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U 2

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02.11.2001
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U 2

Ludwig steht auf der knarrenden Rolltreppe und verschwindet langsam im spärlich beleuchteten Untergrund der Station. Eine Gruppe Jugendlicher hetzt lärmend an ihm vorbei, ein Mädchen verliert im Leichtsinn des ungestümen Vorbeidrängens ihren Walkman, polternd fällt dieser auf das in die Tiefe gleitende Treppensegment. Ludwig erkennt flüchtig und ansatzweise die Melodie aus dem verbogenen Kopfhörer zu seinen Füßen und summt leise mit. Noch bevor die Treppe unter der nahenden Metallführung im Boden verschwindet, noch bevor Ludwig helfen kann, hat das Mädchen sein verlorenes Gerät ergriffen und läuft fluchend den anderen nach, die lautstarke Gespräche im Dämmerlicht der Station führen. "Pink Floyd", wispelt Ludwig kaum hörbar zwischen seinen deformierten Lippen hervor, und "wish you were here".

Ludwig sitzt jetzt schon länger als zwei Stunden hier in diesem als Kunststoffschale gegossenen Sessel und wartet. Der Großteil der in dieser Station vorhandenen Sitzgelegenheiten ist demoliert und unbrauchbar. Vor ein paar Minuten hat er seinen Platz einer übermüdet wirkenden schwangeren Frau angeboten. Es entstand ein richtiges Gespräch zwischen ihr und Ludwig, und Ludwig bemerkte erschüttert die Traurigkeit in der zittrigen Stimme der Frau und in dem Moment fuhr der Zug kreischend in die Station ein und übertönte seine an die Frau gerichteten, geschrienen Worte des Trostes. Bei der Abfahrt des Zuges sieht er sie mit Schweissperlen auf ihrer Stirn und den freien, zuckenden Schultern hinter der pneumatisch verriegelten Türe des Waggons lehnen und wie sie ihn mit großen Augen anstarrt. Ludwig ist aufgesprungen und beobachtet mit offenem Mund die schwarzen Schienenstränge und die Lichter des davongleitenden Zuges und die vertraute Perspektive der sich verengenden Tunnelröhre.

An der Decke sind Kabelstränge montiert und auch die für den Zugbetrieb notwendigen Versorgungsleitungen. Ludwig kennt das alles, Vertrautheit überall. Die in kurzen Abständen an den Tunnelwänden angebrachten Lampen der Notbeleuchtung verschwinden mit zunehmender Entfernung als kleine grüne Punkte in beiden Richtungen in der Tiefe der Tunnelröhre. Kameras beobachten die Eingänge und Ausgänge der Station, überprüfen die Gegebenheiten, überprüfen auch Ludwig. Der aus der entgegengesetzten Richtung kommende Zug hält rasselnd am gegenüber liegenden Bahnsteig. Ein sehr altes Paar, bemerkt Ludwig, steigt gebeugt aus und hält sich fest an den Händen. Halbwüchsige schwenken Bierdosen und verschütten johlend einen Teil des Inhalts über den grau karierten Stoffmantel des alten Mannes. Das Paar verschwindet auf der nach oben führenden Rolltreppe, wehrlos der Streit suchenden Meute ausgeliefert. Menschen hasten bedenkenlos vorbei, helfen nicht. Ludwig blickt starr auf die gelbe Begrenzungslinie am Bahnsteig und kaut an der stark vorgewölbten Unterlippe. Er ist aufgewühlt und sein gesundes Herz pocht wild und er scharrt mit seinen von den Knien abwärts nach innen gedrehten Füssen am Asphalt des Stationsbodens. Die hat er seit seiner Geburt und die vielen nachträglichen Operationen haben die Anatomie seiner verwachsenen Beine nicht wesentlich verbessert. "Kein sportlicher Sohn für Papa" stammelt Ludwig zu sich selbst an Regentagen, wenn er sich aufheitern will.

Ludwig liest viel und hat immer viel gelesen. Zu viel verdorbener Schund, hat seine Mutter gesagt. Immer alleine, hat Ludwig gedacht. Doch das soll nun vorbei sein, denkt Ludwig heute. Nächtelang, oft bis in den frühen Morgen, hat er die Abfahrts- und Ankunftszeiten der Züge in sämtlichen Untergrundstationen - Kellerstationen sagt Ludwig dazu - gelesen und studiert und sorfältig berechnend aus dem sich Anbietenden die endgültige Station ausgesucht. Die Endstation. Seine Endstation. Hier, das weiß er, ist mit der höchsten Einfahrgeschwindigkeit des Zuges in die Station und auf Grund der Kürze der Zusteigplattform auch mit dem kürzesten Bremsweg zu rechnen. Ludwig hat lange gewartet in der Leere und Einsamkeit seiner Kellerwohnung. Niemand hat dort angeklopft, niemand nach ihm gefragt. Es ist jetzt 23.55h. Ludwig wartet auf den letzten Zug in dieser Nacht, kann kaum das Klopfen an die Kellertüre erwarten. Als die ersten Lichter entlang der Tunnelwände aufblitzen und das Dunkel zum Tag machen, stellt sich Ludwig an der gelben Begrenzungslinie auf. "U 2, Endstation" wispelt er leise und lässt sich glücklich lächelnd auf die lichtglänzenden Schienenstränge fallen.

 

Hallo!

Mir fehlt hier das Motiv für Ludwigs Selbstmord. Ist es nur wegen seiner Behinderung? Da sitzt er in der Station, versucht einem Mädchen zu helfen, versucht einer Frau Trost zu spenden, beobachtet den Lauf der Dinge (das mit den Jugendlichen halte ich für arg übertrieben)... und dann?

Halbzeit! Seitenwechsel!

Es wird kurz erwähnt, daß Ludwig vereinsamt ist, aber reicht das als Motiv für einen perfekt ausgeklügelten Selbstmord? Ich weiß nicht so recht. Auch sein Aussehen rechtfertigt in meinen Augen nicht den Suizid!

Gut geschrieben allemal! Da gibt es nichts dran auszusetzen!

Nur: Was ist "wispelt"?

Sodele!

Poncher

 

"Wispelt" ist Wiener Dialekt für "whispered", denke ich mir mal so... :D :D :D

Ich denke, Ludwig bringt sich um, da er den Kellerraum, in dem er allein und einsam lebt, durch den belebten "Keller" U-Bahn ersetzen möchte. Hier in der Underground Station gibt es fast immer Menschen, die hin und her laufen, und Leben ausstrahlen. Er kann sogar in Kontakt mit ihnen treten, durch Hilfestellungen, durch Nettigkeiten. Um sich das für immer zu bewahren, macht er die Underground Station zu seiner neuen Heimat, im Tode.

Wenn man nach jedem Satzzeichen eine Leerstelle macht, ist der Text leichter zu lesen. ;) :)

 

Wieder 'ne Suizidstory...diese ist aber besser.

Die Interpretation von Roswitha klingt einleuchtend...aber läßt sie sich am Text belegen? Ich habe jedenfalls keine genaue Textstelle gefunden, die das belegt...lasse mich aber gerne vom Gegenteil überzeugen.

Stimme da eher Poncher zu...die Erklärung oder Rechtfertigung des Selbstmords ist noch zu schwach. Aber, wie gesagt, im Vergleich mit anderen hier geposteten Texten mit paralleler Thematik deutlich ausgereifter.

Auf alle Fälle gut erzählt! :thumbsup:

San

 

Der sparsame Umgang mit Hinweisen scheint System zu haben ;-)
Hier eine Textstelle aus dem (sicher nicht zufällig) erwähnten Pink Floyd Titel:

So, so you think you can tell
Heaven from Hell,
Blue skys from pain.
Can you tell a green field
From a cold steel rail?

A smile from a veil?
Do you think you can tell?

Grüße Martin

 

Ich habe mir das auch überlegt, aber kann diese Pink Floyd Texte nicht mehr so einfach aus dem Kopf rezitieren wie Du anscheinend! ;) :D

 

Mir gefiel die Geschichte echt sehr gut!
Ich habe überhaupt nichts daran auszusetzen bis auf das man die Story mit Lehrzeichen besser lesen könnte, aber das hat auch Rosi schon geschrieben.

Ich bin nicht Ponchers Meinung.
Ich finde, das diese Geschichte mal zeigt, aus welchen Gründe die Menschen oft des Lebens müde werden. Hier ist es Einsamkeit.
lässt sich meiner Meinung nach leicht erkennen.

Einsamkeit ist in der von medien überhäuften Welt ein sehr unterschätztes problem.
Und dieser Ludwig ist nicht der erste, dem dieses problem in den Tod treibt.
Ausserdem finde ich, die Tatsache dass er so hilfreich ist um mit anderen menschen Kontakt aufzunehmen ist hier leicht zu erkenne!

Also Aqualung!
Mir hat die Geschichte gut gefallen, ich würde mich aber mal freuen, etwas fröhlichers von dir zu lesen!
etwas das mehr Optimismus ausstrahlt!

 

gut geschrieben, keine frage! ich konnte beim lesen ganz genau nahchvollziehen , warum der protagonist sich umbringt, die beklemmende athmosphäre der ubahn lässt sich vielleicht mit der von ludwigs leben vergleichen...die sache mit den satzzeichen seh ich auch so. ich finds allerdings blöd, jemandem zu sagen, er soll doch mal was fröhliches schreiben! wem grad nicht nach fröhlichen geschichten is,t der schreibt eben auch keine. und nicht jeder möchte optimismus verbreiten...

 

Nimm es Hennaboinli nicht übel... ;) Wenn ER nicht Optimismus ausstrahlt, wer dann... er ist nämlich erwartend... äh, oder besser, seine Frau... :) :D

 

>Story mit Lehrzeichen<

entschuldige bitte, Hennaboindl, daß ich mir mal deinen Freudschen Vertipper borge ;-)
Ich kann's leider nur etwas länger ausdrücken:
Die uns befremdende Motivlosigkeit könnte auch umgedeutet werden in die Gegenfrage, wozu ein Selbstmord einer Rechtfertigung bedürfen müßte. Wer will was vor wem rechtfertigen? Der Tote seine Tat vor sich? Vor uns? Wir uns das Unbegreifliche vor unserer Betroffenheit? Kann Ludwig vielleicht deshalb nicht einfach so - glücklich lächelnd - gewollt - geplant - bewußt aus dem Leben scheiden, weil wir es nicht wahrhaben wollen (können)?

>"U 2,Endstation"< (Aussteigen bitte!) könnte eventuell auch bedeuten, das bisherige Leben >Leere und Einsamkeit seiner Kellerwohnung< zu verlassen in freudiger Erwartung >kann kaum das Klopfen an die Kellertüre erwarten< (knocking on heavens door) einer kommenden Erfüllung >lässt sich glücklich lächelnd auf die lichtglänzenden Schienenstränge fallen< (impliziert ein Ins-Licht-Treten)
Das ist eine mögliche Lesart der metaphorischen Stellen, die wie Inseln aus einem konsequent nüchtern-beschreibenden Erzählstil ragen. Nicht zufällig, meine ich. Nach meinem Empfinden bleibt der Text bewußt vage - andeutend - interpretationsoffen ... für eine freies Spiel der Assoziationen, deren Verkettung fast automatisch von Suizid = Selbsttötung = Verzweiflungstat zu laufen scheint. Durchaus möglich, daß der Autor hier mit unseren "Suizidal-Klischees" arbeitet. Wäre jedenfalls nach meinem Empfinden eine (schlüssige?) Erklärung für die "Unstimmigkeiten" im Text.

Grüße Martin

[Beitrag editiert von: Abyssal am 17.11.2001 um 10:31]

 

...und der Autor ist verschwunden oder hüllt sich vornehm in Schweigen... :D :D

 

"...und der Autor ist verschwunden oder hüllt sich vornehm in Schweigen..."
Jetzt ist er wieder da... :)

Hallo Aqualung!

Auch, wenn mir Selbstmordgeschichten an sich nicht so sehr gefallen, finde ich diese hier doch sehr gut. Sie hebt sich ab vom Meer der Suizid-Stories, sowohl durch Deinen gekonnten Stil als auch durch die Tatsache, daß einmal nicht der Partner, der sich trennen will oder ähnliches der Auslöser für diesen Schritt ist.

Die Einsamkeit, die unerträgliche Schnelllebigkeit der Stadt und ihrer Menschen, die achtlos an allem vorbeilaufen, nicht wahrnehmen, daß hier ein Mensch an Einsamkeit stirbt. Nicht einmal, nachdem sie ihn angeschüttet haben, bleiben sie stehen, hasten eilig weiter, Streit statt Menschlichkeit suchend.
"Whish you where here" sagt allein schon sehr viel und ich denke auch nicht, daß man den gesamten Text kennen muß, um Deine Geschichte zu verstehen...

Was Du vielleicht ein kleines bisschen mehr beleuchten könntest (aber nicht unbedingt notwendig), ist die Sache mit "kein sportlicher Sohn für Papa". Mir ist schon klar, daß Du damit einen Grund liefern willst, warum es überhaupt so weit gekommen ist mit ihm, warum er versagt hat.
Er konnte die Erwartungen/Anforderungen nicht erfüllen, war von anfang an nicht der, den man gern gehabt hätte...

Nur das mit den Abständen nach Satzzeichen, das könntest Du ja jetzt vielleicht mal ändern?

Alles liebe
Susi

[ 09.08.2002, 14:25: Beitrag editiert von: Häferl ]

 

servus aqualung !
Die Geschichte gefällt mir, man kann sich die hervorgehobenen Szenen gut vorstellen. Er schaut hin wo er trösten möchte und schaut weg wo er Angst hat, bis hin zu seinen äußerlich Behinderungen und jenen die er in sich verborgen trägt.
Es gibt aber eine Stelle die mich beschäftigt weil ich sie nicht verstehen kann. Er wirft sich glücklich lächelnd ... auf die Schienenstränge ...
Glückliches Lächeln setzt voraus, dass ich Freude oder vieleicht sogar Erfüllung empfinde, eine Art von Befreiung welche mein Tun hervorruft. Ich lese heraus, dass er lieber gelebt hätte, ein anderes Leben mit mehr Kommunikation und Zuneigung. Er wollte wahrgenommen werden, dort sehe ich sein Glück liegen. So hat er nur Erlösung gesucht weil er dieses Glück nicht finden konnte jenseits des Todes.
Wie siehst du das? Lieben Gruß an dich

 

Hi schnee.eule,

Befreiung sucht Ludwig. Genau das ist es. In seinem Fall sind es die kalten Schienenstränge. Er will eben nicht mehr, war wahrscheinlich mit dem ihm aufgezwungenen Leben nicht glücklich. Jetzt das Glück, Schienenstränge zu finden...Ein spätes Glück, ein kleines nur.

Liebe Grüße - Aqualung

 

Hi Aqualung!

Sieh doch bitte auch mal weiter nach oben... ;)

Alles liebe
Susi

 

Hallo Häferl,

danke für deinen Tip, auch weiter nach oben zu sehen und vor allem danke für deine Kritik.
Der ,sportliche Sohn für Papa' entstand durch den Gedanken an einen langjährigen Freund von mir. Der wird von seinem fussballspielenden Papa fast täglich verbal an seine eigene körperliche Missbildung im Bereich der Beine erinnert. Mehr ist es nicht. Es gibt Eltern, die ihre Kinder nach dem Grad ihres Wuchses beurteilen und lieben......

Viele liebe Grüße - Aqualung

 

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