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Treppenduell
Auf dem Weg zum täglichen Tod – inmitten einer anonymen Horde Lemminge schob ich mich gerade die Stufen zum Bahnhof hinab – bemerkte ich zwei hilflose Gestalten, die sich, beide das Treppengeländer fest umklammert, so unversöhnlich gegenüberstanden wie Protagonist und Antagonist im Finale eines Westernstreifens. Den Part des Bösewichts hatte man in diesem Stück einer alten, keifenden Frau angetragen, die dem Tod nur noch eine Nasenlänge voraus zu sein schien. Der strahlende Held war ein sabbernder Lockenkopf, der mit autistischer Regelmäßigkeit Grunzlaute produzierte, die – so vermutete ich zumindest – seinen Unmut über die verfahrene Situation zum Ausdruck bringen sollten. Das greise Mütterchen schimpfte in einem fort zu, gebärdete sich wie ein neidender Rohrspatz und versuchte gar, ihren Widersacher unter Einsatz des Krückstocks zur Aufgabe zu piksen. Vergeblich. Der Lockenkopf bewegte sein Haupt mit rhythmischer Monotonie auf und ab, wobei die Speichelfäden zwischen Mund und Dreieckstuch, das man ihm um den Hals geknotet hatte, lang und länger wurden, bis sie schließlich durch besonders heftige Kopfstöße entzweit wurden und abwärts baumelnd einen glitschigen Film auf seiner Jacke hinterließen. Ich indes war interessiert auf der anderen Treppenseite stehen geblieben und beobachtete belustigt die weitere Entwicklung des Geschehens. Menschen hasteten vorbei und versperrten mir die Sicht, weshalb ich es vorzog, zum Treppenabsatz zurückzukehren, um von oben einen besseren Blick auf die Szenerie zu erhaschen. Die Greisin schimpfte, der Lockenkopf sabberte (und grunzte) – so ging das einige Minuten, ohne dass etwas passiert wäre. Die Treppe hatte sich mittlerweile geleert und nur noch vereinzelt flüchteten Leute an mir vorbei, ihrer vermeintlichen Bestimmung entgegen. Das Mütterchen schien nunmehr eingesehen zu haben, dass Piksen allein sie nicht zum Ziel führen würde, weshalb sie sich anschickte die Samthandschuhe abzulegen, um sogleich und wiederholt mit dem Krückstock auf ihren Kontrahenten einzuschlagen. Doch der reagierte immer noch nicht. Also verlieh sie ihren Hieben noch mehr panischen Nachdruck und ich glaubte, in ihrem Gesicht ablesen zu können, wie ihre verbliebenden Lebensgeister sich zu einem allerletzten Angriff gegen die Widrigkeiten des Alterns zusammenrotteten. Dem Lockenkopf wurde es schließlich zu bunt: er setzte sich in Bewegung und schob die gehbehinderte Greisin zur Seite. Die versuchte noch, eins mit dem rettenden Treppengeländer zu werden, doch der Behinderte verstand ihre Angst nicht zu deuten und rollte über sie hinweg wie ein außer Kontrolle geratener Panzer. Ein Schrei, dann stürzte sie auch schon die Stufen hinab und blieb regungslos am Fuß der Treppe liegen. Das wiederum war mein Signal zum Aufbruch; wäre ich länger geblieben, ich hätte mich am Ende gar den Sanitätern oder schlimmer noch, der Polizei, erklären müssen. Eine Aufgabe, die ich als überaus unangenehm empfand und es war wirklich nicht einzusehen, weshalb ich mich aufgrund der Probleme anderer auf solch lästige Scherereien hätte einlassen sollen. Als ich über den drollig verrenkten Körper der Alten hinweg stieg, stellte ich fest, dass jede Hilfe ohnehin zu spät gekommen wäre. Als ich abends in mein Gefängnis zurückkehrte und an dem Bahnhof vorbeikam, der am Morgen noch die Bühne jener fatalen Begegnung gewesen war, stach mir ein signalfarbender Zettel ins Auge. Und so trat ich näher, um seinen Inhalt zu studieren. Man suchte nach Augenzeugen, die den morgendlichen Vorfall beobachtet hätten. Vorsichtig löste ich den Zettel von der Scheibe, faltete ihn und ließ ihn in meiner Manteltasche verschwinden – als Souvenir sozusagen.