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Triumph des Willens
Es ist bereits dunkel, die Luft ist glasklar und schneidend kalt, doch wir spüren die Kälte nicht. Es ist nicht von Belang, ob Sterne am Himmel prangen, denn das Leuchten unseres Sternes überstrahlt in diesem Moment alles andere. Oh, welch wunderbares Gefühl! Die Nacht ist erfüllt von unseren Stimmen, die sich in hellem Gesang souverän über alle irdischen Kleinigkeiten erheben. Unsere Herzen sind eins, unser Wille triumphiert. Ein einmaliges Gefühl der Einigkeit beflügelt die ganze Nation. Wir marschieren in Einheit, unsere Schritte donnern und die Welt erzittert im Klange ihres Widerhallens. Eine neue Flagge weht über unserem Lande. Sie bedeutet Veränderung, Revolution, Sieg!
Sie bedeutet das Verstummen der einzelnen Stimmen, die im einheitlichen Strudel der Gemeinschaft versinken. Manche Menschen werden vehement versuchen, sich dagegenzustemmen, doch ich lasse mich mitreißen, forttreiben vom Strome des Unvermeidlichen. Warum würde ich mich gegen etwas wehren, was für mich nur eine Erlösung bedeuten kann? Die Rettung vor mir selbst? Lange, lange Zeit habe ich mich gequält, gesuhlt im Wirrwarr meines Ich., im peinvollen Abgrund meiner Selbstzweifel und meiner Überlegungen, die doch nirgendwohin führen.
Ich habe mich sehr oft gefragt, was das Ganze eingentlich soll. Das Leben. Es hat mir niemals wirklich kameradschaftlich zur Seite gestanden. Es war niemals mein Freund. Nein, wie die meisten Menschen hatte ich es schwer. Doch ich hatte immer den Eindruck, die anderen verdrängen die Gedanken an den Sinn dieses tollen Zaubers. Ich vermochte es nicht. Es wurde immer schlimmer, immer schlimmer, und ich wäre beinahe an meinen eigenen Gedanken erstickt, zugrunde gegangen. Keinen Ausweg habe ich mehr für mich gesehen. Um ein Haar hätte ich meiner Existenz ein Ende gesetzt.
Doch dann plötzlich ein Hoffnungsschimmer: Die Bewegung. Anfangs verachtete ich sie als lächerlichen, phrasendreschenden Haufen, der albernen Ideen hinterherphantasiert und menschenverachtend die Intelligenz unterbuttert, die Stupidität lobpreisend. Ja, seit 1926, als die nationalsozialistische Agitation in Berlin bedeutende Ausmaße annahm, trompetete die unaufhaltsame Propaganda ständig in meine Ohren. Ich schenkte ihr wenig Aufmerksamkeit, kam sie mir doch vor wie das sinnlose Geschrei idiotischer Massen, das Widerhallen simpler Parolen, geschaffen zur Kontrolle hirnlos marschierender und randalierender Vandalen.
Doch die Zeit belehrte mich eines besseren. Ich wurde wieder einmal arbeitslos, wie beinahe sechs Millionen deutscher Bürger. Die Situation war sehr, sehr prekär, und ich hatte kein Dach mehr über dem Kopf. Auch meine Freunde konnten mir nicht helfen, befanden sie sich doch in derselben Lage. Es stand schlimm um mich. Da kam für mich die Lösung: Das SA-Heim. Wäre jemand mir eine Woche vorher mit der Idee gekommen, Zuflucht in einem SA-Heim zu suchen, so hätte ich geantwortet, dass ich lieber verhungern würde, bevor ich mich mit dem braunen Pack abgebe oder gar Hilfe von ihnen annehme.
Es hat sich herausgestellt, dass dem wohl kaum so war. Ich hatte seit drei Tagen nichts mehr gegessen und war dem Wahnsinn nahe. Da drückte plötzlich der Zweifel am Sinn meiner Existenz besonders schwer, und die Last auf meinem Herzen war beinahe unerträglich. Erschöpft und kraftlos schleppte ich mich bis zum Ufer der Spree und ließ mich in das Wasser fallen, bevor ich auf der Straße zusammenbrechen konnte. Ich glaubte, das langersehnte Ende sei endlich da!
Ich weiß nicht, wieviel Zeit vergangen war, doch irgendwann erwachte ich aus schmerzlich-dumpfem Schlummer. Alle Glieder taten weh, der Kopf pochte in brennendem Schmerz und ich fühlte mich durch und durch übel.
„So ist es also, wenn man tot ist,“ murmelte ich. Ich hörte, wie jemand gutmütig lachte. Diese Stimme war mir wohlbekannt. Langsam öffnete ich meine wunden Augen. Mein Sicht war verschwommen, ich bemerkte lediglich, wie mehrere Gestalten sich über mich beugten. Ich schien in einem weichen Bette zu liegen.
„Nein, du bist nicht tot, Jürgen, Gott sei Dank,“ antwortete dieselbe Stimme. „Aber es war knapp, sehr sogar.“
Ich blinzelte ungläubig, als mein Verstand und meine Augen wieder begannen, vernünftig zu arbeiten. Ich versuchte mich zu erheben, doch dieser Versuch scheiterte kläglich an meiner eigenen Schwäche und dem sanften Widerstand zweier Hände, dich mich niedergedrückt hielten.
„Franz?“ fragte ich krächzend. Anscheinend hatte ich mir eine Halsentzündung eingefangen.
„Genau,“ antwortete die Stimme freundlich. „Es ist lange her, was, Jürgen?“
Ja, das stimmte allerdings. Franz Büchner war früher einmal mein Nachbar gewesen, wir hatten gemeinsam die Volkschule besucht. Irgendwann aber verloren wir uns aus den Augen.
„Wie lange..... wie lange habe ich geschlafen?“ fragte ich ihn.
„Drei Tage,“ antwortete Franz. Er hatte sich kaum verändert. Seine dunklen Haare hingen noch immer, trotz offensichtlicher Gegenanstrengung, wild und tief in seine Stirn hinein. Seine braunen Rehaugen betrachteten mich genauso gutmütig (und nicht berauschend intelligent), wie eh und je. „Wir haben dich zufällig im Fluss gefunden, als wir dabei waren, durch eine rote Hochburg zu marschieren. Ich kann mir denken, die roten Mörder haben dich lynchen wollen, das wäre typisch für dieses Gesindel. Tja, ausgemergelt und halbtot wie du warst, sahen wir wenig Hoffnung, aber unser Lagerarzt hat es doch geschafft, dich ein wenig aufzupeppeln.“
Ich war zwar müde, doch machte sich ein leichtes Gefühl des Schreckens in mir breit.
„Lagerarzt.....?“ murmelte ich, und mein Blick fiel auf das braune Hemd meines alten Bekannten und der anderen paar Männer, die um mein Bett standen. Überhaupt kam mir der ganze Raum plötzlich wie eine Kaserne, oder besser gesagt, wie eine in Kaserne umfunktionierte Fabrikhalle vor. „Wo bin ich überhaupt?“
„In meinem SA-Heim,“ antwortete Franz fröhlich. „Du brauchst dir keine Sorgen zu machen, Jürgen, dies hier ist eine nationalsozialistische Festung. Hier bist du in Sicherheit.“
„Na, das ist ja fein,“ entgegnete ich matt. Er bemerkte die Ironie nicht, dazu war er noch niemals fähig gewesen. Meine Gemeinheit aber ihm gegenüber, der mich gerettet hatte, tat mir plötzlich leid. „Danke, Franz. Für alles.“
„Schlaf jetzt,“ sagte Franz kameradschaftlich und bestimmt, die Decke um mich zurechtzupfend und sich dann entfernend.
Ich brauchte noch einige Tage, bis ich wieder einigermaßen auf dem Damm war. Als Freund eines Kameraden kümmerten sich die SA-Männer sehr nett um mich. Sie waren offensichtlich der Meinung, ich gehörte ihren Reihen an, kamen gar nicht auf den Gedanken, ich könne entweder Kommunist, Sozialdemokrat oder gar politisch neutral sein. Sie waren sich lediglich der Tatsache bewusst, dass ich, wie so viele von ihnen, erwerbslos war. Und dass ich nicht der SA oder der NSDAP offiziell angehörte. Meine Ideologie jedoch stand für sie selbstverständlich fest und ich gab mir keine Mühe, sie auf irgendeine Weise aufzuklären. Selbst wenn mein Leben davon nicht abhängen würde, was es nebenbei tat, wüsste ich nicht, was ich ihnen überhaupt hätte sagen sollen. Ich besaß keine Ideologie, keine Weltanschauung, keine Träume, keine Ziele, keinen Kampfgeist, keine Hoffnung.
Franz bemerkte meinen betrübten Zustand, war aber fest davon überzeugt, es käme von meiner Auszehrung und meiner Arbeitslosigkeit. Er wusste nicht, welche schauderhaften Zweifel mich plagten und schon gar nicht, dass ich versucht hatte, meinem Leben ein Ende zu setzen. Das dachte ich wenigstens, so, wie ich ihn einschätzte. Er setzte sich in jenen Tagen oft zu mir und versuchte mich aufzuheitern.
„Du siehst, ich habe auch meine Arbeit verloren,“ erzählte er. „Ich bin ja eigentlich Schlosser. Vor einem Jahr aber haben sie mich auf die Straße gesetzt. Ich war auf mich selbst gestellt, sollte mir den Unterhalt aus den Fingern saugen. Ach, Jürgen, wer hätte gedacht, dass wir mal so weit kommen, damals, in der Schule?“
„Ich auf jeden Fall nicht,“ murmelte ich lakonisch. Franz hatte mir in einer Blechschale Eintopf gebracht, den ich jetzt genüsslich löffelte.
„Keiner von uns. Ich muss zugeben, ich hatte alle Hoffnungen verloren und plagte mich mit Selbstmordgedanken.“ Bei jenen Worten horchte ich auf. „Ja, du magst es vielleicht nicht glauben, doch es ist so. Dann aber kam ich in die SA. Tja, der Verein war mir anfangs ein bisschen unheimlich, aber ein paar Massenversammlungen im Sportpalast haben mich eines besseren belehrt. Es ist gar nicht mal so schwer, loszulassen und sich dem übergeordneten Willen des Sturmes zu ergeben. Dann sind alle Dinge plötzlich viel einfacher. Wir sind alle gleich, wir sind alle Kameraden. Ich muss keine eigenständigen Entscheidungen mehr treffen und bekomme jeden Tag die Möglichkeit, mich dafür zu revanchieren, dass sie mich von der Straße geholt haben. Es gibt keine halben Sachen mehr, entweder etwas ist richtig oder es ist falsch. Entweder du bist mein Freund oder mein Feind, verstehst du? Ich habe den Irrglauben des Individualismus abgestoßen und bin jetzt frei, aufgegangen in der Gemeinschaft.“
Ich war, zugegeben, total baff. Soviel Urteilsvermögen und Intelligenz hatte ich von jemandem wie Franz Büchner nicht erwartet. Das war ja das Erstaunliche an der Geschichte: Er war ein Teil des braunen Haufens, er marschierte mit, grölte Parolen und verprügelte die Roten, obwohl er durchblickte, wieviel Demagogie in der Organisation steckte. Und besser noch: Er schaffte es, das Ganze in ein Lob zu verwandeln, nicht Gegenargumente, sondern Argumente, die seine Position stärkten.
„Der Irrglaube des Individualismus?“ echote ich ungläubig und mit einem mit nationalsozialistischen Kampfkartoffeln halbvollem Mund. „Wenn ich den Individualismus abstoße, Franz, dann verleugne ich doch alles, was ich bin. Dann gibt es die einzigartigen Eigenschaften, die mein Wesen und meine Persönlichkeit ausmachen, nicht mehr, die Feinheiten des Ich, sowie auch die freie Entscheidungskraft. Ich denke, also bin ich. Wenn ich nicht mehr bin, dann denke ich auch nicht mehr. Dann bin ich eine Drone, ein lenkbares Objekt der Obrigkeit. Ein Bauer auf dem Schachbrett.“
Ich hatte eine Explosion der Parolen erwartet, doch wieder einmal überraschte Franz mich über alle Maßen. Seine sonst so stumpf schimmernden Rehaugen funkelten gewitzt, seine Mundwinkel zuckten. Mir fiel auf, dass eine kleine Ecke seines linken Nasenflügels fehlte, wahrscheinlich ein Souvenir einer Straßenschlacht. Er beugte sich tiefer in meine Richtung, als wolle er mir ein Geheimnis verraten.
„So ist es,“ erwiderte er, während ein kaum zu vernehmender, intellektueller Triumph in seiner gut-proletarischen Arbeiterstimme mitschwang. „Aber erklär mir mal eines, Jürgen: Wann hat dir dein geheiligtes, einzigartiges Ich in unseren Zeiten jemals weitergeholfen? Wozu hat es dich gebracht, dass du ein persönlicher, frei denkender Mensch mit aller Entscheidungskraft bist? Doch nur an den Rand des Wahnsinns. Ich sehe es in deinen Augen. Du hast den Glauben an die Welt, wie du sie kennst, verloren. Das habe ich auch schon durchgemacht. Dann aber entschied ich mich für eine radikale, aber rettende Alternative. Hier bin ich also. Ich denke, also halte ich mich zurück. Ich bin, also muss ich nicht mehr denken. Verstehst du?“
Ich verstand nur allzu gut.
Franz meinte es wirklich gut mit mir. Er besorgte mir, nachdem ich wieder geheilt war, einen Schlafplatz im SA-Heim, sofort nachdem ich mich verpflichtet hatte, Mitglied zu werden. Ich schloss mich selbstverständlich auch der Partei an. Es gab für mich nichts mehr zu verlieren. Mein Wille war gebrochen, ich hatte mich für den Tod entschieden, doch war es nicht an der Zeit gewesen. Nun ließ ich alles, was von meinem kläglichen Selbst übriggeblieben war, auf der Strecke, und ergab mich der alles niedertrampelnden Macht der Bewegung. Es war eine herrliche Erlösung, nicht mehr denken zu müssen. Verdammt, ich hatte es nicht bloß nötig, ein Dach über den Kopf und einen vollen Magen zu haben, nein, ich wollte akzeptiert werden und Teil von etwas sein. Eine Aufgabe haben. Man stellte mir keine Fragen und ich quittierte dies mit bedingungsloser Treue.
Irgendwann ließ ich auch die letzten Zweifel, wie auch das schlechte Gewissen, meine Intelligenz, meinen gesunden Menschenverstand und mein logisches Urteilsvermögen verraten zu haben, endgültig fallen. Der Rausch der Droge besaß nun keinerlei Nebeneffekte. Ich kämpfte mit und sang und sprach und schlug, doch ich dachte nicht mehr. Nachts fiel ich dann todmüde in mein Feldbett und schlief traumlos durch. Es konnte nichts besseres geben. Außerdem schuldete ich der SA und der Partei meine Hingabe, denn sie hatten mir buchstäblich das Leben gerettet.
Und dann kam der Tag des Triumphes, der 30.01.1933. Der Tag des Sieges. Man sammelte sich, man jubelte, man wollte durch die Straßen marschieren und die Hakenkreuzfahnen hoch über Berlin wehen lassen. Jetzt ist es dunkel, und wir marschieren noch immer im endlosen Paradezug durch die Hauptstadt des Reiches. Das Dritte Reich hat begonnen, und ich bin ein Teil davon. Die Kampftage sind vorbei. Ich lasse mich im Strom der blinden, alles erstickenden Begeisterung ertränken und habe nun keine Vorbehalte mehr. Diese liegen schon lange begraben. Die Sterne sind nicht zu sehen, doch die Fackeln werfen ein Feuer auf unsere Augen, die auch ganz alleine durch die Glut unserer Herzen hell im Dunkel erstrahlen.
Wie bin ich froh, dass es soweit gekommen ist, dass ich fähig war, mein altes Selbst so sehr zu vernichten und auf den Trümmern neu aufzubauen, wie auch die Partei es mit Deutschland tun wird.
Wie überaus glücklich bin ich, dass ich nicht mehr denken muss. Die Tage der Qual sind vorbei.
Der Wille hat zum Schluss doch triumphiert.