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Tugend und Nudeln
"Jo, wir sehen uns nachher!", rufe ich meinen Freunden hinterher, als wir uns nach der Schule verabschieden und sie den Heimweg antreten. Ich hingegen muss das Mittagessen meiner Mutter verschieben und Erledigungen 'in der Stadt' tätigen. Das was man hier Stadt nennt ist in Wahrheit das größte Rattennest der Erde. Es stinkt, die Menschen sind grimmig, schlecht gelaunt, unfreundlich. Keiner hat Zeit, keiner hat Lust... Und ich darf mich ins Getümmel stürzen, ohne jedoch der Rattenfänger von Hameln zu sein. Pah...
Den Weg zum Einskaufszentrum kann ich von der Schule aus zu Fuß zurücklegen. Einmal über die Straße und dann links; danach ein kurzes Stück geradeaus. Kein Problem für jemanden, der gut zu Fuß ist. Die Strecke nicht...die Umgebung schon. Parallel zu meinem Weg verläuft die Marktstraße, die ich jedoch absichtlich meide, da dort zu viel Gesocks rumlungert. Menschen, in deren Nähe ich mich nicht aufhalten will... Manchmal findet man dort Straßenmusiker. Alte Leute oder einen mit einer Beinprothese. Sie spielen Geige oder Gitarre und bedanken sich freundlich bei denen, die ihnen Geld zukommen lassen. Dem Einbeinigen habe ich einmal fünf Euro gegeben. Er hatte es verdient und wozu brauche ich schon Geld? Wozu braucht man überhaupt Geld? Geld begleicht meine Schuld... Ich kann mir einreden, ich hätte etwas für ihn getan. Aber in Wahrheit hatte er etwas für mich getan. Um dieser Situation zu entgehen entscheide ich mich für den anderen Weg und bleibe mit meinen Gedanken allein bis ich kurz vor dem Einkaufszentrum angekommen bin und Regen einsetzt.
Ich öffne die Tür mit der linken Hand. Öffentliche Türen öffne ich meistens mit der linken Hand. Die Rechte brauche ich zum Essen oder Naseputzen oder irgendetwas anderem. Ich beschmutze also die Linke, denn öffentliche Türen sind verseucht, werden von jedem angefasst. Gerade in dieser Stadt kein positives Merkmal. Ich marschiere geradeaus durch das Einkaufszentrum in Richtung Bücherladen. Ich mag den Bücherladen. Er verbreitet auf eine gewisse Art und Weise Ruhe... Es riecht nach frischen Büchern und das Pack treibt sich nicht im Bücherladen rum, sondern bei McDonalds gegenüber oder Combi oder in den ach-so-coolen Cafés und Bars. Sollen sie alle. Ist mir egal. Ich bleibe in meinem Bücherladen. Der Bücherladen ist zu 100% angstfrei. Ich gehe geradewegs zur Fantasyabteilung. Die Fantasyabteilung ist meistens das einzige was mich interessiert. Sie teilt sich ihr Regal mit den Science-Fiction Büchern. Auch ein sehr interessantes Genre, eigentlich sogar noch interessanter. Metro 2033 habe ich hier gekauft und gerne gelesen. Einen Tag nachdem ich es gekauft habe, erhielten wir in der Schule jedoch den Auftrag Effi Briest zu lesen. Grauenvoll. Wie dem auch sei, ich habe beide Bücher gelesen. Metro 2033 war interessant. Interessant zu überlegen, was mit der Menschheit nach dem Zusammenbruch, auf den wir offensichtlich zusteuern passiert. Ähnlich interessant wie The Walking Dead oder Fallout, um auch andere Medien zu nennen. Aber um auch dem Fantastischen gerecht zu werden lobe ich hier auch Das Lied von Eis und Feuer und so ziemlich alles von Markus Heitz. Einer meiner Lieblingsautoren... In den anderen Abteilungen stehen ewig gleiche Krimis mit psychopathischen Tätern oder Shades of Grey. Bebilderte Reiseführer und Kinderbücher. Kinderbücher sind gut, aber nicht mehr für mein Alter. Und dann gibt es da natürlich noch das Genre der Genres. Die Krönung der Bücher. Der heilige Gral aller Frauen über 40, die sich über ihre Figur und ihren Job, über ihr Leben beschweren, aber nicht bereit sind, etwas dafür zu tun, damit es sich ändert: Lebensberatung. "Nehmen Sie sich Zeit für sich. Entspannen Sie sich. Leben Sie, anstatt nur zu funktionieren!" Ja, diese Leute wissen wie es geht. Durch das Lesen ohne Eigeninitiative wird es nicht besser. Genau eines dieser Bücher soll ich für meine Mutter kaufen. Welch Ehre. Ich habe den Namen des Autors leider vergessen und auch der Titel ist völlig uninteressant. Ich frage mich was das alles soll. Menschen ändern sich nicht durch Informationen von Außen, Menschen ändern sich aus sich selbst heraus. Meine Mutter tut vieles als Geldschneiderei ab und war nach meiner Spende an den Einbeinigen damals etwas entsetzt. Aber 15€ für eventuelle Motivation zu zahlen, die dann doch nicht eintritt... Na bitte. Ich streife durch die die Abteilungen, die mich interessieren und bewege mich Richtung Ausgang ohne etwas gekauft zu haben.
Und da sitzt sie. An der Mauer. Ich kenne sie kaum. Habe sie vorher einmal getroffen. Aber sie sitzt da. Und weint. Bemitleidenswert. Ihre Haare sind zerzaust und die Kapuze ihres Pullovers völlig durchgeweint. Aus ihren verquollenen Augen guckt sie abwechselnd nach links und rechts. Nach Hilfe suchend. Verzweifelt.
Ich streife meinen Rucksack ab und gehe auf sie zu bis sich unsere Blicke treffen. Sie fixiert mich und wartet, während ich mich an die Wand lehne und langsam neben sie zu Boden gleiten lasse.
"Wer bist du?"
Aus ihren geröteten Augen sieht sie mich fragend an.
"Ich bin der Engel, um den du Gott gerade gebeten hast."
Eine etwas großspurige Antwort, wenn ich so darüber nachdenke. Im Grunde wie in einem schlechten Historienfilm in dem der Drehbuchautor seit zwei Jahren jeden Mittag Pasta-Pathos gegessen hat. Aber ihr Blick, ihre ganze Mimik verrät, dass sie vor nicht mehr als 30 Sekunden Gott mit exakt diesem Wortlaut, um eben jenen Engel gebeten haben muss, als der ich mich nun vorgestellt habe. Sie starrt mich mit offenem Mund an, kann kaum atmen, nur keuchen. Ihre Gesichtszüge erhellen sich dabei aber so sehr, dass ich eine Besserung ihres Zustands diagnostizieren möchte. Sie legt ihren Kopf an meine Schulter und ich lege meinen linken Arm um ihre und meinen rechten um ihren Bauch. Wir verharren dort einige Zeit, in der ich darüber nachdenke, wie ich in diese Situation gekommen bin und was ich jetzt sagen soll. Je länger wir jedoch dort sitzen, desto mehr verliert beides an Relevanz. Die Situation ist so surreal, dass jeglicher Erklärungsversuch in hochgradigem Schwachsinn enden würde und dass ich spreche, verlangt niemand. Nein, ich muss schweigen. Ich will schweigen. Jeder will immer nur reden und so vieles, dass gesagt wird ist unnütze Information, standartisierte Floskel, Alibigespräch, Lüge. Ich muss ihr zeigen, dass ich da bin. Für sie. Gibt es etwas zu sagen, dann sagt sie es.
Für den Moment sitzen wir aber zusammen an der Mauer. Wir schweigen vereint und niemand der vielen Passanten und Einkäufer, Schnellesser und Touristen macht auch nur ansatzweise den Anschein uns wahrzunehmen. Nein, sie alle schweigen. Aber anders als wir.
"Ich habe Hunger." Ich weiß nicht, wie lange wir dort gesessen haben, aber sie bricht die Stille zwischen uns, die unmittelbar nach unserer Begrüßung eingesetzt hat mit, diesem einfachen Satz, der jedoch nur die logischste Konsequenz der gesamten Situation ist. Sie weiß absolut gar nicht mehr weiter. Ich bin bereit ihr zu helfen, aber nicht auf dem einfachen Weg, sondern auf dem richtigen. Ich werde ihr keine fettigen Burger bei McDonalds kaufen, weil es schnell geht. Nein, ich werde kochen. Kaufen kann jeder. Kaufen hilft nicht.
Wir fahren mit dem Bus nach Hause. Ich mag Busse nicht. Dasselbe Problem wie mit Türgriffen. Sie sind widerlich. Menschen die ich nicht kenne, schnäuzen sich in die Hand und packen danach an meine Haltestange... Insofern ganz schön blöd sich in volle Busse zu begeben. Aber es ist die einzige Möglichkeit nach Hause zu kommen. Irgendwie wie diese überfüllten Boote mit Afrikanern, die sich ein besseres Leben erhoffen. Denen man einfach ein besseres Leben ermöglichen könnte. Wenn man wollte.
Wir gehen aber nicht unter. Wir erreichen den Hafen. Von der Bushalte müssen wir noch ein Stück zu mir nach Hause laufen. Ich glaube sie möchte etwas sagen, aber sie ist irgendwie zu schwach, oder hat Angst. Oder... Ich kann es nicht beschreiben.
Ganz schön lächerlich wirkt es, wie ich am Herd stehe und versuche Nudeln und Soße zu kochen. Aber das ist egal. Alles ist egal. Wichtig ist, dass ich warmes Essen koche. Für Sie. Also konzentriere ich mich und denke nach: "Sooo...dein Praktikum beim Radio...Wie war das noch gleich? Salz oder nicht ist egal...die Nudeln warten auf die Soße...nicht zu weich werden lassen....UND NICHT MIT KALTEN WASSER ABSCHRECKEN!" Das war das Wichtigste, was ich in meinen Bericht zum Weltnudeltag geschrieben habe. Meine Mutter schreckte Nudeln ständig mit kaltem Wasser ab und das Einzige, was diese Handlung zur Folge hat, ist, dass die Nudeln kleben. Ich habe ihr mehrfach geraten davon abzulassen, aber sie tut es nicht. Ich schon. Nach der Vollendung meiner Kreation schütte ich die Nudeln in die Soße und stelle den Top auf den Tisch.
"Ich hoffe du bist mit Nudeln und Soße zufrieden..."
Sie nickt nur und schiebt sich gierig den ersten Löffel heißer Nudeln in den Mund.
Ich bin froh, dass sie dieses einfache ein wenig positiver stimmen kann und bestaune meine eigenen Kochkünste, nachdem ich feststelle, dass mein Werk tatsächlich gut schmeckt. Was mich allerdings noch viel mehr überrascht ist die Erkentniss wie man Menschen mit so einfachen Dingen glücklich machen kann. Andere Menschen...
Normalerweise haben andere Menschen immer nur Ansprüche und geben sich nie zufrieden. Ich selbst bin nicht zufriedener dadurch, dass ich Nudeln für mich koche, sondern für Andere. Die Anderen wollen aber meistens lieber Rumpsteak...
Sie jedoch nicht. Ich weiß nicht wie ich die Atmosphäre, die ich wahrnehme beschreiben soll, aber das was ihr am nächsten kommt, ist vermutlich Weihnachten.
Irgendwie ist ein bisschen Weihnachten während wir so dasitzen und Essen...
"Danke!", sagt sie und lächelt mich an.
Sie hat Tränen in den Augen.
Und ich auch.
Ich bin glücklich.
Und sie auch.