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Turkey
Der eisige Novemberwind griff unter die viel zu kurze Cordjacke und brachte das schweißnasse T-Shirt auf seiner Haut zum Flattern. Ohne seine Schritte zu verlangsamen, schlang er die Arme um den Oberkörper. Die Plastiktüte mit der alten Parka schlug gegen seine Schulter.
Schweißtropfen krochen aus den Achselhöhlen, liefen wie kleine kalte Tiere herunter, die sich hinter dem Gürtel zu einem feuchten Ring versammelten.
Mit gesenktem Kopf folgte er einer Fuge zwischen den Gehwegplatten, stürzte ihr auf der abschüssigen Straße mit jedem Schritt entgegen, nur um von seinen durchweichten Turnschuhen weiter geschleudert zu werden. Der kalte harte Klumpen in seinen Eingeweiden schlingerte bei jeder Stoßwelle, ehe sie schmerzhaft unter seine Schädeldecke prallte.
Er hatte das Hallenbad passiert, neben ihm erstreckte sich jetzt die rote Ziegelmauer des Freibadgeländes. An der verlassenen Nebenkasse blieb er stehen. Sein Magen pulsierte im Gleichtakt mit dem Herzschlag, als er sich umsah, ehe er die Straßeseite wechselte. Auf dem unbefestigten Weg zum Parkplatz drang wässriger Schlamm durch die Löcher seiner Schuhe. Neben der Tannenschonung blickte er sich noch einmal um.
Niemand.
Er schaffte die Böschung, ohne auszurutschen. Tropfende Tannenzweige hinterließen dunkle Flecken auf seinen Hosenbeinen, schließlich erreichte er eine freie Stelle. Ein Krampf kroch in seinen Unterarm, als er die Tüte fallen ließ. Mit leerem Blick starrte er auf das abstrakte rote und blaue Muster, das der Aufdruck in seiner Handfläche hinterlassen hatte, während er den Arm massierte.
Nicht denken.
Tu es einfach.
Du musst.
Keine Wahl.
Seine Zähne schlugen aufeinander, er presste die Kiefer zusammen. Dann nahm er die Parka aus dem Plastikbeutel, schlüpfte hinein und zog den Reißverschluss hoch. Sorgfältig drückte er das Wasser aus seinen Haaren, ehe er sie, zu einem Zopf gedreht, unter die Kapuze stopfte. Dann zog er die Schnüre zu, bis das Gesicht eng umschlossen war und verknotete sie unter dem Kinn.
Ich will das nicht.
Still.
Du brauchst es.
Nicht denken.
Er versteckte die Tüte unter einem ausladenden Ast und verließ die Schonung auf der anderen Seite, wo der Weg zum Waldfriedhof führte.
Er fror jetzt nicht mehr. In seinem Kopf herrschte eine seltsame Klarheit, kein Schmerz mehr. Solange er sich auf sein Ziel konzentrierte.
Ich kann das nicht.
Nicht denken.
Du bist jetzt Jäger.
Es geht nicht anders.
Das beständige Rascheln der Kapuze irritierte ihn, während er über den Friedhof schlenderte, immer wieder drehte er sich um, aber da war niemand.
Sie kniete auf einem schmierigen Handtuch vor einem Grab und stocherte mit einer Hacke in der klumpigen Erde. Neben ihr standen einige Plastiktöpfe mit Erika, die darauf warteten, eingesetzt zu werden. Auf der anderen Seite lagen eine grüne Gießkanne und eine kleine Schaufel.
Daneben stand ihre Handtasche, hellbraun, Lederimitat.
Das Herz schlug ihm im Hals, als er so gleichgültig wie möglich vorbeiging. Jeder musste es sehen.
Sie sah nicht auf. Eine alte Frau in einem grauen Wintermantel mit schwarzem Kunstpelzkragen, unter dem altmodischen Hut ein grauer Dutt. Sie wirkte klein und zerbrechlich in ihrem viel zu weiten Mantel, als habe das Alter sie schrumpfen lassen.
Ich hasse mich.
Nicht denken.
Der Schmerz zwingt Dich.
Du musst.
Wenn sie geht.
Er bog in die nächste Abzweigung, um auf den Parallelweg zu gelangen. Dort würde er warten. Eine Hecke aus Lebensbäumen trennte die Gräberreihen von einander, durch eine Lücke schimmerte die hellgrüne Plastikkanne. Seine überanstrengte Kiefermuskulatur schickte einen gleichmäßig brummenden Schmerz in seinen Kopf, aber er fürchtete wieder mit den Zähnen zu klappern. Der Klumpen in seinem Bauch zuckte konvulsivisch, er schluckte die Säure runter.
Als eine faltige Hand mit zwei aufgesteckten Eheringen nach der Kanne griff, lockerte er den Knoten an der Kapuze und grub ein Ohr heraus. Sie ging nach links.
Er blieb auf einer Höhe mit ihr, drehte sich dabei ein paar Mal um sich selbst, da war niemand sonst. An der nächsten Kreuzung ging er rechts in den Hauptweg. Sie war wenige Meter vor ihm. Aus einem Stoffbeutel, der an ihrer rechten Hand baumelte, schaute die braun verschmierte Hacke hervor. Ihre Handtasche hatte sie über ihren linken Arm geschoben, mit dem sie den Mantel an sich drückte, um zu sehen, wo sie hintrat.
Nein.
Doch.
Jetzt!
Er versuchte leise zu laufen, als er hinter ihr her rannte, tatsächlich bemerkte sie ihn erst, als er sie fast erreicht hatte. Sie blickte ihm mit einer Mischung aus Unglauben und Erstaunen entgegen, dann war er bei ihr.
Griff ihre Handtasche.
Zog.
Riss.
Lass los!
Sie hatte den Stoffbeutel fallen gelassen und umklammerte ihren linken Arm, hielt fest.
Schrie.
Hilfe!
Sie hatte eine hohe Stimme, zittrig, dünn, die nicht weit trug.
Hilfe!
Endlich rissen die Henkel, er rannte davon.
Du Lump, Du!
Ich krieg Dich !
Eine Männerstimme, nah.
Er rennt schneller, die Tasche an die Brust gedrückt.
Lauf!
Jetzt bist Du der Gejagte!
Straßenräuber.
Er lief. Mit der ganzen Kraft, die sein ausgemergelter Körper noch aufbrachte.
Lief. Die kalte Luft strömte wie glühende Lava durch seinen Rachen.
Lief. Die brennenden Lungen weckten den Klumpen in seinen Eingeweiden aus seiner Froststarre.
Lief. Der Klumpen tobte, schlug aus, stieg auf.
Würgend und keuchend blieb er stehen, sein Mund füllte sich mit saurem brockigem Brei. An einen Baum gestützt übergab er sich.
Jeder Atemzug stach unerträglich in seinen Lungen, er musste husten, würgte, erstickte fast an seinem Erbrochenen.
Seine Beine schienen ihm nicht mehr zu gehören, seltsam fremd und weich fühlten sie sich an. Noch immer zuckten Muskeln wie Fische auf dem Trockenen. Er kämpfte gegen seinen nach Sauerstoff gierenden Körper, zwang sich ruhiger zu atmen.
Er ließ sich auf den Waldboden sinken. Die Fische in seinen Waden fingen an zu toben, stöhnend fiel er zur Seite und fasste mit beiden Händen die gequälte Muskulatur. Er schloss die Augen und ergab sich.
Irgendwann war es vorbei.
Er wusste nicht, wie lange er wimmernd dagelegen hatte, während die Schmerzen wie ein Gewittersturm durch seinen Körper zogen.
Als er die schwarzen Baumkronen erkannte, die sich drohend unter den vorüber jagenden Wolken schüttelten, waren seine Augen bereits offen. Er wälzte sich herum, griff nach der Tasche. Zum Glück hatte er sie nicht voll gekotzt.
Sie fühlte sich leer an.
Nicht das.
Bittebittebitte.
Bebende Hände fingerten am Messingbügel des Verschlusses, beharrlich hielt er zu. Eine Erhebung unter den Fingerkuppen, die schoben, drückten, schließlich sprang der Bügel zurück.
Aus der umgedrehten Handtasche fiel eine Börse. Sonst nichts. Er sah noch einmal hinein, tastete in den Seitenfächern.
Leer.
Es war ein billiges Portmonee, wie man es auf Wühltischen im Kaufhaus findet, aus dunkelbraunem Kunststoff, mit Krokostruktur. Er öffnete zuerst den Schnappverschluss des Münzfaches.
Leer.
Im Fach dahinter steckte ein Hundertmarkschein. Erleichtert schloss er die Augen, als der Schein in seiner Hand zerknüllte.
Für heute würde es reichen.