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Typisch
Es war voll hier. Überall strömten Menschen in alle Richtungen. Frauen eilten in Richtung Toiletten, Kinder kamen mit geröteten Augen gähnend aus den Sälen, während ihre Mütter sie ermahnten, die Hand vor den Mund zu halten und Jugendliche hasteten kichernd und durcheinander redend durch die Eingangstür. Anscheinend waren sie zu spät, weil sie bestimmt noch Zeit damit verbracht hatten, sich Proviant in irgendeinem billigen Supermarkt zu besorgen, damit sie nicht das teure Essen an der Theke kaufen mussten. Die Schlangen an Kasse und Theke waren endlos lang, gefüllt mit Menschen, die ungeduldig mit dem Fuß auf den Boden tippten, alle drei Sekunden genervt auf ihre Uhr starrten oder ratlos die Angebotstafel anstarrten.
Ich saß währenddessen amüsiert auf einer freien Treppenstufe, knabberte mein vor kurzem ergattertes Popcorn und beobachtete interessiert die Leute, während ich darauf wartete, dass mein Film anfing und ich mich in den Kinosaal setzen konnte. Mein Tanzunterricht war heute kurzfristig ausgefallen und da die Tanzschule eine halbe Stunde Autofahrt von meinem zu Hause entfernt lag, es keine Busverbindungen gab und ich mit meinen sechzehn Jahren noch nicht selber Auto fahren konnte, hatte ich kurzerhand beschlossen, dass ich in der Zeit, bis mich meine Mutter wieder holte, mir auch endlich den neuen Film mit Leonardo DiCaprio anschauen konnte. Da der aber erst in fünfzehn Minuten anfing, hatte ich noch ein wenig Zeit für meine Lieblingsbeschäftigung. Menschen beobachten. Während ich mir sehr unelegant eine weitere Hand Popcorn in den Mund schob, musste ich mir Mühe geben, es nicht gleich wieder auszuspucken, als ich sah, wie ein Pärchen in der Ecke vor Kinosaal 4 eine filmreife Performance ablegte.
Sie hatten wohl irgendeinen Anlass zu feiern, denn beide hatten sich sehr schön angezogen. Vermutlich hatte irgendeiner von beiden Geburtstag oder sie hatten Jahrestag. Jedenfalls versuchte der Mann wohl, die Frau wegen irgendetwas zu beruhigen. Er hatte sein Gesicht zu einer flehenden Grimasse verzogen und versuchte, sie am Arm zu berühren. Doch sie entzog sich ihm und warf ihre blonde Mähne (mal wieder typisch, es waren immer blonde Frauen, mit einem hautengen schwarzem Etuitkleid und einer Figur wie Claudia Schiffer) mit einer schwungvollen Kopfbewegung nach hinten. Sie erwiderte etwas, dass ich aus der Entfernung natürlich nicht verstehen konnte (und sah dabei wirklich giftig aus) und gab dem Mann eine schallende Backpfeife. Das war leider genau der Moment gewesen, in dem ich den Mund voller Popcorn gehabt hatte und ich verschluckte mich natürlich bitterlich. Mit Tränen in den Augen konnte ich gerade noch erkennen, wie sie davon rauschte und ihr – jetzt wohl nicht mehr lange – Freund ihr hinterher eilte. Bestimmt hatte er sie betrogen.
„Der Jahrestag ist nun wirklich ein schlechter Zeitpunkt, um so etwas zu beichten, mein Lieber.“, krächzte ich und nahm einen Schluck von meiner Cola, um die Schmerzen in meinem Hals zu lindern.
Da diese beiden nun nicht mehr da waren, richtete sich meine Aufmerksamkeit auf die Tür, die zum Kinosaal 7 führte und sich nun schlagartig öffnete. Sofort drang lautes Babygeschrei an meine Ohren und ich sah, wie eine Frau mit zwei kleinen Kindern auf den Armen, vermutlich Zwillinge, heraus kam und sich den nächstgelegenen Sessel suchte, um sich dort hinzusetzen. Die arme Frau hatte tiefe Ringe unter den Augen und ihr Haar hing spröde an ihrem Kopf herunter. Und die Kinder brüllten. Beide waren so laut, dass nicht nur ich darauf aufmerksam wurde, sondern die Hälfte der Kinobesucher. Während der Kinderfilm, der in Saal 7 lief, weiter ging, versuchte die erschöpfte Frau, ihre beiden Schreihälse zu beruhigen. Doch sie gaben keine Ruhe. Die Frau tat mir wirklich leid. Nun saß sie da. Mit zwei blökenden Babys vor sich, total entnervt, weil das eine dem anderen irgendein Kuscheltier geklaut hatte, während der Rest ihrer Familie alleine den Film weiter schaute.
Nun war es ihr wohl zu viel der ungewollten Aufmerksamkeit. Sie packte beide Kinder und eilte mit ihnen nach draußen.
„Oh je, da bekommt man doch immer weniger Lust auf eigene Kinder.“, murmelte ich und warf einen Blick auf mein Handy.
Noch zehn Minuten, bis sie den Saal öffneten.
Mein Blick wanderte weiter. Während ich abgelenkt war, hatte ein ziemlich gut aussehender Junge, ich schätzte ihn auf ungefähr ein Jahr älter als ich, das Kino betreten und lehnte lässig an einer Wand, ungefähr zehn Meter von mir entfernt, während er suchend durch den Raum blickte. Bestimmt wartete er auf sein heißes Date, dass er diesen Abend noch flachlegen wollte und hatte sich deswegen heute besonders nach seinem Bad-Boy-Image gekleidet. So sah es zumindest aus. Seine weiten Jeans waren an Oberschenkeln und Knien zerrissen und hingen ihm beinahe unter dem Po (was übrigens ein sehr schöner Po war, wenn man das mal anmerken durfte) und ließ über dem Bund noch Einblick auf seine schwarz karierten Boxershorts. Das T-Shirt war gerade so eng, dass es seine Bauchmuskeln wunderbar betonte, aber nicht eng genug, als dass es schlecht ausgesehen hätte. Noch dazu war es weiß, wodurch seine Haut noch brauner schimmerte und darauf war ein schwarzer Schriftzug zu sehen der „Bomb me“ forderte. Die fast schwarzen Haare hatte er zu einer lässigen Frisur hoch gegelt und saßen natürlich perfekt. Kurz raubte mir sein Anblick den Atem, während ich ihn so anstarrte. Doch dann hob er die Hand und fuhr sich damit so selbstgefällig durch die Haare, dass mir wieder einfiel, dass das auf jeden Fall einer dieser nervigen Typen war, die richtig gut aussahen und das leider auch ganz genau wussten.
„Jetzt krieg dich wieder ein, Lina. Du weißt ganz genau, dass du diese Art Jungs nicht ausstehen kannst.“, versuchte ich mich selber zu ermahnen.
Doch ich merkte, wie ich augenblicklich wieder zu ihm schauen musste und ihn dabei beobachtete, wie er sein Standbein wechselte und weiter durch den Raum blickte. Er sah wirklich gut aus. Bestimmt hatte er grüne Augen. Oder blaue. So ein Junge hatte immer leuchtend helle Augen, die man gar nicht erwartet hätte, wenn man sie so sah. Und seine Freundin, die er heute Abend traf war sicherlich auch so eine blonde Schönheit. Mit einem Mal fühlte ich mich ziemlich blöd mit meinen kastanienbraunen Locken.
Doch das musste ich nicht! Wenn seine Freundin blond war, war das eben so. Ich liebte meine braunen Haare!
Doch aus irgendeinem Grund erschien keine blonde Schönheit und so wartete ich darauf, dass er endlich von irgendjemandem abgefangen wurde und starrte ihn weiter an. Bis sein Blick auf einmal meinen traf. Kacke. Er hatte mich beim Starren ertappt und im ersten Moment war ich so geschockt, dass ich vollkommen vergaß, wegzuschauen. Er grinste mich schief an und noch bevor es mir wieder einfallen konnte, weg zu gucken und so tun konnte, als hätte ich ihn niemals angeschaut, lief er auch schon los und steuerte zielstrebig auf mich zu. Ich warf noch einen raschen Blick auf die Uhr. Mist. Noch acht Minuten bis zum Einlass. Das hieß wohl, ich musste mit ihm reden. Als ich wieder aufblickte saß er schon neben mir und grinste mich noch immer selbstgefällig an.
„Hi.“
Ich überlegte hastig, wie ich reagieren sollte und entschied mich dafür, erst einmal ganz cool zu bleiben.
„Hi.“, ich nickte ihm kurz zu und wandte mich dann wieder ab, in der Hoffnung, er würde den Wink verstehen und verschwinden. Was er nicht tat.
„Warum sitzt du denn alleine hier?“
Oh nein. Flirtete der etwa mit mir? Es sah fast so aus. Jedenfalls redete er mit einer rauen Stimme und lehnte sich näher zu mir heran, als es der Anstand eigentlich erlaubt hätte. Bestimmt hatte ihn seine blonde Freundin versetzt und nun suchte er sich eine Alternative. Aber nicht mit mir! Ich war doch kein One-Night-Stand! Ich schaute ihn nur aus dem Augenwinkel an, damit ich mich nicht durch irgendetwas an ihm ablenken lassen konnte und erwiderte so trocken ich konnte:
„Warum glaubst du, ich sei alleine hier?“
Auf eine Frage immer eine Gegenfrage. Das legt dich nicht fest. Gut Lina.
„Nun ja“, meinte er und ich bemerkte, wie seine Mundwinkel leicht zuckten. „Es sitzt kein anderer auf dieser Stufe, würde ich mal sagen.“
„Und das lässt dich glauben, dass ich alleine hier bin? Kann es nicht auch sein, dass meine Begleitung einfach nur kurz auf dem Klo oder etwas kaufen ist?“
Kurzer Blick auf die Uhr. Noch sieben Minuten.
Noch immer schaute ich ihn nicht direkt an und hörte nur seine Stimme neben mir rau lachen.
„Entschuldige. Ich bin nur nicht davon ausgegangen, dass noch jemand kommt, nachdem du Minuten lang alleine hier gesessen hast.“
Ich seufzte innerlich. Der wusste echt, welche Hebel er ziehen musste. Macho. Ich neigte mein Gesicht leicht in seine Richtung, achtete aber weiterhin darauf, dass ich nur seine Hände sah, die lässig in die Hosentaschen geschoben waren, während ich antwortete.
„Na gut. Du hast mich ertappt. Ich bin alleine hier. Und zu deiner Frage warum: einfach so. Wozu musstest du das jetzt wissen?“
„Nur so. Ich habe mich nur gewundert, dass ein hübsches Mädchen wie du alleine ins Kino geht, statt mit einem ihrer vielen Verehrer.“
Jetzt konnte ich nicht mehr anders. Ich musste einfach lachen. Das war ja echt armselig schlecht. Gut, er fand mich hübsch und... Hey! Das war einer der Top 10 Anmachsprüche, wenn man die googeln würde. Da fiel ich nun wirklich nicht drauf rein. Also sagte ich lachend.
„Tut mir Leid. Ich fühle mich natürlich geehrt, dass du denkst ich sei hübsch und so, aber das war jetzt wirklich schäbig. Denk dir mal neue Sprüche aus, mit denen du ein Mädchen beeindrucken kannst und benutze nicht diese 08/15 Sprüche, von denen jeder weiß, dass du sie jedes Mal verwendest.“
Noch immer musste ich kichern und der Junge lehnte sich endlich ein Stück von mir weg sodass ich mich nun doch traute, meinen Blick wenigstens bis zu seinem Mund wandern zu lassen, der erstaunlicherweise immer noch zu einem Grinsen verzogen war. Er klang amüsiert, als er sagte:
„Meinetwegen. Der war schlecht. Ich bin John und du?“
Ich war immer noch skeptisch. So wie er sich bewegte, was er tat, was er sagte, überhaupt, dass er mich einfach mal so in einem Kino ansprach und mit mir flirtete, zeigte mir, dass es für ihn nur ein lustiges Spiel war. Und ich hatte keine Lust auf ein Spiel. Um ehrlich zu sein, hatte ich nur Lust darauf, gleich in aller Ruhe Leonardo DiCaprio auf der Leinwand zu bewundern. Also wurde ich auch nicht persönlich und nannte ihm einfach mal meinen Namen.
Gegenfrage, Lina, Gegenfrage!, ermahnte ich mich, damit ich mich ja nicht von ihm und seinen geschwungenen Lippen mitreißen ließ.
„John? Bist du Engländer oder sowas?“
„Wieso?“
„Nun, John ist doch ein geläufiger englischer oder amerikanischer Name. Ich dachte vielleicht...“, ich schaute lieber wieder zu seinen versteckten Händen, da war es leichter sich zu konzentrieren. Doch er unterbrach mich.
„Achso. Nein. Eigentlich heiße ich Jonathan. Aber da mein Vater genauso hieß wollte ich nach seinem Tod nicht, dass ich ständig an ihn erinnert werde, wenn mich jemand ruft.“
Diese Aussage schockte mich nun doch. Erschüttert schaute ich auf, vergaß alle Vorsätze und schaute ihm mitleidig in die Augen.
„Oh je, das tut mir leid.“
Ich fühlte mich ziemlich taktlos und versuchte, meine Entschuldigung auch in meinem Blick zu zeigen. Dabei schaute ich ihm zum ersten mal richtig in die Augen und stockte kurz. Sie waren braun. Die Augen vom super coolen Aufreißer John waren nicht wie gedacht leuchtend blau oder grün, sondern tief braun. Ach wie nett. Das gab einen Pluspunkt für John, dessen Gesicht sich nun beschwichtigend verzog.
„Keine Sorge. Das ist schon lange her. Aber du hast mir immer noch nicht gesagt, wie du heißt.“
Das waren wirklich schöne braune Augen. Wie Schokolade. Ganz tief und weich. Sie umhüllten mich warm und trotzdem blitzte noch der Funken Lebensfreude in ihnen auf. Sehr braun.
„Hallo? Ist alles okay?“
Johns Augenbrauen zogen sich nach oben und legten seine Stirn in Falten. Und ich wurde aus meinen Träumereien gerissen. Stimmt ja, er hatte mich etwas gefragt. Ich blinzelte kurz und sortierte meine Gedanken.
„Oh, äh, ja... Lina. Ich heiße Lina. Aber nach keinem toten Menschen oder so benannt. Einfach nur so.“
Er lachte kurz auf und fuhr wieder mit dieser coolen Geste mit der Hand durch seine dunklen Haare.
„Das klingt ja schön. Also Lina, was schaust du dir denn an? Wann beginnt eigentlich dein Film?“
Ich spürte, wie meine Wangen rot anliefen. Auf einmal war es mir peinlich, dass ich gleich ein Leinwand-Date mit Leonardo DiCaprio hatte. Ich musste John ja nicht unbedingt auf die Nase binden, dass ich ein riesiger Fan war und mir alle seine Filme anschaute. Also beantwortete ich mit einem kurzen Blick auf mein Handy lediglich seine zweite Frage.
„Mein Film fängt in drei Minuten an. Und deiner?“
„Wie spät ist es denn?“, fragte John und griff kurz nach meinem Handy, das ich noch in den Händen hielt. Nach einem kurzen Blick darauf fuhr er geschockt hoch und stand auf.
„So spät schon? Mist. Mein Film hat schon begonnen. Ich wette meine Freunde warten schon auf mich. Tut mir leid. Ich muss los.“
Auch ich stand auf, da nun auch mein Kinosaal geöffnet wurde und lächelte ihn an.
„Kein Problem. Ich geh jetzt auch.“
Er wollte schon weg hetzen, doch dann hielt er noch mal kurz inne, lächelte ein verführerisches, schiefes Lächeln und sagte:
„War nett mit dir zu plaudern, Lina.“
Mit diesen Worten beugte er sich vor und umarmte mich kurz. Mir stockte der Atem und mein Herz schlug aufgeregt, während er sich schon wieder von mir löste und los eilte. Ich merkte, dass ich versonnen lächelte und ihm hinterher starrte, obwohl er längst verschwunden war.
Moment mal... Umarmung? War nett mit dir zu Plaudern? Verdammt! Ich war voll und ganz auf seine Masche reingefallen. Gut, ich bin nicht mit ihm nach Hause gegangen, aber er hatte mich komplett um den kleinen Finger gewickelt. So ein Mist! Bestimmt war sein Vater gar nicht gestorben und der hieß auch sicher niemals Jonathan. Dieser Typ hatte es echt drauf. Und ich hatte ihm noch vorgeworfen, schlechte durchschaubare Anmachsprüche zu benutzen. Jetzt schämte ich mich regelrecht dafür, wie leicht er es mit mir hatte. Ich blickte mich um und hoffte, dass es keiner mitbekommen hatte, griff nach meinem Popcorn und der Cola und eilte fluchtartig in den abgedunkelten Kinosaal. Bestimmt lachte John (wenn er wirklich so hieß) sich gerade mit seinen Freunden kaputt über mich und darüber, wie bereitwillig ich ihm meinen Namen genannt hatte und auf ihn hereingefallen war. Plötzlich hatte ich so gar keine Lust mehr auf Leonardo DiCaprio und wünschte mir nur, ich könnte die letzten paar Minuten ungeschehen machen.