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U-Bahn-Paar
Ich sehe sie da stehen, wo sie schon vor vielen, vielen Jahren gestanden hatten. Ich glaube, es müssten um die zwanzig sein. Sehr früh am Tag, am U-Bahnsteig, wo es immer ein wenig zog und am Gleisbett dann und wann die Mäuse umher huschten.
Damals hatte sie jeden Morgen ein Lächeln auf den Lippen, in das sich manchmal ein bitterer Zug mischte. Ihre Berührungen schienen mir immer eher zufällig, waren jedoch zu innig, um dies auch zu sein; er die schmale blasse Hand golden beringt, ihre Hände ebenso blass, jedoch völlig nackt.
Sie standen da im Frühjahr, im Sommer, im Herbst und im Winter, wobei mir am eindrücklichsten die Wintermonate im Gedächtnis geblieben sind: Beide in dicke Mäntel gehüllt, sie in einem dunkelblauen Dufflecoat mit Knebelknöpfen, er in einem gesteppten Daunenmantel in einem dunklen Grau vielleicht. Er immer in Anzug und Krawatte, brav gescheitelt, sie meistens in Rock oder Kleid. Ich glaube, ich habe sie nur ein einziges Mal in Hosen gesehen.
Woher ich das alles weiß? Ich stand jeden Morgen da und wartete auf meine U-Bahn. Ich glaube, ich habe sie erst eher unbewusst zur Kenntnis genommen. Vielleicht waren es ihre heimlichen Berührungen und die rasche Umarmung zum Schluss, die nicht zu den verhuschten Personen gepasst hatten. Mich faszinierten die beiden irgendwann so sehr, dass ich immer etwas früher zur U-Bahn-Station ging und dann abwartete, bis er davon gefahren war. Ich hätte zu gerne gewusst, wo die beiden sich auch außerhalb des U-Bahnhofs trafen.
Was hatte sie dazu bewogen, sich an diesem zugigen Ort morgens in aller Frühe zu treffen?
War dies ein Punkt, der für sie eine besondere Bedeutung hatte, oder lag der Ort einfach nur auf beider Weg?
Kam er früher auf den Bahnsteig, so wartete er geduldig auf den drahtbegitterten Sitzbänken, kam sie früher, so lief sie mit raschen Schritten ungeduldig den Bahnsteig auf und ab.
Manchmal kam ich nahe genug an sie heran, um Satzfetzen wie „hab Geduld“, „ist gerade schlecht“, „es ist sicher bald so weit“ und „glaube mir“ zu verstehen.
Immer standen sie, er klein, blass und schmal, während sie, größer, breiter und etwas plumper manchmal ihren Kopf auf seiner Schulter ablegte, wobei zuweilen auch ein Zittern ihren Körper durchlief, das mich ahnen ließ, wie verzweifelt sie war.
Wenn die U-Bahn einfuhr, war immer er es, der nach einer letzten Umarmung davon fuhr.
Es waren immer höchstens zehn bis fünfzehn Minuten, die die beiden zum Händchenhalten und Murmeln hatten, ehe er in der davonfahrenden U-Bahn vom Tunnel verschluckt wurde. Sie stand dann mit hängenden Schultern eine Weile da, ehe sie langsam davon ging.
Von ihm wusste ich, dass er vom Hauptbahnhof gekommen war, denn ab und an sah ich ihn spätnachmittags zu den Gleisen Richtung Fernzüge gehen. Ich habe nie heraus bekommen, woher sie kam und wohin sie ging.
Wenn sie einmal nicht da waren – und das kam in der ganzen Zeit höchstens drei Dutzend Mal vor, da malte ich mir aus Lust am Fabulieren die schrecklichsten Dinge aus, Unfall, schwere Krankheit, ja sogar Verbrechen kamen in meinen Überlegungen vor.
Es vergingen Wochen, Monate und Jahre, bestimmt zwei oder drei. Es gab keine nennenswerte Veränderung. Berührungen, Beteuerungen, Versprechungen und Vertröstungen.
Was mich wunderte ist, dass sie unbeirrt weiterhin geduldig kam.
Bis ich sie irgendwann nicht mehr sah.
Ich habe sie vermisst. Habe mich immer wieder am Bahnsteig umgesehen. Habe bedauert, kein Wort mit ihr gewechselt zu haben. Ich hätte sie sehr gerne gefragt, woher sie Kraft und die jahrelange Geduld hatte. Hätte sie gerne gefragt, wie sie ihren Tag verbrachte.
Sie hat mich immer mehr interessiert. Ihn fand ich nicht interessant.
Die Jahre vergingen und immer seltener habe ich an die beiden beiden gedacht.
Und jetzt -nach zwanzig Jahren- stehen sie plötzlich wieder da. Nach all der langen Zeit.
Er, genauso schmal und blass wie damals, sein Haar schütterer geworden, das Alter hat tiefe Falten in sein Gesicht gegraben. Er trägt die gleiche Metallbrille wie damals.
Sie steht mit dem Rücken zu mir, aber ich meine sie am Körperbau zu erkennen, etwas größer, breiter, plumper. Ich kann nicht sehen, ob das Alter mit ihr gnädiger umgegangen ist.
Sie stehen da, eng umarmt.
Als die U-Bahn einfährt, nimmt sie die Reisetasche, die neben ihr auf dem Boden steht, küsst ihn auf die linke Wange und springt behende in den Wagen.
Ich sehe ein verblüffend junges Gesicht und höre sie, während die Türen sich schließen, dem blassen Mann mit seinen hängenden Schultern zurufen: „Bis bald, Papa, ich ruf Dich an!“