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Trinkergedanken
Ein kalter trostloser Novembernachmittag, früh kehrt die Dunkelheit ein. Eisiger Wind und Wolken fliegen über die Stadt. Der Frost ist schon längst gekommen. Wo waren die purpurrot und goldgelb-gefärbten Bäume, die die Chaussee säumen? Wir haben doch Herbst, zumindest kalendarisch!
Es ist nicht in fair, daß es im November schon so bitter kalt ist.
Bin aus meinem kleinen Mittagschläfchen erwacht und halte die Flasche wieder fest in beiden Händen. Sie ist noch fast voll. Es ist nicht einfach, eine 1-Liter-Rotweinflasche mit nur einer Hand anzuwinkeln, schon gar nicht dann, wenn sie noch so schwer und gefüllt ist und ich erst so wenig getrunken habe.
"Das meiste verschüttet er", irgendwie kommt mir dieser Spruch gerade ins Gedächtnis.
Warum ist es bloß jetzt schon so entsetzlich kalt?
Hätten wir Dezember, darauf wäre ich vorbereitet. Bis zum Dezember hätte ich schon soviel Geld erbettelt, daß ich mir einen vernünftigen Schlafsack, einen warmen Wollpullover, dicke Socken und lange Unterhosen hätte leisten können.
Leider gibt es nur wenige Ladenbesitzer, die mir die Möglichkeit zum stehlen geben. Mein Weg endet an der Ladeneingangstür.
Das Öffnen der ersten Flasche am späten Nachmittag fällt mir schwer, manchmal habe ich Glück und noch soviel Alkohol im Körper, daß ich meine Hände fast ruhig halten kann. Dann dauert es selten länger als ein paar kräftige Schlucke und Würgen und Ekelgefühl sind verschwunden. Nur das Schamgefühl, das hält sich länger. Bin froh, daß mir niemand einen Spiegel vor Augen hält, keiner an meinem Selbstbild kratzt.
Ich döse gegen Mittag ein, befinde mich ein paar Stunden im Halbschlaf, schlaf manchmal aber auch fester. Hängt ganz davon ab, wieviel Wein ich im Laufe des Vormittags vertrage.
Vergessen sind bald Passanten, die einen mitleidig anschauen, Kinder, die mit Fingern auf mich zeigen, mich verarschen. Verkehrslärm höre ich nicht mehr....und die Kälte?
Ja, die Kälte, die spüre ich noch immer.
Es ist nicht in fair, daß es im November schon so kalt ist.
Ich trinke zügiger, der Wein fängt an zu "schmecken",...nein, ich beginne ihn zu ertragen.
Einem Feinschmecker mundet der Wein beim Abendmahl.
Recht einfach habe ich es mir gemacht in dieser Welt. Fragt mich jemand, warum ich trinke, gebe ich zur Antwort "Weil ich süchtig bin".
Werde ich gefragt, warum ich süchtig bin, lautet meine Antwort "Weil ich trinke"
Hübscher Zirkelschluss.
Der Kreis schließt sich.
Ich trinke zügiger und lächle ein wenig über meine Fähigkeit, die Flasche nun mit einer Hand halten zu können.
Das "Mandolinenfieber" lässt nach.
Mein Pegel steigt, der in in der Flasche sinkt.
Langsam geht es mir besser, fühle mich sicherer, halte den Blicken meiner Mitmenschen, die in meine glasigen roten Augen schauen, stand. Kein verstohlener Blick auf den Boden. Der Alkohol nimmt mir den Trinkerschuldinstinkt. Kein Frieren, kein Zittern mehr. Ich werde noch ein Weilchen hier sitzen bleiben, mir meine Gedanken so zurecht biegen, daß ich die Welt doch noch als schön empfinden kann.
Später, wenn ich ein paar Flaschen weiter bin, halte ich mich wieder für einen einsamen Vagabunden, der niemanden braucht. Bin vom Leben bestraft, kämpfe tapfer Tag für Tag um´s Überleben.
Ich lebe nicht, ich überlebe.
Eine weitere Flasche und ich glaube wieder an die Trinkerromantik, an den lustigen Gesellen, mit Schlapphut und dem Filzmantel, die Flasche Wehrmut in der Manteltasche, der vergnügt auf der Straße lebt. Frei ist er von allen Sorgen, fern von gesellschaftlichen Zwängen, singt unbekümmert ein Liedchen.
Allerdings befürchte ich, daß es morgen zuerst einmal wieder sehr kalt sein wird.
[ 09.08.2002, 16:13: Beitrag editiert von: Archetyp ]