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Tschiepsi und der Soldatenwald
Tschiepsi und der Soldatenwald
Tschiepsi, die kleine Blaumeise, war furchtbar aufgeregt. Sie war zu ihren Verwandten in die Stadt geflogen, und was sie dort erfahren musste war so schlimm, dass sie ihren Besuch sofort abbrach. Alle oben im Wald mussten gewarnt werden. Sie war völlig durcheinander, konnte sich nicht auf ihren Rückflug konzentrieren, da sie ständig die schrecklichsten Bilder vor Augen hatte. So flatterte Tschiepsi in wildem Zickzack den Berg hinauf in Richtung Wald.
„Ups, Entschuldigung!“, rief sie der Vogelscheuche zu, mit der sie beinahe zusammengestoßen wäre.
„Hey!“, schrie ihr diese hinterher, „komm zurück, aber sofort.“
Tschiepsi blickte zurück und sah den Hut der Vogelscheuche auf dem Feld liegen. In einer engen Kurve kehrte sie um und landete auf dem ausgestreckten Arm der Strohpuppe.
„Tut mir wirklich Leid, wenn ich das war – nur ich bin nicht stark genug, ihn dir wieder aufzusetzen.“
„Was sind das nur für Zeiten“, klagte die Vogelscheuche, „keiner von euch Vogelbrut hat mehr Angst vor mir. Ein wenig Respekt würde nicht schaden.“
„Ich habe leider keine Zeit“, antwortete Tschiepsi nervös, „ich werde meine Freundin die Krähe bitten, das mit dem Hut zu regeln. Wenn ich den nächsten Besuch in der Stadt mache, komme ich und erkläre dir meine heutige Eile, versprochen.“
„Versprochen, versprochen“, äffte die Vogelscheuche die Blaumeise nach.
Die alte Eiche am Rande des Waldes hatte Tschiepsi als erste entdeckt. Zunächst bemerkte sie nur ein kleines schwarzes Pünktchen, das wild über den Dächern der Stadt unten im Tal auf und ab und hin und her zappelte. Dann musste sie lächeln, als sie Tschiepsi erkannte und den Beinahezusammenstoß mit dem hässlichen Strohbündel am Stock beobachtete.
Tschiepsi tauchte ab, sauste zwischen ihren mächtigen Ästen hindurch und an der Nachbarin der Fichte vorbei. Sie hörte zwar die Fragen von überall her, konnte aber nicht antworten, zu sehr war sie damit beschäftigt schnell ihren Weg durch das Dickicht des Waldes zu finden.
Die Landung auf dem abgestorbenen Ast der Buche ging völlig daneben. Tschiepsi sauste darüber hinaus in die Lichtung hinein, dem Versammlungsort der Waldbewohner. In einem riskanten Wendemanöver kehrte sie um, schoss hinunter bis kurz über den Boden, um Schwung zu holen. Mit ihrem Fuß beschädigte sie dabei das Netz von Arachne, der Kürbisspinne. Dann schwang sich hoch hinauf zum erneuten Landungsversuch; dieses Mal klappte es.
Ein Raunen und Rascheln lag über der Lichtung. Niemand verstand die Aufregung der kleinen Blaumeise. Nur Picida, der Buntspechtmann, arbeitete unbeirrt weiter an seiner Wohnung. Ansonsten war alle Aufmerksamkeit auf den blaubunten Vogel gerichtet, der schwer atmend nach Luft rang.
„Hey, Specht“, rief Tschiepsi schließlich, „höre zu, es geht auch dich an.“
„Was kann ein Piepmatz wie du uns schon Wichtiges erzählen.“
Der Buntspecht hatte kurz aufgeschaut und fuhr fort: „Sei nicht böse, ich stecke bis zum Hals in Arbeit. Ich möchte dich mit meiner Unaufmerksamkeit nicht beleidigen, nur es ist noch so viel zu tun. Du kannst das nicht verstehen, du bist noch jung und unerfahren. Wenn ich mit der neuen Wohnung nicht rechtzeitig fertig werde, macht mir meine Frau die Hölle heiß; wir erwarten Nachwuchs, du verstehst.“
Von ganz unten war die feine Stimme von Arachne zu hören, die sich nicht so höflich ausdrückte wie Picida der Specht.
„Du hast mein Netz zerstört, du Tollpatsch!“, schimpfte sie, „nun fällt mein Essen aus, und statt eines erholsamen Mittagsschlafs, muss ich ein neues Netz knüpfen.“
„Jetzt ist es aber gut!“, empörte sich Tschiepsi.
„Bald kannst du dir für dein Netz einen anderen Platz suchen, und du Herr Buntspecht solltest hoffen, dass deine Kinder rechtzeitig zur Welt kommen und schnell fliegen lernen.“
Mit einem mal war es totenstill, was sollten Tschiepsis Worte bedeuten? Das Eichhörnchen, das stets rumhampelte, saß aufrecht und wie erstarrt in einer Astgabel. Selbst der Waldkauz ganz oben im dichten Geäst zog verschlafen ein Augenlid hoch.
„Hört zu!“, begann die Blaumeise. „Die Tochter von der Schwester meines Onkels, die mich eingeladen hatte, hat einen Bruder, und der..“
„Warum so kompliziert?“, unterbrach der Waldkauz ungeduldig krächzend, „sag doch einfach ‚mein Vetter’.“
„Das ist nicht dein Vetter, sondern meiner!“, rief Tschiepsi schnippisch und flatterte auf einen höher gelegenen Ast.
„Also noch mal. Mein Vetter hat einen Freund und der einen Bekannten, der bei den Menschen lebt. Ich glaube er heißt Ara oder so. Dieser Vogel versteht die Sprache der Menschen. Er hat von einer Straße erzählt, die die Menschen bauen wollen.“
„Oh Gott, Kleines!“, seufzte Picida, „die Menschen bauen ständig irgend etwas, daran ist absolut nichts Besonderes. Glaube mir, ich bin weit herumgekommen.“
Die Buche schüttelte ihre Blätter vor Lachen, und die Blaumeise musste sich gut festhalten, um nicht vom Ast zu fallen. Das Eichhörnchen hielt sich kichernd die Pfoten vor den Mund und sagte mitleidig: „Bevor du groß bist, musst du noch viel lernen. Entschuldige mich bitte, ich habe noch zu tun.“
„Nein, halt!“, schrie Tschiepsi, „diese Straße soll direkt durch unseren Wald führen!“
Wieder war für Sekunden kein Laut zu vernehmen. Dann brach ein Tumult los. Wie auf ein Startzeichen hin, reagierte jeder einzelne auf seine Weise. Das Eichhörnchen flitzte völlig verwirrt den Baumstamm hinunter und wieder rauf und wimmerte: „Oh je, oh je!“
Der Buntspecht klopfte mit seinem Schnabel ein aufgeregtes Gigigigig, und Arachne, die Spinne, drehte sich hilfesuchend im Kreis. Der Kauz hatte auch sein zweites Auge geöffnet und war hellwach. Er drehte seinen Kopf soweit nach links, dass er sich über die rechte Schulter sehen konnte. Das Gleiche wiederholte er auf der anderen Seite.
„Ja, ja“, krächzte er, „wenn du Recht hast kleine Meise, werden sie die Straße verlängern, die unten vor dem Acker endet.“
Der Kauz schloss und öffnete seine Augenlider und fuhr nachdenklich fort: „Verlängert man die Straße in gerader Linie, so durchschneidet sie unseren Wald und wird mitten durch die Lichtung führen. Sie werden unsere Freundin die Linde drüben auf der Wiese fällen, und auch die Weiden dahinter am Bach haben keine Chance das zu überstehen.“
„Kix, Kix“, meldete sich der Buntspecht, und man spürte, wie verzweifelt er war.
„Seit zwei Wochen arbeite ich nun an meiner neuen Wohnung, und die Fledermaus hat inzwischen meine alte Baumhöhle bezogen. Was soll ich denn nur machen? „
„Deine Sorgen möchte ich haben“, warf die Buche ein, „ich werde der neuen Straße weichen müssen. Was geschieht dann mit mir?“
Die Fichte warf sich in die Brust und antwortete: „Nun ja, ein Möbelstück werden sie aus dir machen, einen Schrank oder ein Bett, bist ja nicht schlecht gewachsen. Ist doch besser, als im Kamin für Wärme zu sorgen. Ich sehe keine Probleme, ganz im Gegenteil. Endlich hat das langweilige Leben hier ein Ende. Ich bin groß und schlank. Zur See werde ich fahren. Ein Segelmast werde ich!“
Nun meldete sich das Eichhörnchen zu Wort.
„Könnt ihr auch mal an etwas anderes denken, als an euch selbst. Überlegt, was wir unternehmen können. Es muss eine Möglichkeit geben unseren Wald zu retten.“
„Ich werde kämpfen“, rief die Distel, „jeden Menschen, der in meine Reichweite kommt , werde ich in die Beine oder in den Po stechen.“
Die Brennnessel rief zustimmend: „Und ich werde dich dabei unterstützen!“
„Au ja", rief die junge Eiche begeistert, ich werde jedem mit meinen Wurzeln ein Beinchen stellen.“
„Nun mal langsam“, meldete sich der Kauz nach einigem Überlegen wieder zu Wort.
„Tschiepsi, erzähle einmal genau, was der Ara gesagt hat.“
„Mm, du meinst was seine Worte waren?“
„Ja, genau, was hat er gesagt?“
Tschiepsi überlegte einen Moment.
„Er soll gesagt haben, dass eine neue Straße durch den Forst gebaut wird, um das Holz der gefällten Bäume besser transportieren zu können.“
„Ach so, dann ist ja alles gut“, lächelte der Kauz erleichtert und blickte in die Runde. Die alte Eiche schüttelte verständnisvoll ihre Krone und sah die junge Meise nachsichtig an. Der Buntspecht nahm die Arbeit an seiner Wohnung wieder auf, und nachdem sich einiges Gezeter wegen der unnötigen Aufregung gelegt hatte, war alles wieder friedlich und ruhig.
Tschiepsi verstand gar nichts mehr.
„Hey“, rief sie, „hallo, Herr Kauz, können sie mir bitte erklären, wieso alles gut ist. Die wollen doch unseren Wald teilen.“
Der Kauz hatte seine Augen wieder geschlossen und schlief tief und fest. Eine Antwort kam von der Buche.
„Du hast wohl in der Vogelschule nicht richtig aufgepasst, sonst wüsstest du, dass nicht unser Wald gemeint ist, sondern der Soldatenwald auf der anderen Seite des Tals.“
"Du meinst den Wald, in dem alle Bäume in Reihen ausgerichtet sind, wie bei den Soldaten?“, fragte Tschiepsi.
„Ja, den meine ich“, sagte die Buche. „Dieser Wald wurde von den Menschen gepflanzt, denn sie brauchen ständig Holz für alles Mögliche, und sie nennen so etwas Forst.“
Einen Augenblick schämte sich die Blaumeise, da sie so voreilig gehandelt und nicht gewusste hatte, was ein Forst war. Doch dann schwang sie sich fröhlich in die Luft, um nach ihrer Freundin, der Krähe zu suchen.