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Tunnelblick
„Vergiss deine Mütze nicht!“ rief mir meine Mutter hinterher. „Es kann kalt werden!“ Ich konnte es nie leiden, wenn sie mir etwas befahl. Ihr zu liebe nahm ich sie und zog sie an. „Und spiel nicht zu lang!“ Mit diesen Worten ging ich hinaus. Es war wirklich kalt, kurz vorm Gefrierpunkt. Winter halt. Ich überlegte wo ich hingehen sollte. Am besten dahin wo viele Menschen hin und her laufen. Stadtmitte oder Altstadt? Es sollte der Park werden. Ich weiß nicht was mich dazu berufen hat. Intuition? Geistesblitz? Ich ging. Es war ungefähr Mittagszeit, wie immer hatte ich meine Uhr vergessen anzuziehen. Ich suchte mir einen Platz zum Spielen. Vielleicht in der Nähe des Brunnen. Hier, wo es einst geschah. Wo ich sie das erste Mal traf, das erste Mal in ihre Augen schauen konnte. Ich machte die Tasche auf und nahm die Klampfe raus. Total verstimmt. Wie immer. Ich spielte. Der Platz war gut ausgewählt, viele Leute kamen und gingen vorbei und ließen die Münzen fallen. Das Geld war nicht für mich. Es ging an die Schule, UNICEF oder so, keine Ahnung. Ich hätte mich nicht melden sollen, als nach freiwilligen sozialen Dienstleistungen gefragt wurde. Es lief gut. Langsam bildete sich ein Halbkreis, die Musik schien zu amüsieren. Als ich in das Gesicht eines Mannes schaute, sah ich, wie er einfach nur auf den Korpus starrte. Er folgte meinen Fingern, anscheinend fasziniert von dem was ich machte. Er war ungefähr in meinem Alter vielleicht auch ein, zwei Jahre älter als ich, also vielleicht um die 25. Ich merkte bei weiterem hinsehen, dass seine Augenbewegungen nachließen. Sie blieben stehen, fest, ohne sich zu bewegen. Tunnelblick. Er musste an etwas gedacht haben. Vielleicht ja an seine Arbeit, von der er anscheinend gerade kam. Vielleicht auch an die Freundin, die zu Hause auf ihn wartete. Das Lied ging zu Ende. Applaus und einige Cent Stücke folgten. Ich sah dem jungen Mann nach. Er wurde wieder festen Blickes und ging mit schnellem schritt Richtung Stadtmitte. Ich machte weiter, spielte das nächste Lied an, eins aus den 90er; die Leute liebten die 90er. Wie die ersten Akkorde folgten, sah ich in das Gesicht einer Frau mittleren Alters. Ihre Blicke erstarrten ebenso wie die des Mannes. Sie hatte ein kleines Mädchen bei sich, welches aufmerksam der Musik zuhörte, meinem miserablen Englisch jedoch nicht folgen konnte. Das Mädchen stupste ihre Mutter an, die weiterhin einen sehr in sich selbst gekehrten Eindruck hinterließ. Sie musste an etwas Bestimmtes gedacht haben, etwas, was sie mit ihrer Tochter verband, denn sie schaute zu ihr runter und nahm sie in den Arm. Sie machte dabei einen Glücklichen, vielleicht auch überglücklichen Eindruck. Sie ging, ohne einen weiteren Blick auf mich zu werfen.
Die Zeit verging. Je länger ich spielte umso kälter wurde es, und umso mehr lösten sich die Leute im Park auf. Ich bereute auf keinen Fall den Rat meiner Mutter befolgt zu haben. Ich dachte zu mir selber „Noch das eine Lied, und dann ins warme“. Und es war nicht irgendein Lied, es war das Lied, was ich genau an dieser Stelle geschrieben hatte, für sie. Ich dachte zurück, kurz bevor ich anfangen wollte und schaute an genau die Stelle am Brunnen.
Eine leichte Brise kam mir kurz entgegen. Um die Ecke bog eine Person. Mein Atem stockte… Ich blieb regungslos. Ich erkannte sie, ehe sie ihren Kopf aufrichtete. Es gab keinen Zweifel. Ihre meerblauen Augen waren unverkennbar, so klar und unschuldig, sie waren einzigartig. Sie trug ihr Haar wie immer, eine Strähne war mit einer Haarnadel von der einen über die anderen Seite fest gemacht. Es war unglaublich. Alles schien in Zeitlupe zu laufen. Ein Gefühl strömte durch meinen ganzen Körper, es war, als wäre jegliches Blut welches durch meinen Körper strömte in meine Beine gefallen. Sie ging weiter und blieb stehen, schaute jedoch nur auf ihr Handy. Einige wenige verbliebene Leute schauten nach den ausgeklungenen 90ern erwartungsvoll auf mich. Es ging mir so viel durch den Kopf. Soll ich das Lied spielen, in dem alles erklärt ist, über sie? Ich hatte das Plektrum fest in der Hand, den Akkord gegriffen. Jetzt oder nie. Ich dachte durcheinander, vielleicht zu viel, machte mir Gedanken über mögliche Schauspiele. Ein tiefer Atemzug…
Sie ging weiter. Ich hätte loslegen können, meinen Lungeninhalt in Schallwellen formen können. Ich hätte alles sagen können, ihr zeigen, was und wer sie für mich ist. Alles… Ich stand weiterhin, in derselben Position wie vorher. Sie bog um die Ecke, Richtung Altstadt. Die Leute gingen und ich war wie fest gefroren, mit festem Blick am überlegen, und den Gedanken bei ihr.