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Tropfen auf der Scheibe
Harriot saß unbewegt auf ihrem Platz. Mit ausdruckslosem aber konzentrierten Blick fixierte sie die kleinen Wasser Tröpfchen, die an der Plastikscheibe herunterperlten. Wie sie sich, von unsichtbarer Hand in einem scheinbar willkürlichen Zick Zack geführt, den Weg vom oberen rechten hin zum unteren linken Ende der Scheibe bahnten.
Wie sie sich manchmal zusammenschlossen, zu einem größeren Tropfen verschmolzen um noch schneller immer mehr Tröpfchen auf ihrem Weg nach unten mitzureißen.
Hören konnte sie den Aufschlag der Tropfen nicht. Das Geräusch der warmlaufenden Triebwerke übertönte den kleinen aber wohl präzisen Ton, den der Tropfen bei seinem Aufprall auf die Scheibe erzeugte.
Sie wandte den Blick ab und sah sich um. Wie aus einer Trance erwacht wurde ihr die plötzlich Lautstärke bewusst, die sie umgab. Hinter ihr stiegen weiterer Passagiere dem Flugzeug zu. Vor ihr auch. Sie wurden knapp aber freundlich von zwei Flugbegleitern begrüßt, die an den jeweiligen Eingängen den Weg zum Sitz andeuteten. Die junge Dame, der die Uniform der Fluglinie wesentlich besser stand als ihrem etwas älteren Kollegen, war freundlich. Zumindest sah sie, mit ihren nach hinten gebundenen, blonden Haaren und dem Lächeln, das ihre Lippen umspielte während sie einem neuen Passagier mit einem Fingerzeig andeutete, wo sich der auf seiner Bordkarte angegebene Platz befand, sehr freundlich aus.
Ihr Kollege, ein Herr, er mochte Mitte 40 sein, strahlte ein dezentes Desinteresse mit einem Hauch beruflicher Resignation aus. Das Lächeln, mit dem auch er wie selbstverständlich, diejenigen empfing, die aus der gebogenen Gangway ihren Weg in die Maschine fanden, konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass er dieses Lächeln bereits vor Jahren programmiert hatte. Als die Mittvierziger noch weit entfernt schienen und der Traum von einem Leben oberhalb der Wolken, der ihn seit Jugendtagen begleitet hatte, noch nicht verblasst war. Womöglich, hatte auch seine Lippen einst dasselbe Lächeln umspielt, das seine Kollegin so ungezwungen aufzusetzen verstand. Wer wusste schon, ob ihr Lächeln die unzähligen fremden Gesichter überstand, denen es Tag für Tag entgegengebracht wurde.
Harriot wandte ihren Blick gedankenverloren wieder auf die Scheibe. Es kam ihr vor als hätte der Regen an Stärke gewonnen. Das Flugzeug parkte parallel zum Flughafengebäude und ihr Fenster lag dem Gebäude zugewandt, sodass sie, begünstigt durch die hellen Innenlichter, die das Terminal im Dunkel hervorhoben und leicht beeinträchtigt durch den Regen, einen klaren Blick auf die Bänke, Restaurants und Menschen hatte.
Heute war Dienstag. Dienstagabend. Mitten im November. Die Kinder hatten Schule, normale Menschen arbeiteten oder waren schon Zuhause und die wenigen Menschen die sich über das Terminal bewegten, in den Restaurants saßen oder auf den Bänken warteten, waren wohl im wesentlichen Geschäftsleute.
Man erkannte sie immer gut. Die meisten trugen Anzug, einige auch Jeans, was wohl der Tageszeit geschuldet war. Allesamt reisten sie stets mit den perfekt zugeschnittenen Handgepäckkoffern die sie über die Rollbänder schoben und sie klappten ihr Notebook auf oder zogen ihr Smartphone aus der Tasche, kaum dass sie sich irgendwo gesetzt hatten. Die meisten waren Männer. Männer, die so austauschbar wirkten, wie aufgestellt in einem Schaubild oder einem Modell und wie mit dem Wissen platziert, dass man noch ein paar im Schrank hätte, falls einer umfiele oder etwas abbricht.
Ihr Ausflug in die Welt des Modellbaus wurde von einer Stimme unterbrochen, die schnell über den Lautsprecher bestätigte, dass das Boarding nun completed sei, um sogleich wieder zu verstummen.
Wieder gewann die Scheibe Harriots Aufmerksamkeit. Kam es ihr vor einigen Augenblicken noch so vor als wäre der Regen stärker geworden, war er nun in einen leichten Nieselregen übergegangen, der jedoch einen feinen Schleier über den klaren Blick ins Flughafengebäude legte.
Sie blickte nach rechts, als ein Herr, sie schätzte ihn auf Anfang 60, seinen Koffer in die Ablage über dem Sitz wuchtete und sich in den Sitz neben ihr fallen ließ. Er blickte sie kurz an, ihre Blicke trafen sich. Er nickte knapp, seufzte, und schloss seinen Sitz Gurt. Er ließ seinen Kopf nach hinten auf die Lehne kippen und schloss, wie als hätte ihm der gesamte Prozess aus Einchecken, Sicherheitskontrolle, Suchen nach dem Gate bis zum Betreten des Flugzeugs eine große Anstrengung bereitet, die Augen.
Seine Adern waren an der Stirn leicht hervorgekommen und ein leichter Abdruck auf dem Nasenrücken ließ vermuten, dass er vor kurzem noch eine Brille getragen hatte. Er trug keinen Anzug, auch kein Hemd, wie man es von einem Mann gesetzten Alters in der Zweiten Klasse eines Flugzeugs wohl hätte vermuten können, sondern ein einfaches Sweatshirt. Nicht man mit Aufdruck. Ein einfaches graues Sweatshirt, ohne Kapuze und mit der passenden Hose. Stilsicher, fraglich, aber auf jeden Fall bequem.
Sie ließ ihren Blick durch die Kabine schweifen. Die meisten Passagier hatten sich mittlerweile gesetzt, nur vereinzelt war noch jemand mit seiner Jacke oder den Gepäckfächern über dem Sitz beschäftigt. Die beiden Flugbegleiter waren wohl nach vorne verschwunden, würden aber spätestens zur Sicherheitseinweisung wiederauftauchen.
Es war eine gewisse Ruhe eingekehrt. Gedämpft hörte man von irgendwoher Stimmen, unter die sich das metallische Klicken der Gurtschnallen mischte, unterlegt vom tiefen und omnipräsenten Geräusch der Triebwerke.
Harriot blickte wieder nach draußen.
Der Regen hatte aufgehört.