, ob die beiden sich auch außerhalb des U-Bahnhofs trafen.
Davon können Erzähler und Leser ausgehen, nehme ich an :) Niemand verlässt seine Frau wegen jemandem, den man 15 Minuten an einem Bahnsteig trifft. Den Satz würde ich streichen, oder fragen, wo oder wann sie sich ausserdem getroffen haben.

Länger muss die Geschichte nicht werden - auch kurze Geschichten sind Kurzgeschichten. ;) Nur ein bisschen runder :)

Ich hoffe das hilft die weiter,

Viele Grüße,

Ardandwen

 

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