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U 2
Ludwig steht auf der knarrenden Rolltreppe und verschwindet langsam im spärlich beleuchteten Untergrund der Station. Eine Gruppe Jugendlicher hetzt lärmend an ihm vorbei, ein Mädchen verliert im Leichtsinn des ungestümen Vorbeidrängens ihren Walkman, polternd fällt dieser auf das in die Tiefe gleitende Treppensegment. Ludwig erkennt flüchtig und ansatzweise die Melodie aus dem verbogenen Kopfhörer zu seinen Füßen und summt leise mit. Noch bevor die Treppe unter der nahenden Metallführung im Boden verschwindet, noch bevor Ludwig helfen kann, hat das Mädchen sein verlorenes Gerät ergriffen und läuft fluchend den anderen nach, die lautstarke Gespräche im Dämmerlicht der Station führen. "Pink Floyd", wispelt Ludwig kaum hörbar zwischen seinen deformierten Lippen hervor, und "wish you were here".
Ludwig sitzt jetzt schon länger als zwei Stunden hier in diesem als Kunststoffschale gegossenen Sessel und wartet. Der Großteil der in dieser Station vorhandenen Sitzgelegenheiten ist demoliert und unbrauchbar. Vor ein paar Minuten hat er seinen Platz einer übermüdet wirkenden schwangeren Frau angeboten. Es entstand ein richtiges Gespräch zwischen ihr und Ludwig, und Ludwig bemerkte erschüttert die Traurigkeit in der zittrigen Stimme der Frau und in dem Moment fuhr der Zug kreischend in die Station ein und übertönte seine an die Frau gerichteten, geschrienen Worte des Trostes. Bei der Abfahrt des Zuges sieht er sie mit Schweissperlen auf ihrer Stirn und den freien, zuckenden Schultern hinter der pneumatisch verriegelten Türe des Waggons lehnen und wie sie ihn mit großen Augen anstarrt. Ludwig ist aufgesprungen und beobachtet mit offenem Mund die schwarzen Schienenstränge und die Lichter des davongleitenden Zuges und die vertraute Perspektive der sich verengenden Tunnelröhre.
An der Decke sind Kabelstränge montiert und auch die für den Zugbetrieb notwendigen Versorgungsleitungen. Ludwig kennt das alles, Vertrautheit überall. Die in kurzen Abständen an den Tunnelwänden angebrachten Lampen der Notbeleuchtung verschwinden mit zunehmender Entfernung als kleine grüne Punkte in beiden Richtungen in der Tiefe der Tunnelröhre. Kameras beobachten die Eingänge und Ausgänge der Station, überprüfen die Gegebenheiten, überprüfen auch Ludwig. Der aus der entgegengesetzten Richtung kommende Zug hält rasselnd am gegenüber liegenden Bahnsteig. Ein sehr altes Paar, bemerkt Ludwig, steigt gebeugt aus und hält sich fest an den Händen. Halbwüchsige schwenken Bierdosen und verschütten johlend einen Teil des Inhalts über den grau karierten Stoffmantel des alten Mannes. Das Paar verschwindet auf der nach oben führenden Rolltreppe, wehrlos der Streit suchenden Meute ausgeliefert. Menschen hasten bedenkenlos vorbei, helfen nicht. Ludwig blickt starr auf die gelbe Begrenzungslinie am Bahnsteig und kaut an der stark vorgewölbten Unterlippe. Er ist aufgewühlt und sein gesundes Herz pocht wild und er scharrt mit seinen von den Knien abwärts nach innen gedrehten Füssen am Asphalt des Stationsbodens. Die hat er seit seiner Geburt und die vielen nachträglichen Operationen haben die Anatomie seiner verwachsenen Beine nicht wesentlich verbessert. "Kein sportlicher Sohn für Papa" stammelt Ludwig zu sich selbst an Regentagen, wenn er sich aufheitern will.
Ludwig liest viel und hat immer viel gelesen. Zu viel verdorbener Schund, hat seine Mutter gesagt. Immer alleine, hat Ludwig gedacht. Doch das soll nun vorbei sein, denkt Ludwig heute. Nächtelang, oft bis in den frühen Morgen, hat er die Abfahrts- und Ankunftszeiten der Züge in sämtlichen Untergrundstationen - Kellerstationen sagt Ludwig dazu - gelesen und studiert und sorfältig berechnend aus dem sich Anbietenden die endgültige Station ausgesucht. Die Endstation. Seine Endstation. Hier, das weiß er, ist mit der höchsten Einfahrgeschwindigkeit des Zuges in die Station und auf Grund der Kürze der Zusteigplattform auch mit dem kürzesten Bremsweg zu rechnen. Ludwig hat lange gewartet in der Leere und Einsamkeit seiner Kellerwohnung. Niemand hat dort angeklopft, niemand nach ihm gefragt. Es ist jetzt 23.55h. Ludwig wartet auf den letzten Zug in dieser Nacht, kann kaum das Klopfen an die Kellertüre erwarten. Als die ersten Lichter entlang der Tunnelwände aufblitzen und das Dunkel zum Tag machen, stellt sich Ludwig an der gelben Begrenzungslinie auf. "U 2, Endstation" wispelt er leise und lässt sich glücklich lächelnd auf die lichtglänzenden Schienenstränge fallen.